Lebensschutzvorgabe des Bundesverfassungsgerichtes

Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs (Teil 2)

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Gemälde eines wenige Wochen alten menschlichen Embryos.

Bei einer Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ist die Befürchtung berechtigt, damit erneut vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu scheitern. Dazu müssen seine bestehenden Vorgaben auf den Prüfstand. Das höchste Gericht wird allenfalls eine Lösung zulassen, die den "Schutz ungeborenen Lebens" zumindest neu bestimmt. Diesen für hochentwickelte Föten sogar zu verbessern, ist Kern eines innovativen Vorschlags des Humanistischen Verbandes Deutschlands.

Das "Unwerturteil" zum Schwangerschaftsabbruch des BVerfG von 1993 hat zu höchst widersprüchlichen und allgemein unverstandenen Strafrechtsregelungen unter dem Abschnitt "Tötungsdelikte" geführt (teilweise mit der Hilfskonstruktion "rechtswidrig, aber straffrei" im Paragraf 218a StGB). Wie eine Tiefenprüfung der Problemlage zeigt, werden auf dieser Grundlage paradoxerweise ursprüngliche Intentionen zum verfassungsrechtlichen Lebensschutz konterkariert beziehungsweise de facto hintertrieben.

Folgen des geltenden Abtreibungsstrafrechts in der Praxis

Nach deutschem Recht sind Schwangerschaftsabbrüche prinzipiell für Ärzt*innen und auch die betroffenen Frauen strafbar. Sie bleiben jedenfalls rechtswidrig, außer wenn sie auf einem der beiden Indikationen beruhen: der medizinischen (jährlich über 3.000 Fälle) oder der kriminologischen (nach Vergewaltigung – jährlich rund 30 Fälle).

Auf der empirischen Ebene spricht nichts dafür, dass die gegenwärtige strafrechtliche Regelung in den Paragrafen 218 ff. StGB überhaupt geeignet sein könnte, Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern oder ihre Zahl auch nur zu verringern. Denn sie werden relativ konstant in rund 100.000 Fällen jährlich vorgenommen, obwohl dabei die überwältigende Mehrheit von gut 96 Prozent dem Rechtswidrigkeitsverdikt unterliegt und dabei von Strafbarkeit nur nach verpflichtender Beratung durch eine staatlich anerkannte Stelle innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen abgesehen wird. So lange kann für die Abtreibung eines Embryos (der bis zum dritten Monat auf ca. 5 cm angewachsen und 15 g schwer ist) dann die medizinische Absaugmethode (Vakuumaspiration) quasi legal angewendet werden.

Die Ächtung und Stigmatisierung durch grundsätzliche Kriminalisierung wirkt sich vielmehr negativ auf die reproduktive Gesundheit und Selbstbestimmung von Frauen aus, sowie auf die fehlende Kostenübernahme durch die Krankenkassen. Vor allem ist jedoch die ärztliche Versorgungslage dramatisch betroffen: Dies belegt der problematische Rückgang von gemeldeten ärztlichen Stellen, die überhaupt (noch) Abbrüche vornehmen, deren Zahl sich innerhalb von 18 Jahren fast halbiert hat.

Im Beitrag "Quer zur Wirklichkeit" beschreibt Ulrike Lembke, Professorin für öffentliches Recht und Genderforschung, eine besonders paradoxe Folgewirkung des Paragrafen 218a: Als dort, wie von Abtreibungsgegner*innen und Lebensschützer*innen gefordert, "die embryopathische Indikation 1995 gestrichen wurde, ging ein Teil der Behindertenbewegung davon aus, dass sich so eine als diskriminierend empfundene Praxis einschränken ließe … Dies war jedoch nicht der Fall." Vielmehr ging sozusagen der Schuss nach hinten los. Seitdem können nämlich Spätabbrüche ungehindert, das heißt ohne psychosoziale Beratung und ohne Rechtswidrigkeitsvorbehalt, bis kurz vor der Geburt vorgenommen werden, "wenn angenommen wird, dass eine Behinderung des Fötus die Schwangere unzumutbar belasten würde", wie Lembke ausführt.

