Im Luftsicherheitsgesetz der Bundesrepublik Deutschland existierte bis 2006 ein Passus, der den Abschuss eines voll besetzten Verkehrsflugzeugs erlaubte, wenn dadurch eine noch größere Katastrophe – in juristischem Deutsch ein "besonders schwerer Unglücksfall" – verhindert werden kann. Dem schob das Bundesverfassungsgericht einen Riegel vor. Eine Entscheidung, die dem Problem nicht in vollem Umfang gerecht wird.
Ein besonders schwerer Unglücksfall im Kontext des Gesetzes wäre beispielsweise der Einsatz des Flugzeugs als Waffe durch Terroristen, die es in einem voll besetzten Sportstadion zum Absturz bringen wollen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erklärte die im Gesetz enthaltene Abschussermächtigung als mit dem Grundgesetz unvereinbar und daher nichtig – aus zwei Gründen.
Die eher formaljuristische Begründung lautet, dass die Bundeswehr nicht zur Bekämpfung von Bedrohungen im Inland zum Einsatz kommen dürfe, und wenn doch, dann nur unter besonderen, vom Bundestag festgelegten Bedingungen. Alleine diese Begründung reicht aus, um eine ethische Richtlinie durchzusetzen: Wenn das Flugzeug nicht abgeschossen werden darf, ist der Tod einer erheblich größeren Zahl an Opfern durch den Absturz im Stadion hinzunehmen.
Objektiv betrachtet, erscheint diese Begründung vorgeschoben, um sich durch Heranziehung eines übergeordneten Rechtsgrundsatzes vor der eigentlichen ethischen Bewertung zu drücken. Das Gericht hätte sich in diesem Zusammenhang ja auch mit Ausnahmeregelungen in Extremfällen beschäftigen können. Der Blick auf das Inlandsverbot der Bundeswehr führt nicht weit: Was, wenn eine speziell dafür gegründete und mit entsprechenden Waffensystemen ausgestattete Einsatzgruppe der Polizei oder des BKA den Abschuss durchführt?
Am Ende kommt es auf die Ethik an
Das führt zur zweiten Begründung des BVerfG für die Ungültigkeit der Abschussermächtigung. Das Gericht stellt die Unvereinbarkeit mit dem Recht auf Leben nach Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 im Grundgesetz in den Vordergrund. Das provoziert die unwillkürliche Gegenfrage des Rechtslaien: Und was ist mit den Leben der Menschen im Sportstadion?
Wie nicht anders zu erwarten, hält das Urteil des BVerfG darauf eine Antwort bereit: Der Abschuss des Flugzeugs erniedrigt Passagiere und Besatzung zu bloßen Objekten von Tätern und Staat gleichermaßen, da sie der Abwendung einer Katastrophe geopfert werden sollen. Das gilt insbesondere für die Personen, die an dem Attentat nicht beteiligt sind. Im Urteil heißt es dazu:
"Die einem solchen Einsatz ausgesetzten Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden sich in einer für sie ausweglosen Lage. Sie können ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen."
Der ethische Grundsatz, der dieser rechtlichen Bewertung zugrunde liegt, beschreibt den Konflikt, der sich aus aktiv betriebenen Tötungen ergibt. Demnach hat der Mensch nicht das Recht, andere Menschen zu töten, und sei es auch, um andere zu retten. Insbesondere dürfen Opferzahlen nicht gegeneinander aufgerechnet werden, was für den Abschuss sprechen würde. Im Fall Flugzeug gegen Sportstadion erwächst aus dieser Haltung allerdings ein gewaltiger Pferdefuß, den das BVerfG offensichtlich nicht berücksichtigt hat.
Das Urteil beschäftigt sich mit bewussten Entscheidungen, die zum Tod von Menschen führen können. Was außen vor bleibt, ist die schlichte Tatsache, dass auch der Entschluss, eine Aktion nicht durchzuführen, eine bewusste Entscheidung darstellt.
Das Votum gegen den Abschuss führt zu den exakt gleichen Konsequenzen wie die Entscheidung dafür, diesmal allerdings für die Menschen im Sportstadion. Die bewusste Unterlassung bringt nun die Menschen im Stadion in eine ausweglose Lage und macht sie zu Objekten.
Der Entschluss, aus vermeintlich ethischen Gründen auf einen Abschuss des Verkehrsflugzeugs zu verzichten, verletzt ebenfalls das grundgesetzlich geschützte Recht auf Leben, in diesem Fall für die Stadionbesucher. Hinzu kommt, dass diese Entscheidung noch nicht einmal die Rettung von Menschen zum Ziel hat, denn im Katastrophenfall kommen ein Großteil der Menschen im Stadion und im Flugzeug zu Tode. Es scheint lediglich um die Befolgung eines scheinbar ethischen Prinzips zu gehen, ohne Rücksicht auf Menschenleben. Unter diesem Aspekt erscheint das Urteil des BVerfG nicht nur lebensfremd, sondern auch massiv menschenverachtend.
