Ethik im Grenzbereich

Töten, um Leben zu retten

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Im Luftsicherheitsgesetz der Bundesrepublik Deutschland existierte bis 2006 ein Passus, der den Abschuss eines voll besetzten Verkehrsflugzeugs erlaubte, wenn dadurch eine noch größere Katastrophe – in juristischem Deutsch ein "besonders schwerer Unglücksfall" – verhindert werden kann. Dem schob das Bundesverfassungsgericht einen Riegel vor. Eine Entscheidung, die dem Problem nicht in vollem Umfang gerecht wird.

Ein besonders schwerer Unglücksfall im Kontext des Gesetzes wäre beispielsweise der Einsatz des Flugzeugs als Waffe durch Terroristen, die es in einem voll besetzten Sportstadion zum Absturz bringen wollen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erklärte die im Gesetz enthaltene Abschussermächtigung als mit dem Grundgesetz unvereinbar und daher nichtig – aus zwei Gründen.

Die eher formaljuristische Begründung lautet, dass die Bundeswehr nicht zur Bekämpfung von Bedrohungen im Inland zum Einsatz kommen dürfe, und wenn doch, dann nur unter besonderen, vom Bundestag festgelegten Bedingungen. Alleine diese Begründung reicht aus, um eine ethische Richtlinie durchzusetzen: Wenn das Flugzeug nicht abgeschossen werden darf, ist der Tod einer erheblich größeren Zahl an Opfern durch den Absturz im Stadion hinzunehmen.

Objektiv betrachtet, erscheint diese Begründung vorgeschoben, um sich durch Heranziehung eines übergeordneten Rechtsgrundsatzes vor der eigentlichen ethischen Bewertung zu drücken. Das Gericht hätte sich in diesem Zusammenhang ja auch mit Ausnahmeregelungen in Extremfällen beschäftigen können. Der Blick auf das Inlandsverbot der Bundeswehr führt nicht weit: Was, wenn eine speziell dafür gegründete und mit entsprechenden Waffensystemen ausgestattete Einsatzgruppe der Polizei oder des BKA den Abschuss durchführt?

Am Ende kommt es auf die Ethik an

Das führt zur zweiten Begründung des BVerfG für die Ungültigkeit der Abschussermächtigung. Das Gericht stellt die Unvereinbarkeit mit dem Recht auf Leben nach Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 im Grundgesetz in den Vordergrund. Das provoziert die unwillkürliche Gegenfrage des Rechtslaien: Und was ist mit den Leben der Menschen im Sportstadion?

Wie nicht anders zu erwarten, hält das Urteil des BVerfG darauf eine Antwort bereit: Der Abschuss des Flugzeugs erniedrigt Passagiere und Besatzung zu bloßen Objekten von Tätern und Staat gleichermaßen, da sie der Abwendung einer Katastrophe geopfert werden sollen. Das gilt insbesondere für die Personen, die an dem Attentat nicht beteiligt sind. Im Urteil heißt es dazu:

"Die einem solchen Einsatz ausgesetzten Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden sich in einer für sie ausweglosen Lage. Sie können ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen."

Der ethische Grundsatz, der dieser rechtlichen Bewertung zugrunde liegt, beschreibt den Konflikt, der sich aus aktiv betriebenen Tötungen ergibt. Demnach hat der Mensch nicht das Recht, andere Menschen zu töten, und sei es auch, um andere zu retten. Insbesondere dürfen Opferzahlen nicht gegeneinander aufgerechnet werden, was für den Abschuss sprechen würde. Im Fall Flugzeug gegen Sportstadion erwächst aus dieser Haltung allerdings ein gewaltiger Pferdefuß, den das BVerfG offensichtlich nicht berücksichtigt hat.

Das Urteil beschäftigt sich mit bewussten Entscheidungen, die zum Tod von Menschen führen können. Was außen vor bleibt, ist die schlichte Tatsache, dass auch der Entschluss, eine Aktion nicht durchzuführen, eine bewusste Entscheidung darstellt.

Das Votum gegen den Abschuss führt zu den exakt gleichen Konsequenzen wie die Entscheidung dafür, diesmal allerdings für die Menschen im Sportstadion. Die bewusste Unterlassung bringt nun die Menschen im Stadion in eine ausweglose Lage und macht sie zu Objekten.

Der Entschluss, aus vermeintlich ethischen Gründen auf einen Abschuss des Verkehrsflugzeugs zu verzichten, verletzt ebenfalls das grundgesetzlich geschützte Recht auf Leben, in diesem Fall für die Stadionbesucher. Hinzu kommt, dass diese Entscheidung noch nicht einmal die Rettung von Menschen zum Ziel hat, denn im Katastrophenfall kommen ein Großteil der Menschen im Stadion und im Flugzeug zu Tode. Es scheint lediglich um die Befolgung eines scheinbar ethischen Prinzips zu gehen, ohne Rücksicht auf Menschenleben. Unter diesem Aspekt erscheint das Urteil des BVerfG nicht nur lebensfremd, sondern auch massiv menschenverachtend.

Was bleibt? Vielleicht die Erkenntnis, dass jedes Gericht seine juristische Autorität verliert, wenn es keine explizit richtige oder falsche Entscheidung gibt. Möglicherweise ist hier die Rückkehr zum archaischen Prinzip des kleineren Übels die einzig wirklich ethische Entscheidung.

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