Spätabbrüche – ein "dickes" verdrängtes Problem

Dabei hatte das einschlägige Urteil des BVerfG von 1993 für eine diesbezügliche Rechtmäßigkeit aufgrund Indikation ergänzt: wenn "das Kind infolge einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde …". Der demgegenüber erfolgte Verzicht auf die (früher auch sogenannte "genetische") Indikation ergebe, so Lembke weiter, "ein dickes Problem, über das die Pro-Choice-Bewegung nicht gern spricht": Denn eine Abwägung bezüglich anzunehmendem Leiden des geborenen Kindes habe sich völlig verschoben auf die Annahme einer Gesundheitsgefährdung der späteren Mutter, so ist die "medizinische Indikation" gemäß Paragraf 218a, Absatz 2 StGB definiert. Ausschließlich mit diesem Bezug auf die Frau werden nun alle jährlich gut 3.000 Spätabbrüche ab dem zweiten Drittel der Schwangerschaft rechtmäßig durchgeführt.

Eine solche Indikation – bei eigentlich durchaus gewollter Schwangerschaft – wird der Frau heutzutage fast automatisch gewährt, wenn ein pränataler Befund zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Anomalie des Fötus (= hochentwickelter Embryo) vorliegt. Um dessen Entwicklungsstadium, Behinderungsgrad, Empfindungsfähigkeit beziehungsweise um seinen Schutzanspruch oder sein auch späteres Leiden als Kind soll es dabei nicht gehen, ersatzweise ist dafür in der Gesetzesfassung von 1995 ein "Quasi-Frauenrecht" implementiert worden. Die absoluten Zahlen von Spätabbrüchen jenseits der Beratungsregelung sind in der statistischen Vergleichstabelle in den letzten zehn Jahren kontinuierlich gestiegen, darunter auch die Abbrüche "ab 22 Woche und mehr" von 447 (in 2012) bis auf 740 (in 2022). Es wird dann nicht mehr weiter erfasst, wie viele davon etwa noch in den letzten drei Schwangerschaftsmonaten erfolgt sind, die durch Fetozid erfolgen müssen – wovon am liebsten niemand etwas sagen oder wissen möchte. Erst in jüngerer Zeit ist in ausführlichen Medienberichten auf diese ethische, juristische, menschliche und medizinische Herausforderung hingewiesen worden – wie hier in der FAZ und zuvor in der taz.

Darin sieht jedoch der Deutsche Juristinnenbund (djb) kein auch nur erwähnenswertes Problem, wenn er in seinem feministisch konnotierten Reglungsvorschlag lapidar ausführt: Sogenannte Spätabbrüche spielten in der Praxis eh nur "dann eine Rolle, wenn entweder die Gesundheit der schwangeren Person gefährdet ist oder pränataldiagnostische Untersuchungen auf eine gesundheitliche Beeinträchtigung des Fötus deuten." An gleicher Stelle stellt der Juristinnenverband fest: "Erst mit der Überlebensfähigkeit rückt die Rechtsposition des Fötus so nahe an die des geborenen Kindes, dass es eines weitergehenden Schutzes in Form der Unzulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs bedarf. … In Deutschland sollen Frühgeborene nach der derzeit gültigen Leitlinie im Regelfall ab der 25. Schwangerschaftswoche … unabhängig vom Wunsch der Eltern lebenserhaltend statt nur palliativ therapiert werden."

Pränataldiagnostik, Fetozid und embryopathische Indikation

Das bedeutet auch, dass die Frau sich bei einem Abbruch etwa ab dem sechsten Schwangerschaftsmonat dafür entscheiden müsste, in ihrem Bauch eine Tötung (Fetozid) zuzulassen. Denn ab diesem Zeitpunkt steigt die Wahrscheinlichkeit an, dass ein krankes oder behindertes Frühgeborenes die zur Abtreibung künstlich eingeleitete Geburt (meist zusätzlich geschädigt) überstehen wird und Ärzt*innen dann zum Lebenserhalt verpflichtet wären.

