Ferdinand von Schirach: Feinde

Recht und Gerechtigkeit

Die ARD hat am 3. Januar 2021 ein TV-Event besonderen Ausmaßes veranstaltet. Man hat dem Volljuristen, Strafverteidiger und Bestsellerautor Ferdinand von Schirach mehrstündigen Raum gegeben, den Zuschauer im Rahmen eines "Krimidramas" mit problematischen Fragen des Grundgesetzes, der UN-Antifolterkonvention, der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte sowie des Straf- und Strafprozessrechts zu konfrontieren.

Zwei Filme, von HÖRZU als "großartig", in der FAZ als "bestürzender Murks" bewertet, erzählen aus zwei verschiedenen Perspektiven, des Kommissars Nadler und des Strafverteidigers Biegler, die Geschichte einer Kindesentführung mit Lösegelderpressung. Opfer ist die zwölfjährige Lisa von Bode, Täter der als Wachmann im Haus der Familie v. Bode beschäftigte Georg Kelz. Er wird schnell verdächtigt, beschuldigt und verhaftet. Nadler ist aufgrund seiner Ermittlungen fest überzeugt, dass Kelz die Tat begangen hat. Er hofft, Lisa noch retten zu können. Kelz setzt aber allen Fragen und Aufforderungen ein beharrliches Schweigen entgegen. Da entscheidet sich Nadler, das Schweigen mit Gewalt zu brechen. Er sorgt für ein Alleinsein mit Kelz in einem Waschraum des Gefängnisses, droht ihm körperliche Schmerzzufügung zunächst nur an und greift schließlich, als Kelz weiterhin schweigt, mit Tuch und Wasser zum Druckmittel des "Waterboarding". Hier wirkt die filmische Schilderung höchst unglaubwürdig. Obwohl keiner Übermacht ausgesetzt, wehrt sich Kelz überhaupt nicht und beteuert mit keinem Wort seine Unschuld. Er liefert sich der Tortur aus wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Nach kurzer Misshandlung sagt er aus Angst vor der Fortsetzung: "Ernst-Thälmann-Straße 16, Block 4", und gesteht wenige Minuten danach in offizieller polizeilicher Vernehmung die Tat. Am benannten Ort findet man Lisa, aber sie ist kurz vorher an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben. Von seinem Anwalt Biegler beraten, wiederholt Kelz vor Gericht sein Geständnis nicht. In der Hauptverhandlung wirkt es aber wie ein zweites, diesmal stillschweigendes Geständnis, dass Kelz selbst den Vorwurf der Anklage gar nicht bestreitet. Wer unschuldig zu sein behauptet, verhält sich vor Gericht anders. Auch hier lässt das Drehbuch die Lebensnähe vermissen. Am Ende wird Kelz freigesprochen. Die Richterinnen und Richter glauben, die erzwungenen Aussagen des Angeklagten zum Beweis seiner Täterschaft nicht verwerten zu dürfen, und lassen die anderen Indizien als Beweis nicht genügen.

Worum geht es Ferdinand von Schirach? Grob gesagt: Um die Unterscheidung von Recht und Gerechtigkeit und um seine Botschaft, dass man sich im Rechtsstaat nach Gesetz und Recht richten müsse, auch wenn dabei eine Entscheidung herauskommt, die viele oder alle als ungerecht empfinden. Aber diese Botschaft, verkündet auf Basis der schirachschen Fallbeurteilung, ist problematisch und fragwürdig. Einzuräumen ist nur, dass es die Diskrepanz gibt, die v. Schirach thematisiert. Sie zeigt sich im Strafrecht am deutlichsten als die Konsequenz der Anwendung scharf begrenzender Vorschriften wie die zur Verjährung und zur Strafmündigkeit. Hat ein vierzehnjähriger Gymnasiast gemeinschaftlich mit einem dreizehnjährigen Klassenkameraden ein Mädchen vergewaltigt und ermordet, so droht ihm eine schwer belastende Jugendstrafe (§ 17 JGG). Dass nun der Mittäter vollkommen unbehelligt bleibt und jedenfalls nicht bestraft werden darf (§ 19 StGB), wird viele zutiefst befremden.