Was bleibt? Vielleicht die Erkenntnis, dass jedes Gericht seine juristische Autorität verliert, wenn es keine explizit richtige oder falsche Entscheidung gibt. Möglicherweise ist hier die Rückkehr zum archaischen Prinzip des kleineren Übels die einzig wirklich ethische Entscheidung.
36 Kommentare
Kommentare
Oliver am Permanenter Link
Emil Horowitz: "Möglicherweise ist hier die Rückkehr zum archaischen Prinzip des kleineren Übels die einzig wirklich ethische Entscheidung."
"archaisch"? oder doch typisch "utilitaristisch"? Menschen zu Objekten zu machen, kommt sehr "schräg" rüber – gibt es einen Anlass, diesen kontroversen Artikel beim hpd zu veröffentlichen?
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Es stellt sich auch die Frage, ob z. B.
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Wenn der den Absturz herbeiführende Passagier als Held gefeiert würde (wie die Passagiere bei 9/11, denen ein Denkmal gesetzt wurde), dann frage ich mich, warum ein Pilot, der durch Abschuss der entführten Maschine das exakt gleiche Ergebnis erzeugt (Passagiere tot, Stadionbesucher gerettet), dann falsch gehandelt haben sollte.
Ethik ist für mich Leidminderung. Die Formel im vorliegenden Fall lautet so:
Fall a) Nichtabschuss: Passagierte tot, Stadionbesucher tot. Die jeweilige Anzahl kann ich unberücksichtigt lassen.
Fall b) Abschuss: Passagiere tot, Stadionbesucher leben.
Für den Ethiker sollte der Fall klar sein. Nur Fall b) sorgt für echte Leidminderung.
Konrad Schiemert am Permanenter Link
Ich würde ein Bisschen mehr differenzieren: Die Stadionbesucher, anders als die Flugzeuginsassen, sind bis zur letzten Sekunde nur potenzielle Opfer.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Aber man tut in jedem Fall etwas. Nichtstun ist nämlich auch etwas tun, nämlich nichts - mit entsprechenden Konsequenzen. Entscheidungsverweigerung ist keine gültige Ausrede.
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Konrad Schiemert am Permanenter Link
Auch ein Abschießen hat unerwünschten Nebeneffekte. Die Trümmerteile können auch tödlich sein. Darüberhinaus, kann für den Insassen einen großen Unterschied bedeuten ob sie paar Minuten länger leben oder nicht.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Ich fürchte, Schalke-Fans hätten die Rakete eher auf ihre Mannschaft abgeschossen...
Marianne am Permanenter Link
1: Das Ergebnis ist eben nicht exakt gleich. Im Fall der kämpfenden Passagiere starben diese im Rahmen ihres Engagements ebenfalls (wenngleich sie vielleicht hofften, genau das zu vermeiden).
2: Möglicherweise würde das Flugzeug ja kurz vor knapp doch noch durchstarten und eben nicht ins Stadion krachen. Z.B. wenn Passagiere den Piloten überwältigen könnten. Und möglicherweise könnte die Maschine später sogar sicher gelandet werden. So eine Entwicklung kann wohl erst extrem spät sicher ausgeschlossen werden, wenn ein Abschuss aufgrund der dann gegeben Nähe zum Stadion auch für die dort befindlichen Personen nicht mehr ungefährlich wäre. Also müsste man sehr frühzeitig abschießen, wodurch ein solch insgesamt glücklicher Ausgang eben auch frühzeitig verunmöglicht würde.
Ich bin jedenfalls froh, über solche Dinge nicht entscheiden zu müssen, und hoffe wirklich, nie in vergleichbare Situationen zu kommen.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Ich denke, um den Kampfpiloten geht es am Allerwenigsten. Es geht um zwei Gruppen: 1. die Passagiere im Flugzeuge und 2. die Stadionbesucher oder andere Unbeteiligte am Boden.
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Doch das sind alles keine Betrachtungen, die eine Leitstelle anstellen kann. Evtl. gibt es Handyaufnahmen aus dem Inneren der Maschine. Dann könnte man sehen, ob die Terroristen sich im Cockpit verschanzt haben. Ab dieser Sekunde wäre klar, dass es ausgehen würde wie bei den ersten drei Maschinen von 9/11. Würde man da zögern, wenigstens die Stadionbesucher zu retten?