Die kontinuierliche Zunahme der Spätabtreibungen ist auf die ständige Verfeinerung der pränatalen Diagnostik bis hin zum Erkennen auch von komplexen Störungsbildern zurückzuführen – bei Routineuntersuchungen um die 20. oder 30. Schwangerschaftswoche. Bei diesen ist es mittlerweile möglich, Erkrankungen des Fötus sehr genau zu erkennen und die Behandlung nach der Geburt zu planen oder sogar bereits im Uterus zu beginnen – oder eben den Abbruch einer vorher gewünschten Schwangerschaft zu erwägen.

Der Humanistische Verband Deutschlands hält es in seinen detaillierten Vorschlägen für sinnvoll und notwendig, eine embryopathisch indizierte Rechtfertigung für einen Schwangerschaftsabbruch etwa im Schwangerschaftskonfliktgesetz einzuführen. Dazu wäre eine verpflichtende psychosoziale Beratung kostenfrei und leicht erreichbar zur Verfügung zu stellen. Diese sollte und könnte allen Beteiligten helfen, eine notwendige Entscheidung oder Gewissensfrage wohlüberlegt zu treffen, wobei jeder Fall anders ist: So kann zum Beispiel zwar eine günstige Prognose vorliegen, aber die Schwangere oder die Elternbeziehung wirkt labil, vielleicht gibt es auch noch weitere kleine Kinder. Eine Erkrankung oder Fehlbildung kann außerdem schwerwiegender sein, aber vielleicht schon pränatal behandelbar (z.B. durch die Gabe von Medikamenten an die Schwangere oder direkt in die Nabelschnur, intrauterine Bluttransfusionen bis hin zu operativen Eingriffen am Fötus). Oder aber die Wahrscheinlichkeit bleibender geistiger Schäden mit charakteristischem Aussehen ist bei erkannten genetischen Defekten (häufig Trisomie 21) sehr hoch, was aber die kindliche Lebensqualität nicht negativ beeinflussen müsste. Als Leitlinie könnte gelten, dass zur Rechtfertigung eines Abbruchs die zu vermeidenden gesundheitlichen Gefährdungen, Leiden oder Behinderungen umso so größer sein müssen, je fortgeschrittener die Schwangerschaft ist.

Neuregelung mit verfassungsrechtlichem Bestand

Der Humanistische Verband Deutschlands wirbt bei säkularen Verbänden und in Fachkreisen für Unterstützung seiner Werthaltungen und Sichtweisen. Demnach sollten – entgegen bestehender Befürchtungen – die Vorgaben des BVerfG nicht als in Stein gemeißelte Grenze des parlamentarischen Spielraums hingenommen werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass eine Entkriminalisierung selbstbestimmter Schwangerschaftsabbrüche heute Bestand hätte – sofern sich gleichzeitig der Lebensschutz des "ungeborenen Lebens" an einem Stufenmodell gemäß seines Entwicklungsstandes orientiert.

Erfolgversprechend scheinen die Bemühungen des HVD etwa schon im Berliner Arbeitskreis der Säkularen und Humanistischen Sozialdemokrat*innen (SHS) zu sein. Dort ist die HVD-Positionierung für eine eigene SHS-Stellungnahme bezüglich einer Abschaffung der Paragrafen 218 ff. als eine Vorlage behandelt worden, in der es heißt: "Medizinisch, rechtpolitisch und ethisch bietet sich als Neuregelung eine auf die 20. bis 22. Schwangerschaftswoche erweiterte reine Fristenlösung an, das heißt ohne Beratungs- und Rechtfertigungspflicht für abtreibungswillige Schwangere. Für danach erfolgte Spätabbrüche schlägt der Humanistische Verband vor, eine neue embryopathische Indikation bei pränatal diagnostizierten Schädigungen einzuführen."