Von Schirach betrachtet auch seinen Fall als Beispiel dafür, dass geltendes Recht als ungerecht empfunden werden kann, und will mit dem gerichtlichen Freispruch beim Zuschauer ein solches Gefühl auslösen. Zu diesem Zweck setzt er eine Prämisse. Sie lautet: Das geltende Recht ist eindeutig. Es ordnet für den Fall der Kindesentführung an, dass Nadlers Einwirkung auf Körper und Psyche des Beschuldigten rechtswidrig und es dem Gericht verboten war, das Geständnis zum Beweis der Täterschaft zu verwerten. Der Autor musste diese Prämisse setzen, denn ohne sie könnte der Fall keinen Konflikt zwischen geltendem Recht und gefühlter Gerechtigkeit aufzeigen und die Botschaft des Autors nicht vermitteln.

Aber der Fall kann dies in der Tat nicht leisten, weil die Prämisse nicht stimmt. Der Autor hat das geltende Recht missverstanden und den konkreten Fall falsch beurteilt. Ich setze ihm die These entgegen, dass Nadler rechtmäßig gehandelt hat und das Gericht den angeklagten Kelz hätte bestrafen müssen. Das ist eine kühne Behauptung, die sorgfältiger Begründung bedarf. Es gilt, im Hinblick auf den konkreten Fall das geltende Recht genau zu erforschen – was v. Schirach nicht wirklich getan hat.

Es fehlt bei ihm bereits die strafrechtliche Grundlegung. Wie stellt sich uns Nadlers Einwirkung auf Kelz dar, wenn man sie zunächst einmal an den Vorschriften des Strafgesetzbuches misst? Nadler begeht eine (einfache) Körperverletzung im Amt (§ 340 Abs. 1 StGB) sowie eine Aussageerpressung (§ 343 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Schon hier wird klar, warum in diesem (angeblichen) Konfliktfall das Gerechtigkeitsgefühl sich ganz anders äußert als im Fall des dreizehnjährigen Mörders. Belehrt über § 19 StGB ("Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist"), wird der befremdete Nichtjurist die Konsequenz der Straflosigkeit sogleich akzeptieren und sich nur eine Verschiebung der Altersgrenze nach unten wünschen. Keineswegs akzeptieren wird er dagegen v. Schirachs Belehrung, Nadler müsse wegen der genannten Delikte bestraft werden. Da wird er einwenden, auch als Laie wisse er, dass bei Körperverletzung- und Nötigungstaten der Täter gerechtfertigt sein könne. Würde er jetzt noch das Stichwort "Notwehr" oder "Nothilfe" hinzufügen, so träfe er ins Schwarze.

Indem Kelz das eingesperrte Mädchen anfangs nicht sofort wieder selbst befreit und später sich weigert, durch Auskunft die Befreiung von fremder Hand zu veranlassen, begeht er einen permanenten "gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff" durch Unterlassen, der sich gegen Lisa, aber als Angsterzeugung und Lösegelderpressung auch gegen ihre Eltern richtet. Ein solcher Angriff erlaubt eine "Verteidigung", und zwar diejenige, "die erforderlich ist", um den Angriff "abzuwenden". So bestimmt es, überschrieben mit "Notwehr", § 32 StGB.

Stellen wir uns nun vor, der Vater v. Bode hätte zusammen mit Freunden kurz nach der Tat Kelz überwältigt und ihn in der zutreffenden Überzeugung von seiner Täterschaft erfolglos zu reden aufgefordert! Gesetzt weiterhin, die einfache Körperverletzung durch Waterboarding wäre "erforderlich" gewesen, den Dauerangriff des Entführers und Erpressers "abzuwenden", d. h. die rettende Auskunft zu erlangen. Dann gäbe es keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Körperverletzung und Nötigung. Die Täter wären gerechtfertigt, denn "wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig" (§ 32 Abs. 1 StGB).

Die Frage ist, ob diese Rechtfertigung genauso gilt für Nadlers Nothilfe durch Abwendung des rechtswidrigen Angriffs, den Kelz auch im Gefängnis noch durch sein Unterlassen fortsetzt. Auf den ersten Blick wird man die Frage bejahen, und zwar mit Entschiedenheit, denn Nadler ist ja als Polizist sogar verpflichtet, rechtswidrige Angriffe auf unschuldige Opfer (wie den kelzschen Dauerangriff durch Unterlassen) abzuwenden. So kann es nicht überraschen, dass das Polizeirecht die Erlaubnis bestätigt. Denn es sagt ausdrücklich, dass Polizeibeamte im Rahmen der "Anwendung unmittelbaren Zwangs" mehr dürfen als andere. Allemal dürfen sie aufgrund und nach Maßgabe des § 32 StGB auf Angreifer einwirken. Beispielhaft führe ich das Polizeigesetz Nordrhein-Westfalens (PolG NW) an, wonach laut § 57 Abs. 2 "die Vorschriften über Notwehr und Notstand unberührt bleiben".