Ich bin nicht mal sicher, ob ein Abdrängen der Maschine durch Kampfjets oder Warnschüsse erfolgreich wären. Z. B. um Zeit für eine Evakuierung des Stadions zu gewinnen. Jede Maßnahme gegen das Flugzeug (auch das Leitwerk zu beschädigen, um ein Steuern zu verhindern) würde bei Fanatikern nur Wut und Hass auslösen und das Flugzeug irgendwo anders herunterkrachen lassen. Das könnte die Zahl der Toten verringern, aber für die Passagiere - so meine Überzeugung - würde keine Maßnahme der Welt etwas ändern.
Früher gab es auch Terroristen, die Flugzeuge entführt haben, doch die wollten politische Ziele durchsetzen oder Geld erpressen. D. h. die hingen an ihrem eigenen Leben. Das ist ein entscheidender Unterschied, denn da gab es eine Verhandlungsmasse: das Leben der Terroristen. Man konnte sie irgendwo landen lassen, verhandeln, deeskalieren, sie zur Aufgabe bewegen oder die Maschine stürmen (wie in Mogadischu). In diesen Fällen hatten die Passagiere eine große Überlebenschance und jeder Zerstörung der Maschine wäre falsch gewesen. Wobei z. B. Mogadischu auch völlig anders hätte ausgehen können. Die Ungewissheit und Anspannung zeigten sich damals in den Tränen von Helmut Schmidt, als ihn Ben Wisch mit der erlösenden Nachricht anrief...
Roland Weber am Permanenter Link
Vollkommen übersehen wird bei dieser ethischen Diskussion, dass es letztlich nur um das Strafrecht geht. Das Schuldrecht (Entschädigungen etc.) hätte dem zu folgen.
Es sollte m.E. genügen, dass alle möglichen Entscheidungsträger sich bei Übernahme einer Verantwortung dieses Konflikts bewusst werden bzw. darauf hingewiesen worden sind. Eine Vorschrift, die diese Problemlage erfasst, sollte nur sicherstellen, dass dies geschehen ist.
Diese Gedanken gelten übrigens gleichermaßen auch für eine Eingriffe, wie jetzt zum Beispiel zur Bekämpfung der Pandemie bei einer geforderten Impfpflicht. Welche ethische Entscheidung treffen da die Verantwortlichen? Allem Anschein sehen sie nicht einmal einen Zusammenhang, der sie ethisch verpflichtet Risiko, Wohl von Abhängigen, Altersgruppen, "Systemrelevanz", Eigentum und Persönlichkeitsrechten, Bewertung statistischer Daten u.a.m. abzuwägen - jedenfalls fehlt da sogar die Einbindung der Parlamente, was an sich schon nicht nur einen gravierenden demokratischen, sondern in diesem Zusammenhang schon jetzt auch ein vermeidbares (!) ethisches Defizit darstellt. Darüber sollte man jetzt endlich einmal - auch für alle Betroffenen nachvollziehbar - diskutiert und entschieden werden.
Wenn eine Entscheidung, wie sie im o.a. Urteil in den Blick genommen wird, ansteht bzw. in einem derartigen Fall gefallen ist, ist erst im nachhinein zu prüfen, ob eine Straftat vorliegt! Bedarf es tatsächlich des Strafrechts, der Bestrafung eines oder der Verantwortlichen, um die öffentliche Sicherheit herzustellen?
Welchen Katalog wollte man vorab aufstellen? Anzahl Tote gegen Tote, Tote gegen Gefährdete, gar Gefährdete gegen Gefährdete, Sicheres gegen Gemutmaßtes?
Egal, ob ein Eingreifen unterlassen oder ein Eingreifen angeordnet wurde. Es kann nur gefragt werden: War das Verhalten rechtswidrig oder entschuldbar - oder beides nicht.
Die Beispiele werden ja bewusst krass skiziiert: Volles Stadion gegen 200 Flugzeuginsasen etc. In den meisten Fällen werden die Differenzen jedoch deutlich geringer ausfallen und der Druck einzugreifen sich verringern. Wer will da Grenzen ziehen, und vor allem wie ist es um den Wissensstand des Entscheiders bestellt? Ein Anhaltspunkt wäre für den Entscheider schon einmal, wenn er sich in die Situationen der "Abwägungs-Gewichteten" hineinversetzt. Ihm sollte auch genügen, dass er - nur oder immerhin - einen fairen Prozess zu erwarten hätte.