Eine gegenüber der Forderung nach reproduktiver Selbstbestimmung bisher scheinbar unbeachtet gebliebene Argumentationsfigur besteht darin: Die aktuelle (!) Rechtslage ist mit einer verfassungsgerichtlichen Lebensschutzvorgabe nicht in Einklang zu bringen. Die Absolutheit der Beurteilungen aus Karlsruhe – dass die Interessen des frühen Embryos gegenüber den Rechten der Schwangeren unbedingt Vorrang haben müssen – haben zu unvereinbaren Wertungswidersprüchen geführt.

Denn wie kann es verfassungsrechtlich legitimiert sein, dass gegenüber der eben im Uterus eingenisteten Eizelle eine prinzipielle Austragungspflicht der Schwangeren besteht, welche staatlich mit Pflichtberatung und aufrechterhaltener Rechtswidrigkeit (d.h. Missbilligung) eingeschränkt werden muss – diese vermeintlich tauglichen Schutzmaßnahmen aber bei Spätabbrüchen eines entwickelten Fötus hinfällig sind?

Die Sondervoten im BVerfG-Urteil von 1993

Aus dem Verfassungsrecht ist eine staatliche Schutzpflicht heute nicht mehr wegzudenken, die eine Person vor Rechtsverletzungen nicht nur durch den Staat, sondern auch durch andere bewahrt. Dem steht entgegen, argumentiert Prof. Ulrike Lembke, dass dies nicht auf das Verhältnis Schwangere und früher Embryo passt, weil diese beiden zumindest in den ersten Schwangerschaftswochen (ganz nach dem Motto: mein Bauch gehört mir) eine "Zweiheit in Einheit" bilden. Dies habe das BVerfG 1993 selbst so formuliert und nichtsdestotrotz verkannt, dass der Embryo kein selbständiges Rechtsgut (sprich: keine Person) darstellt und vom Staat erst recht nicht mit Mitteln des Strafrechts gegenüber der Schwangeren zu schützen sei.

So wiesen auch die beiden Verfassungsrichter Bertold Sommer und Ernst Gottfried Mahrenholz (von insgesamt acht Mitgliedern des Zweiten Senats) in ihrem Sondervotum 1993 (siehe BVerfG 88203, ab Randnummer 379) darauf hin, dass Schwangeren in "Achtung ihrer Persönlichkeit" angesichts einer "Zweiheit in Einheit" in der Frühphase der Schwangerschaft die Letztentscheidung gebühre. Diese sei auch gegen die Austragung eines Kindes keinesfalls als Unrecht, sprich: als rechtswidrig, zu behandeln, wenn sich die Frau innerhalb einer Zwölf-Monats-Frist habe beraten lassen. Ihre Auffassung konnte sich bei der Mehrheit der Senatsmitglieder (darunter eine Frau) bekanntlich nicht durchsetzen, sondern diese bestand auf strengsten Vorgaben für Ärzt*innen sowie die vorausgehende Beratung und vor allem auf der bleibenden Rechtswidrigkeit. Sommer und Mahrenholz brachten vor, dass die Schwangerschaft auch verfassungsrechtlich als ein "Prozess" zu betrachten sei. Im Laufe der Schwangerschaft, so argumentierten die beiden Abweichler, änderten sich die Verhältnisse. Mit "dem Wachsen der Leibesfrucht, sobald sie sichtbar und greifbar" würde, übernehme dann der Staat die Verantwortung für den sich "verselbständigenden Teil", die "Eigenverantwortung" der Frau für sich aber bliebe. Dann müsse eine Kollision der Würde des Embryos und der Würde der Schwangeren verhältnismäßig adäquat aufgelöst werden.

Diese Sondervoten vor 30 Jahren lassen durchaus hoffen, dass ihr Geist (abgesehen von den Details) im heutigen Bundesverfassungsgericht mehrheitsfähig wäre.

(Den ersten Teil des Textes lesen Sie hier.)

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