Hier könnte nun Ferdinand v. Schirach seinen stärksten Trumpf ausspielen. Er könnte einwenden, dass das Waterboarding als Notwehr, als ein zur Angriffsabwendung erforderlicher Akt, nur Zivilpersonen erlaubt sei. Von einem Amtsträger wie Nadler verübt, sei es "Folter" und Verletzung der "Würde" des Georg Kelz und somit unter allen Umständen rechtswidrig, selbst wenn es der Errettung eines Menschenlebens diene.

Wir stoßen hier auf den Kern der rechtlichen Problematik des Falls. Und müssen zunächst abermals ein schwerwiegendes Versäumnis des Autors feststellen. Von Schirach unterbreitet uns während der ganzen langen Sendung kein einziges Mal die Definition der Folter. Der Zuschauer hätte erfahren müssen vom "Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe". Diese "UN-Antifolterkonvention" ist seit 1990 geltendes Recht in Deutschland. Somit ist für die Gerichte auch die Definition in Art. 1 Nr. 1 verbindlich und maßgebend. "Folter" ist danach "jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, … wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden". Dem aufmerksamen Leser fällt vielleicht als Erstes auf, dass im Text die bloße Bedrohung des Betroffenen mit Schmerzen oder Leiden nicht genannt wird, weshalb die übliche Gleichsetzung der Folter mit der Androhung von Folter (Fall Jakob von Metzler!) nicht richtig sein kann. Folter ist die Zufügung von Schmerzen, nicht schon das Androhen der Zufügung. Mit der Ankündigung, ihm stehe Schlimmes bevor, wenn er nicht endlich rede, hat Nadler den Kelz noch nicht gefoltert, hat er die Grenze zu diesem schärferen Druckmittel noch nicht überschritten. Man kann auch nicht etwa sagen, dass schon die Ankündigung den Gefangenen in Angst und Schrecken versetzt habe und ihm dadurch "große seelische Schmerzen" zugefügt habe. Die angekündigte Einwirkung auf den Körper war ja bedingt. Kelz wusste, dass er sie ganz leicht vermeiden konnte – durch bloße Pflichterfüllung, durch Beendigung seines verbrecherischen Angriffs. Da war die Ankündigung ein Angebot, das für sich selbst der kelzschen Seele noch nicht wehtat.

Aber v. Schirach hat recht, wenn er das tatsächlich ausgeführte Waterboarding als "Folter" i. S. des geltenden Rechts betrachtet. Na und?, könnte man fragen. Die Zufügung körperlicher und seelischer Schmerzen ist hier zur Abwendung eines rechtswidrigen Dauerangriffs auf Lisa und ihre Eltern "erforderlich" und darum als Notwehr nach dem StGB und den Polizeigesetzen ausdrücklich erlaubt.

Dieser Gedankengang folgt der Regel, nacheinander zu prüfen, ob ein Verhalten den jeweiligen Tatbestand erfüllt – hier den der Folter – und ob es auch rechtswidrig ist; bei gegebener Tatbestandserfüllung kann die Rechtswidrigkeit zu verneinen sein. Ein Beispiel: Der Einstich beim Impfen ist eine Körperverletzung, aber dank Einwilligung rechtmäßig. Von Schirach glaubt nun, dass im Fall der Folter die Regel nicht gelte, und auf den ersten Blick leuchtet das ein. Denn genau wie die Definition der Folter hat Gesetzeskraft auch zwei Bestimmungen, die v. Schirachs eigentliche Trumpfkarte bilden. Zum einen heißt es gleich im Anschluss an die Folterdefinition, dass "außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art … nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden" dürfen (Art. 2 Nr. 2 UN-Antifolterkonvention). Zum anderen bestimmt dies auch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte; sie sagt zunächst in Art. 3: "Niemand darf der Folter … unterworfen werden", und dann in Art. 15: "Von Art. 3 darf in keinem Fall abgewichen werden." Es scheint also, als gelte das Folterverbot ausnahmslos, als sei es, wie die Juristen sagen, "abwägungsfest": Hoheitliche Gewalt darf einem Menschen niemals vorsätzlich große körperliche oder seelische Leiden zufügen. Zur Rechtfertigung solchen Tuns kann man sich weder auf eine Notlage noch auf irgendwelche "außergewöhnlichen Umstände" berufen.