Wie in einem Roman/Theaterstück dargestellt, kann erst hinterher festgestellt werden, ob und warum eine Bestrafung - fürs Nichtstun oder fürs Tun - erfolgen muss bzw. kann. Dafür ist das schon vorhandene Strafrecht ausreichend und es ist nicht dafür gemacht, vorab Verhaltenskataloge in Abwägungsfragen aufzustellen. Am Strafrecht kommt man im nachhinein zwar nicht vorbei, da schließlich Tötungen oder Körperverletzungen verursacht worden wären, aber ob durch diese Entscheidung die öffentliche Sicherheit in "strafwürdiger Weise" verletzt wurde, ist damit eben nicht beantwortet/zu beantworten.
Dabei gilt zudem: In dubio pro reo - im Zweifel eben für den Angeklagten! Damit könnte man m.E. die Diskussionen beenden! Gerade im Urteil zur Sterbehilfe finden sich auch Gedanken, die hier zu berücksichtigen sind.
Thomas Reutner am Permanenter Link
Ich sehe die Sache genau so wie der Autor.
Im BVerfG steht:
"Die Ermächtigung der Streitkräfte, gemäß § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abzuschießen, das gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, ist mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden."
Hier fällt mir der seltsame Begriff der "Menschenwürdegarantie" auf. Was soll "Menschenwürde" sein? Ist es das Gegenteil von "Menschenschande"? Und wieso wird sie den Stadionbesuchern nicht garantiert? Wieso ist es meiner Menschenwürde weniger abträglich, wenn ich von Terroristen getötet werden, als wenn mich der "Staat" tötet?
Wäre ich Flugzeugpassagier in dieser Situation, emfände ich es für mich als viel würdevoller getötet zu werden, damit andere Menschen nicht sterben müssen, als wenn ich in dem Flugzeug sitzen muss, das auf ebenjene Menschen abstürzt. Davon abgesehen würde das meine Todesangst erheblich verkürzen.
Ich vermute (unbewusste) religiöse Vorstellungen, die dieses Urteil beeinflusst haben:
"Der Mensch verfügt über eine besondere Würde, weil er von einem maximal guten Gott zu einem höheren Zweck erschaffen wurde, und nur dieser Gott darf über Leben und Tod entscheiden."
"Also lassen wir den Dingen ihren Lauf und schreiten nicht ein, denn nichts geschieht gegen den Willen des Allmächtigen."
Rüdiger Kramer am Permanenter Link
Sollte es zu einem solchen Fall jemals kommen, hoffe ich nur, dass in dem Stadion die Juristen sitzen, die solche Ansichten haben. In Amerika haben damals Menschen ihr Leben freiwillig gegeben, um andere zu schützen.
Eugen Grünberg am Permanenter Link
Der Staat darf nicht zum Verbrecher werden, schon gar nicht dürfen Menschen sein bloßes Objekt werden.
Verbrecher und Terroristen zeichnen sich ja gerade dadurch aus, nicht nur über Leichen zu gehen, sondern andere zum bloßen Objekt zu degradieren: das macht ihr Tun verbrecherisch. Und das meist für vermeintlich hehre, höhere Ziele, jedenfalls bei Terroristen.
Den Staat zum noch größeren Verbrecher zu machen, feigeren Mörder, skrupelloseren Folterknecht löst das Problem nicht, verschärft und eskaliert es nur! "Gute" Argumente, "Ausnahmen", im Grunde doch Schaden zu begrenzen, Gutes zu tun, gab es da wohl für jedes staatliche Verbrechen. So wurde auch beim "Röhm-Putsch" argumentiert: an Stelle der SA trat der SS-Staat. Siehe auch Guantanamo.
"Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht!" - die Menschenwürde ist wesentlich höher als das Menschenleben zu bewerten (hat das BVG auch geurteilt). Und da zählt eben gerade die Qualität, viel weniger Quantität - im Leben, aber letztlich auch beim Sterben.
Ärgerlich, wenn das immer wieder wider eigentlich besseren Wissens erneut in Frage gestellt wird!