Das Folterverbot gilt als ein Unterfall des Verbots, "die Würde des Menschen" anzutasten, welches wir dem ersten Artikel des Grundgesetzes entnehmen. Dass hoheitliche Gewalt auch dieses Verbot niemals missachten dürfe, dass Würdeverletzungen selbst in Notlagen keinesfalls gerechtfertigt seien, steht zwar nirgends geschrieben, ist aber die herrschende, vom Bundesverfassungsgericht geteilte Meinung. "Die Menschenwürde", sagt etwa Tatjana Hörnle im Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (ARSP) 2003, S. 319 f., "ist unantastbar; Art. 1 Abs. 1 GG ist abwägungsfest. Wird der Schutzbereich durch eine staatliche Maßnahme … angegriffen, ist dies verfassungswidrig, ohne dass eine Legitimierung durch widerstreitende Interessen der Allgemeinheit oder andere Personen möglich ist".

Konzentrieren wir uns auf das Folterverbot! Denn dessen unumgängliche Relativierung gilt ganz entsprechend auch für das Verbot, die Würde eines Menschen zu beeinträchtigen. Die Absolutsetzung durch den Rechtfertigungsausschluss in den zitierten Artikeln ist eine ganz erstaunliche Fehlleistung derer, die die Konventionen geschaffen haben. Es handelt sich zwar um in Kraft gesetzte Rechtsvorschriften, aber diese sind mit der Gesamtrechtsordnung schlicht unvereinbar, sodass es sich verbietet, aus ihnen im Einzelfall abzuleiten, dass eine Schmerz- oder Leidzufügung, etwa Nadlers Waterboarding, Unrecht sei. Man muss nur ein wenig nachdenken, um zu erkennen, dass der Staat gar nicht anders kann, als für zahllose Situationen Amtsträgern zu erlauben oder gar zu gebieten, dass sie Menschen wissentlich (=vorsätzlich) große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zufügen. Beiseite lasse ich den hilflosen Versuch, diesem Befund mit einer auf "Sanktionen" beschränkten Ausnahmebestimmung Rechnung zu tragen. "Der Ausdruck" (d. h. der Begriff "Folter") umfasse nicht, heißt es im Anschluss an die Folterdefinition, "Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind". Der Satz betrifft die oft furchtbaren seelischen Schmerzen und Leiden, die verurteilte Straftäter hinter Gefängnismauern und vielleicht sogar beim Warten auf ihre Hinrichtung ertragen müssen. Aus der umfassenden Folterdefinition wird die strafrichterliche Zufügung solcher Leiden künstlich herausgenommen. Aber ist es damit getan? Natürlich nicht. Man denke etwa an brutale, aber unumgängliche Zwangsmaßnahmen in psychiatrischen Kliniken wie das gewaltsame, entwürdigende Fesseln ans Bett. Oder an ein gerichtliches Urteil, das eine alte Frau rechtens zwingt, die vertraute Wohnung zu verlassen. Oder an die Entziehung der elterlichen Sorge und die staatliche Unterbringung des Kindes, die bei Mutter und Kind schwerstes Leid bewirken. Schließlich nenne ich einen tatsächlichen Fall, der mich selbst betrifft. Als vorsitzender Prüfer im ersten juristischen Staatsexamen musste ich einem Kandidaten nach der mündlichen Prüfung wegen seiner zu schwachen Leistungen amtlich verkünden, dass er auch im zweiten Versuch nicht bestanden habe. Das war eine Leidzufügung ohne Sanktionscharakter und für den Gescheiterten so schrecklich, dass er sich Tage später das Leben nahm.

Aber so schmerzlich der Verwaltungsakt "nicht bestanden" für den Prüfling ist, er erleidet durch ihn doch keine Folter! Ein Amtsträger, der foltert, hat das Opfer in seiner Gewalt und will etwas erzwingen, ein Geständnis oder eine Information. – Von einem Nichtjuristen vorgetragen, wäre der Einwand verständlich. Der Mensch neigt dazu, einen Begriff mit dem Begriffskern gleichzusetzen, hier das Foltern mit dem Quälen eines Gefangenen, von dem man etwas hören will. Aber bei Rechtsbegriffen kommt es auf die genauen Grenzen an, die stets mehr umfassen als nur den Kern und die hier von einer Definition gezogen werden. Die Folterdefinition setzt ganz eindeutig keine Aussageerpressungsabsicht und auch keine Gefangenschaft des Opfers voraus. Wenn ein Amtsträger mit seinem Schlagstock einen Menschen grün und blau schlägt, warum sollte es dann für das Vorliegen von Folter darauf ankommen, welche Absicht er verfolgt, und ob er es im Gefängnishof einem Strafgefangenen oder auf dem Marktplatz einem Demonstranten antut!

An der Nichtbeachtung der Definition liegt es auch, dass v. Schirach die extreme Folter nicht erkennt und nicht anerkennt, die mit dem "finalen Rettungsschuss" verübt wird. Um ein Beispiel zu bilden: Ein Terrorist bringt seine Maschinenpistole in Anschlag, um unter Menschen, die im Freien einen Gottesdienst feiern, ein Blutbad anzurichten. Aus einiger Entfernung beobachtet ihn eine Polizistin, die zum Schutz der Versammelten abgeordnet ist. Sie kann der Tat nur zuvorkommen durch einen gezielten Schuss. Der Terrorist wird so schwer verletzt, dass er im Krankenhaus verstirbt. – Es ist klar, welches Argument Nadler aus der unstreitigen Rechtfertigung der Polizistin ableiten kann, und v. Schirach lässt es ihn vor Gericht auch vorbringen. Dieses Argument ist so stark, dass v. Schirach fairerweise die Zuschauer im Gerichtssaal Beifall klatschen lässt. Entkräften will er das Argument aber doch, und zwar erwartungsgemäß dadurch, dass er das Folterverbot wieder absolut setzt und es als selbstverständlich erscheinen zu lassen versucht, dass im Vergleich der Fälle nur das Waterboarding und nicht der finale Rettungsschuss Folter sei. Aber Letzteres ist – in meinen Augen – unhaltbar. Man kann nicht bestreiten, dass die Polizistin eine "Angehörige des öffentlichen Dienstes" ist, "in amtlicher Eigenschaft" handelt und dass sie dem Terroristen "vorsätzlich große körperliche Schmerzen" zufügt.

Wie unabwendbar der Selbstwiderspruch ist, worein sich v. Schirach verstrickt, zeigt auch ein harmloseres Beispiel. Wenn ein Kommissar, um ein Geständnis zu erzwingen, dem Beschuldigten vorsätzlich in den Oberschenkel schießt, dann würde unser Autor selbstverständlich und mit Recht das Vorliegen von Folter bejahen. Der gezielte Schuss in den Oberschenkel kann aber auch der "Vereitlung der Flucht" eines Strafgefangenen dienen und deshalb polizeirechtlich erlaubt sein (vgl. § 10 Abs. 1 Nr. 3a UZwG). Weil v. Schirach diese Rechtfertigung wohl kaum bestreiten will, muss er im zweiten Fall eine Folterung des Flüchtenden entgegen der Folterdefinition verneinen – obwohl doch die Amtsperson dem Flüchtenden in gleicher Weise die gleichen körperlichen Schmerzen zufügt wie der Kommissar dem Beschuldigten im ersten Fall. Befreien kann sich v. Schirach aus dem logischen Dilemma nur dadurch, dass er die Folterdefinition beachtet und die Möglichkeit und Häufigkeit gerechtfertigter Folter anerkennt.

Im konkreten Fall wird die Rechtfertigung besonders deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass das vom Autor behauptete abwägungsfeste Verbot, dem Angreifer Kelz Schmerzen zuzufügen, eine schlimme Kehrseite hat. Denn es würde Nadler zugleich verbieten, die Möglichkeit zu nutzen, dass infolge der Folter die andauernden Schmerzen und Leiden des Kindes und der Eltern ein Ende finden. Auf die aktive Folterung verzichtend, hätte Nadler sich durch Unterlassen an Kelz' körperlich-seelischer Misshandlung dieser anderen Menschen beteiligt. In diesem Dilemma, entweder durch Tun oder durch Unterlassen große Schmerzen und Leiden zu bewirken, zugespitzt: entweder den einen (Kelz) oder die anderen (Lisa und ihre Eltern) zu foltern, kann kein Zweifel sein, dass Nadler sich so entscheiden durfte. Für die Abwendung von Leid und Schmerz auf der einen – durch Zufügung von Leid und Schmerz auf der anderen Seite.