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
"die Menschenwürde ist wesentlich höher als das Menschenleben zu bewerten"
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Klaus Bernd am Permanenter Link
Weder die Forderung, der Mensch dürfe nicht zum „bloßen Objekt“ gemacht werden (was immer das heißen soll), noch die Verlagerung des Problems von Menschenleben auf Menschenwürde trägt irgendetwas zur Klärung dieses Di
Zurück zur Realität. Selbstverständlich ist die Lagebeurteilung immer schwierig, es ist aber durchaus möglich, dass das Angriffsziel einer terroristischen Flugzeugentführung mit großer Sicherheit bekannt wird. Es kann also Fälle geben, bei denen für eine der Alternativen die Anzahl der Opfer recht zuverlässig als deutlich geringer angenommen werden kann. Das fatale an diesem Urteil des BVerfG und an Ihrer Argumentation ist, dass es auch in einem solchen Fall, „den Staat“ zur Untätigkeit verdammt. Das ist religiöser Fatalismus. Es ist möglich wenn nicht gar wahrscheinlich, dass bei einem Abschuss Menschen, z.B. eines Dorfes, betroffen sein könnten, die nicht unmittelbar zur „Gefahrengemeinschaft“ gehören. Auch dies muss berücksichtigt werden; und auch dabei spielt, so bitter das auch sein mag, die schiere Anzahl der Betroffenen eine Rolle. Denn, und das wurde in der bisherigen Diskussion soweit ich weiß noch gar nicht angeführt, es sind nicht nur die Toten, an die man denken muss, deren Anzahl man einfach vergleichen müsste, sondern es sind auch auch die Lebenden, die Überlebenden, die Verletzten und Schwerverletzten. Eins sollte uns die Pandemie doch gelehrt haben: Dass die Ressourcen für deren Versorgung begrenzt sind. Dass Notärzte und andere Helfer u.U. schon an der Unfallstelle entscheiden müssen, wen sie zuerst versorgen. Ja, „Triage“ ist nicht erst seit Corona bittere Notwendigkeit für Ersthelfer. Ansatzweise lernt man das sogar im Este-Hilfe-Kurs für den Führerschein. In der Folge sind es auch die Hinterbliebenen und die Angehörigen der Verletzten, der Verstümmelten, der Traumatisierten, sowie diese selbst, die versorgt und betreut werden müssen. Und so ungern ein Fundamentaltheologe das auch hören möchte, da geht es letzten Endes leider auch wieder um Geld. Nur mal ein Beispiel: eine „normale“ Beinprothese kostet 6000.- €, ein Spitzenmodell 20000.- €; bei aktiven, jungen Menschen kann sie bereits nach 1 bis 2 Jahren verschlissen sein, während sie bei anderen Patienten bis zu 10 Jahre halten kann. Entscheiden Sie selbst, ob die ,wenn auch nur zu schätzende, Anzahl der Opfer in einem Katastrophen-Szenario ein Rolle spielen sollte oder nicht.
Thomas Reutner am Permanenter Link
Da sie mit dem Konzept der Menschenwürde argumentieren, würde mich brennend interessieren, wie sie diese definieren. Was genau soll Menschenwürde sein und woher kommt sie?
SG aus E am Permanenter Link
Abgesehen von der Frage, woher die Beteiligten eigentlich immer so genau wissen, was die Personen im Cockpit vorhaben – vielleicht ist es ja weise, wenn man den Staat nicht ausdrücklich ermächtigt, Menschen abzuschieß
Ähnlich verhält es sich beim sog. finalen Rettungsschuss, den man auch gezielten Todesschuss nennen könnte: „Vor allem jedoch ist umstritten, ob überhaupt ein Bedarf für eine positiv-rechtliche Normierung des tödlichen Rettungsschusses besteht (da Notwehr und Notlage zum Schutze der körperlichen Unversehrtheit des Polizisten und von Dritten praktisch unbestritten sind), sowie inwieweit eine solche über Notwehr und Notstand hinausgehende Regelung überhaupt zulässig und rechtspolitisch erwünscht ist.”(2)
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(1) https://www.buzer.de/gesetz/4671/al59630-0.htm (§14 LuftSiG, alte und neue Fassung im Vergleich)
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Finaler_Rettungsschuss#Kritik
Eugen Grünberg am Permanenter Link
Spätestens, wenn mir der Geiselgangster als "Antwort" auf den ihm drohenden Todesschuss, pardon, finalen Rettungsschuss, einen Sprengsatz mit Totmannschaltung verpasst (gab es schon bereits!), erweist sich d
Hierzulande soll man in dunklen Gassen lieber nicht allzu viel Geld dabei haben. In Südamerika ist hinreichend viel Bargeld bei sich hingegen die Versicherungspolice für Leib und Leben! Dort wird eben viel mehr auf Sicherheitsorgane und Waffen gesetzt. Mehr Sicherheit zeitigt das nicht, nur mehr Gewalt.
Klaus Bernd am Permanenter Link
„Rückkehr zum archaischen Prinzip des kleineren Übels“
Man könnte auch sagen: Rückkehr zum intuitiven Prinzip des kleineren Übels.
„... wenn... vom Rettungszweck bestimmtes Handeln unter den gegebenen Umständen das einzige Mittel darstellt, noch größeres Unheil für Rechtsgüter von höchstem Wert zu verhindern…“
Mehrere (Gedanken-)Experimente haben bestätigt, dass dies auch der intuitiven Ethik der meisten Menschen entspricht. Dass also beim Schutz gleichrangiger Rechtsgüter, die größere Anzahl der Personen, denen dieses Rechtsgut zukommt, notgedrungen entscheiden sollte. Wobei eine andere Entscheidung jedoch nicht als schuldhaft angesehen wird.
Allein das würde dem Urteil des BVG widersprechen. Es wird jedoch noch eine weitere wichtige Unterscheidung angeführt: der Begriff der Gefahrengemeinschaft. Im oben behandelten ursprünglichen Dilemma wird eine (deutlich) geringere Anzahl von eigentlich unbeteiligten Personen geopfert, im Fall einer terroristischen Flugzeugentführung, ist aber selbst die Minderheit von Juristen, die der obigen Auffassung nicht zustimmt, der Meinung:
„...Eine Mindermeinung sieht dies anders:[14] Der übergesetzliche Notstand greife hier nicht, weil keine Gefahrengemeinschaft vorliege. Es würden – im Gegensatz z.B. zum Abschuss eines von Terroristen gekaperten Flugzeuges – bisher ungefährdete Personen getötet…“
Indem es diesen realistischen Begriff der Gefahrengemeinschaft offenbar nicht berücksichtigt, fällt das BVG hinter, bzw. unter, die bisherige Rechtsauffassung zurück.
Bei aller Unsicherheit der Lagebeurteilung könnte es u.U. sehr wahrscheinlich sein, dass sowohl die Insassen des Flugzeugs als auch die Menschen im Stadion ums Leben kommen.
Ich sehe hier das gleiche rein theoretische, ideologische bzw. theologische Konzept „des Lebens“ am Werk wie beim Thema Abtreibung. Wie richtig bemerkt: „Was außen vor bleibt, ist die schlichte Tatsache, dass auch der Entschluss, eine Aktion nicht durchzuführen, eine bewusste Entscheidung darstellt.“ Und es ist in beiden Fällen „nicht nur lebensfremd, sondern auch massiv menschenverachtend.“
Björn Jagnow am Permanenter Link
"Der Entschluss, aus vermeintlich ethischen Gründen auf einen Abschuss des Verkehrsflugzeugs zu verzichten, verletzt ebenfalls das grundgesetzlich geschützte Recht auf Leben, in diesem Fall für die Stadionbesuche
Ein Unterschied besteht noch in der Wahrscheinlichkeit. Der Abschuss eines Flugzeugs führt zwingend zu Toten. Der Anschlag auf das Stadion ist aber nur zu erwarten. Er ist wahrscheinlich, aber nicht zwingend. (Und wenn das Flugzeug dicht genug ans Stadion herankommt, dass der Anschlag zwingend wird, lässt er sich auch durch Abschuss wohl nicht mehr verhindern.)
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Ja, es ist ein Frage von Wahrscheinlichkeiten.
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Ich schätze, diese Wahrscheinlichkeit tendiert gegen Null. Bei 9/11 sind sämtliche Passagiere der vier Flugzeuge gestorben, ohne dass die Ari Force eingegriffen hätte. D. h. die Insassen wäre so oder so zum Tode verurteilt.
Der Unterschied ist: Wenn der Staat sich die Hände nicht schmutzig macht und den Tod allein durch die Selbstmordattentäter verursachen lässt, dann macht er sich am vielfältigen Tod von Menschen schuldig, die in keinerlei Gefahr schweben und deren Überlebenschance beim Eingreifen des Staates bei 100 % liegt...
Thomas R. am Permanenter Link
"Wenn das Flugzeug nicht abgeschossen werden darf, ist der Tod einer erheblich größeren Zahl an Opfern durch den Absturz im Stadion hinzunehmen."
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"Was außen vor bleibt, ist die schlichte Tatsache, dass auch der Entschluss, eine Aktion nicht durchzuführen, eine bewusste Entscheidung darstellt."
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Korrekt, die strunzbanale ethische Äquivalenz von Tun und Unterlassen...
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"Möglicherweise ist hier die Rückkehr zum archaischen Prinzip des kleineren Übels die einzig wirklich ethische Entscheidung."
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Ohne den geringsten Zweifel. Und dieses Prinzip ist keineswegs "archaisch", sondern entspricht voll und ganz dem Zweck der Ethik.
David Z am Permanenter Link
Seit wann ist das BVerfG für ethische Fragen zuständig?
Konrad Schiemert am Permanenter Link
Eine ähnliche Frage gibt es auch bei selbstfahrenden Autos. Wie muss sich der Autopilot in eine Konfliktsituation verhalten?