Dass die Folterung des Kelz nichts gebracht hat (oder besser: nur Ungewissheit beendet hat), darf keine Rolle spielen. Das brauche ich kaum zu erklären. Entscheidend ist, ob die realistische Möglichkeit besteht, dass die Zwangsmaßnahme Menschenleben rettet. Ein ex ante gebotener "finaler Rettungsschuss", der einen Geiselnehmer tötet (von Schirachs Beispiel), verwandelt sich nicht nachträglich in ein Unrecht, wenn sich herausstellt, dass die Tötung hätte unterbleiben können, weil die Pistole am Kopf der Geisel ungeladen war.

Was ist schließlich von der Entscheidung zu halten, die die Vorsitzende Richterin verkündet? Das Gericht stützt den Freispruch auf § 136a StPO. Die Vorschrift verbietet schon für das Ermittlungsverfahren bestimmte "Vernehmungsmethoden" und ordnet in Abs. 3 S. 2 an, dass "Aussagen, die unter Verletzung dieses Verbots zustande gekommen sind, … nicht verwertet werden" dürfen. Einschlägig ist hier ein Verbot des ersten Absatzes: "Die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten darf nicht beeinträchtigt werden durch Mißhandlung …" (§ 136a Abs. 1 S. 1 StPO). Dieses Verbot gilt aber nur als ein grundsätzliches. Z.B. wenn man Lisa, lebend oder tot, schon gefunden hätte und es bei Kelz nur noch darum ginge, seine Täterschaft zu klären. Auf diese Situation, aber auf jede andere auch, passt der banale Satz, den v. Schirach den Strafverteidiger Biegler sprechen lässt, nämlich dass es "keine Wahrheitsermittlung um jeden Preis" gebe. Es gibt überhaupt kein Ziel, das man "um jeden Preis" verfolgen darf. Aber eine Wahrheitsermittlung zum Zwecke einer Lebensrettung darf einen höheren Preis kosten als eine, die nur der rechtsstaatlichen Legitimierung von Strafe oder dem Auffinden einer gestohlenen Taschenuhr dient.

Für mich ist es natürlich nur folgerichtig, dem § 136a StPO in casu kein Verwertungsverbot zu entnehmen. Denn die Methode, bei der Vernehmung zur Erlangung von Auskunft und Geständnis das Nötigungsmittel einer Misshandlung einzusetzen, ist eben nur grundsätzlich eine "verbotene Vernehmungsmethode". Im Fall Nadler war sie unverboten, war sie gerechtfertigt, weil die nötigende Misshandlung durch Waterboarding das erforderliche und mildeste Mittel zur Abwendung des kelzschen Dauerangriffs auf Lisa war und der erhofften Rettung ihres Lebens diente (§ 32 StGB). Es verhält sich darum nicht so, dass Kelz' "Aussagen … unter Verletzung (eines) Verbots zustande gekommen sind" (§ 136a Abs. 3 S. 2 StPO); sie durften sehr wohl verwertet werden. Welche absurden Freisprüche drohen, wenn man im Geiste v. Schirachs nach dem Folterverbot nun auch die Verbote des § 136a StPO absolut setzt, soll eine Abwandlung unseres Falles zeigen. Angenommen, Nadler hätte bei der Vernehmung gespürt, dass Kelz seinen Lösegelderpressungsversuch als gescheitert ansah und immer mehr dahin neigte, "sein Gewissen zu erleichtern". Es bedurfte erkennbar nur des sanft ermüdenden Drucks eines sich lang hinziehenden Befragen und Appellierens, um das gute Motiv die Oberhand gewinnen zu lassen. Schließlich geschah genau dies, und Nadler hatte es darauf angelegt. Stellen wir uns auch noch vor, nur dank ermüdungsbedingt verstärkten Gewissensbissen wäre es zur Auskunft und aufgrund ihrer zu Lisas Errettung gekommen! Welch ein Unsinn, Nadler zu belehren, er hätte bei der Vernehmung so nicht vorgehen dürfen, er habe das Verbot der "Ermüdung" des Beschuldigten missachtet, weil er Kelz zu lang ins Gewissen geredet habe; nun sei dessen Geständnis nicht verwertbar, und er müsse freigesprochen werden.

Man kann mein Ergebnis durchaus erfreulich nennen: Denn was die große Mehrheit der Zuschauer als gerecht empfunden hat, die Rechtfertigung des Kommissars und die Bestrafbarkeit des Angeklagten, das ist auch geltendes Recht, welches streng zu befolgen Ferdinand von Schirachs mit so großem Engagement fordert.

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