Adam Sedgwick am Permanenter Link
Lieber Konrad,
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Ich fürchte nur, dass nach einigen Jahrzehnten autonomer Autos die Fahrpraxis so im Keller ist, dass man nicht mal mehr weiß, was man machen soll. Von schnellem - und richtigem - Handeln ganz abgesehen.
Konrad Schiemert am Permanenter Link
Irgendwann werden die selbstfahrende Autos tatsächlich selbst fahren. Sonst lohnt sich die ganze Entwicklung kaum.
Klaus D. Lubjuhn am Permanenter Link
Ethische Entscheidung in einer Dilemma- Situation -
Ist Unterlassung genauso zu bewerten wie aktives Handeln?
Im akuten Anwendungsfall wird das Urteil Beachtung finden, es gilt als verbindliche Leitlinie für Politik und Gerichte. Dabei ist aber ebenfalls seine Wirkung auf und in der Öffentlichkeit zu bedenken, nicht zuletzt - in einem pragmatischen Sinne - auf potentielle Attentäter.
Nimmt man diesen für das BVerfG wichtigen Aspekt in den Fokus, wird die ethische Ebene im engeren Sinne verlassen, auch die richterliche, zugunsten präventiver Schadens-
verhütung und Sorge um das Gemeinwohl.
Statt also zuvorderst ethische Stringenz und Widerspruchsfreiheit anzustreben, die Dilemmata ohnehin nicht zulassen, geht es hier im Kern um etwas ganz anderes.
Warum also nicht erst einmal hohe Sicherheitsstufen gegenüber Flugzeugentführungen aufbauen, begleitet von einem hohen Abschreckungspotential für potentielle Attentäter?
In der Konsequenz bedeutet diese Herangehensweise im akuten Ernstfall robuster Einsatz von Sicherheitskräften in der Luft und am Boden.
Von der dilemmatischen Entscheidungslage her ein Mogadischu - Fall, der sich weder an ethischer Perfektion ausrichten lässt noch an einwandfreier justiziabler Norm.
Ethik bietet Entscheidungshilfe, aber nicht die Entscheidung selbst.
Das BVerfG ist gut beraten, sich den typischen Ambivalenzen ethischer Dilemmata angesichts von Terror und Attentaten zu stellen.
In der akuten Entscheidungssituation wird die Exekutive anhand der gegebenen Erkenntnisse ihr Handeln nach einer erfolgsorientierten Ethik zur Rettung von Menschenleben ausrichten, die nicht den Buchstaben der BVerfG - Entscheidung folgen wird. Deshalb muss der ethische Sinn solcher Entscheidungen im Vordergrund stehen.
Adam Sedgwick am Permanenter Link
Eigentlich wurde doch genau dieses Thema vor zwei Jahren, glaube ich, in einem Fernsehspiel thematisiert. Natürlich darf das Flugzeug nicht abgeschossen werden! Art. 1 und 2 GG.
Also das Problem der Entscheidung zwischen einem großen und einem kleinen Übel gibt es nicht: Übel ist immer ein Übel. Hannah Arendt hat sich genau zu dieser Frage geäußert in ihrem Buch: "Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur".
Roland Weber am Permanenter Link
Wenn es um Rechtsfragen geht, ist schon per se nichts "natürlich". "Recht" ist eine durch die Legislative vorgegebene Sachlage und nichts Natürliches.
Dass es sich gar nicht um eine Rechtsfrage handelt bzw, handeln kann, da nichts vor einem Ereignis tatsächlich gewichtet werden kann, wie ich in meinem Beitrag versucht habe darzulegen, hat offensichtlich keiner der Kommentatoren wirklich verstanden! Vermutlich hilft da auch kein wiederholtes Lesen!
Adam Sedgwick am Permanenter Link
Gut, ich bin kein Jurist, sondern Naturwissenschaftler, daher hat der Begriff "natürlich" für Naturwissenschaftler nichts Schwammiges an sich, sondern bedeutet nur, dass es einen immerwährenden, zumindest of
Martin am Permanenter Link
Das Töten unschuldiger Menschen gegen deren Willen durch staatliche Instanzen zugunsten eines "höheren Guts" (hier: Leben anderer unschuldiger Menschen) kommt mir nicht wie eine ethische Entscheidung vor.
…Eugen Grünberg am Permanenter Link
Selbsternannte Lebensschützer bringen einen Abtreibungsarzt um, um eine viel größere Anzahl an "Menschenleben" "retten" zu wollen. "Die Partei" konstatiert: "Nazis töten".
Die Wirklichkeit sieht aber immer etwas anders aus als der Patriotenfilm aus Trumps Videothek uns weismachen will!
Oberst Klein wollte auch den ganz großen Kriegshelden spielen. Am Ende war sein Töten furchtbar und "verhindertes Leid" (um jeden Preis)? Pustekuchen!
Das BVG-Urteil erweist sich immer noch als richtig und wegweisend gegen vermeintlich einfache Antworten und Skrupellosigkeit.
"Der Mensch gehört sich selbst, ungefragt, ohne Widerspruch".
Siehe auch die Klarstellung des Ethikrates, wonach nicht einfach jemand von der Beatmung "genommen" werden kann: das bleibt vorsätzliches Töten!
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Ich halte Ihre Einschätzung für sehr einseitig und um "saubere Hände" bemüht. Doch Nichtstun erzeugt u. U. auch schmutzige Hände.
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Nach ihrer Logik dürfte man Menschen nicht davon abhalten, anderen Leid zuzufügen. Es hätte ja sein können, Hitler besinnt sich eines Besseren und öffnet am Tag nach einem Attentat die Pforten der KZs und beendet den Weltkrieg. Ja, das alles könnte sein. Aber niemand kennt die Zukunft mit Gewissheit und trotzdem müssen wir auch vorsehen, sonst haben wir immer das Nachsehen. D. h. Verantwortung auch für andere übernehmen. Unter Umständen mit schrecklichen Konsequenzen, mit nagender Ungewissheit, mit Zweifeln und Schuldgefühlen.
Es ist eine Entscheidung zwischen Cholera und Pest. Aber vielleicht ist es menschlich, sich nach dem Absturz des Flugzeuges ins Stadion die Hände in Unschuld zu waschen. Man hat ja nichts getan...
Eugen Grünberg am Permanenter Link
Wer A sagt, muss nicht auch B sagen. Er kann auch erkennen, das A falsch war. Lever dood as Slaav wussten schon die alten Friesen, in dubio pro reo die Antike.
„Aus aktiv betriebenen Tötungen ergibt sich ein Konflikt“: Heureka! Der bloße body count kann dabei der Sache nicht gerecht werden, es kommt auch und gerade auf die Maxime des Handelns an. Der Staat darf nicht Passagiermaschinen abschießen, eigentlich sonnenklar. Auch wenn Militärs und Utilitaristen mit kruden Konstruktionen etwas anders schmackhaft machen wollen, um zum Schuss zu gelangen. Die Menschenwürde scheint für sie Terra incognita wenn nicht Feindesland zu sein.
Der Ausweg kann anstelle sich leicht selbst erfüllender Prophezeiungen heraufbeschworener Katastrophen wohl nur sein, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen. Solch vorausschauende Fahrweise sollte aber doch Aufgabe eines sozialen Rechtsstaats sein! Anstelle etwa die Intensivstationen überlaufen zu lassen, um dann schadenfroh selektieren zu dürfen.
Das Luftgangstergesetz wurde übrigens auf Betreiben von Bürgerrechtspolitikern gekippt. Das Urteil wird wohl auch weltweit manch Oppositionellen gefreut wie einige Militärdiktatoren und Autokraten mächtig geärgert haben. Gut so! Indessen hat es aber auch mit zu einem friedlichen Sommermärchen 2006 beigetragen - anstelle der von interessierter Seite anvisierten Militärfestspiele. Und sowohl die Flugpassagiere als auch die Stadionbesucher überlebten dabei alle!
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Das ist die Theorie. Eine schön Theorie.
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Und in diesem Fall überleben weder die Passagiere noch die Stadionbesucher, wenn nicht gehandelt wird. Um dieses Handeln geht es. Das richtige Handeln. Das Handeln, das das geringstmöglich Leid produziert. Das ist für mich nicht: Lasst die Attentäter ziehen. Sie werden hoffentlich das Ziel verfehlen.
Vielleicht wäre eine Alternative - als präventive Maßnahme - eine Fernsteuerung in Flugzeuge einzubauen, mit der - ohne Eingriffsmöglichkeit durch das Cockpit - das Flugzeug sicher auf einem Airport gelandet werden kann. Doch wo solches möglich ist, sind auch die Hacker nicht weit. Dann bräuchten die Attentäter nicht mal ins Flugzeug einsteigen. Es bleibt also schwierig...
Eugen Grünberg am Permanenter Link
Etwas möglicherweise nicht verhindern zu können, ist immer noch besser, als selbst zu foltern oder vorsätzlich zu töten - und insbesondere, als Staat dabei gegenüber dem Bürger ethische Prinzipien wie eben die Mensche
Im übrigen: einfach einmal den Urteilstext lesen und verstehen.