Interview: 70 Jahre Bundesverfassungsgericht

Der Respekt, der dem Bundesverfassungsgericht entgegengebracht wird, ist einmalig

Das Bundesverfassungsgericht konnte vergangenen Monat sein 70-jähriges Bestehen feiern. Darauf blickt eine Dokumentation von Arte und ZDF. Arte sprach mit Regisseur Jakob Preuss über seinen Film.

Arte: Am 7. September 1951, also vor genau 70 Jahren, wurde das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gegründet – von der Politik oft kritisiert, von den Bürgern geschätzt. Es kann Gesetze kippen, die nicht mit dem Grundgesetz übereinstimmen und mischt sich oft in gesellschaftliche Debatten ein. Die Geschichte des Bundesverfassungsgerichts und seiner bahnbrechenden Urteile erzählt die Arte-Dokumentation "Auftrag Gerechtigkeit – Wie viel Macht hat das Bundesverfassungsgericht?" von Jakob Preuss. Und Jakob Preuss begrüße ich nun am Telefon: Hallo, Herr Preuss!

Jakob Preuss: Hallo.

Herr Preuss, 70 Jahre ist es genau her, dass das Bundesverfassungsgericht gegründet wurde. Wie kam es dazu und was sind genau die Aufgaben dieses Gerichtshofs in Karlsruhe?

Das Bundesverfassungsgericht war sicherlich auch eine Antwort auf das, was im Dritten Reich passiert ist. Es prägt deutlich die Ansprüche von "Nie wieder", dass man ein Gericht haben wollte, das wirklich mit sehr weitreichenden Kompetenzen ausgestattet war, hauptsächlich um Grundrechte durchzusetzen. Die Grundrechte wurden ja auch ganz an den Anfang der Verfassung geschrieben. Daneben war es natürlich auch ein Staatsgerichtshof, das Demokratiegericht, was also, wenn es Probleme zwischen den Institutionen, zwischen den verschiedenen Organen – Parlament, Regierung usw. – geben sollte, richten kann.

Was war denn das erste wichtige bahnbrechende Urteil, das Karlsruhe gefällt hat?

Das ging gleich ganz früh los mit einem Urteil, da waren die noch gar nicht richtig in der Sitzung, da ging es um die Zusammenlegung von Bundesländern. Da gab es Baden-Württemberg noch gar nicht. Das war sicherlich schon nicht unwichtig. Dann war noch sehr wichtig – das war gar kein Urteil, das war ein Gutachten. Das gab es damals noch, dass man sich an das Bundesverfassungsgericht wenden konnte und ein Gutachten erstellen lassen konnte, ob etwas verfassungsgemäß ist oder nicht. Die Adenauer-Regierung, die Deutschland wiederbewaffnen wollte, was ein sehr umstrittenes Thema war nach dem Zweiten Weltkrieg, hatte dieses Gutachten in Auftrag gegeben, in der Hoffnung, dass sie das abnicken würden, weil Herr Adenauer gerne in die europäische Verteidigungsgemeinschaft wollte. Und das Verfassungsgericht hat aber gesagt: "Nein, das ist verfassungswidrig." Das war es damals. Die Verfassung musste geändert werden dazu, dass Deutschland wieder eine Armee haben darf. Das war sicherlich 1953 ein ganz, ganz wichtiges Urteil.

Dann gab es viele Urteile im Grundrechtsschutz. Ganz wichtig: Der Stichentscheid, dass also Väter nicht das letzte Wort haben dürfen in der Kindererziehung. Das war natürlich klar nach Artikel 3 Gleichheitsgrundsatz eigentlich mit der Verfassung nicht vereinbar, aber mancher hat immer noch gesagt: "Naja, irgendwie muss es ja entschieden werden." Das sind so ganz wichtige Leuchtturm-Urteile. Im Film machen wir ja gar nicht so viel die Geschichte der alten Urteile, sondern wir gucken uns ja wirklich die gesellschaftspolitischen Debatten an, die heute eigentlich das Bundesverfassungsgericht mitbestimmt.

Damals wie heute ist es wirklich ja nicht so einfach, solche grundsätzlichen Urteile zu fällen. Wie wurden und werden denn die Richterinnen und Richter ernannt?

Das hat sich eigentlich in den 70 Jahren gar nicht großartig geändert. Die Richter und Richterinnen werden im Wechsel vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt. Was ganz wichtig ist, anders als zum Beispiel in den USA: Es bedarf einer Zweidrittel-Mehrheit. So, dass also nicht eine Partei (das haben wir in Deutschland ja sowieso selten, dass man die absolute Mehrheit hat, das kam ja nur einmal vor), aber auch eine Koalition, die nur knapp über 50 Prozent hat, kann nicht einen Richter oder eine Richterin wählen. Dafür braucht man eine Zweidrittel-Mehrheit. Es gibt also einen langen Prozess der Verhandlung, sozusagen. So steht es im Gesetz.

Informell hat sich herauskristallisiert, dass die größeren Parteien, die man für die Zweidrittel-Mehrheit braucht, ein Vorschlagsrecht haben und dass sich abwechselnd – also mal die CDU, die SPD, jetzt auch die Grünen, es gibt auch einen von der FDP – die werden also wirklich von den Fraktionen nominiert. Sie müssen aber keine Parteimitglieder sein. Da gibt es aber schon Leute, die das kritisieren, weil eine gewisse Zugehörigkeit oder eine gewisse Nähe zu einer Partei haben die Richterinnen und Richter dann schon.

Wollte ich gerade sagen – wie groß ist denn bei diesem Berufungsverfahren trotzdem das Risiko politischer Einflussnahme durch das Bundesverfassungsgericht?

Ja, das ist natürlich ganz klar und jeder weiß, die Entscheidungen, die das Bundesverfassungsgericht trifft, haben großen politischen Einfluss. Sie sind sicherlich auch politischer als jetzt Urteile eines Zivilgerichtshofes, weil es ist nun mal keine Mathematik. Es ist nicht so klar abzugrenzen. Politische Überlegungen fließen mit ein, obwohl die Richter und Richterinnen natürlich immer ganz stark herausstreichen: "Nein, nein, wir sprechen Recht." Aber da sind die Übergänge fließend. Ich glaube, was wichtig ist, ist, dass es transparent ist. Es war lange etwas intransparent, weil wirklich nur ein kleiner Ausschuss im Bundestag gewählt hat und gar nicht das Plenum und die Richter und Richterinnen sich also auch nicht dem Plenum vorgestellt haben. Das wurde unter Norbert Lammert, der das sehr vorangetrieben hat, jetzt geändert.

Es ist aber immer noch so, dass zum Beispiel der jetzige Präsident des Bundesverfassungsgerichts lange selber Abgeordneter der CDU im Bundestag war und da gibt es Leute, die das sehr stark kritisieren. Es gibt andere, die sagen, es ist gut, auch Politiker und Politikerinnen zu haben, weil sie den Betrieb dort kennen. Herr Voßkuhle hat gesagt: "Die Dosis macht das Gift." Wenn es zu viele sind, dann ist es schlecht. Viele kommen ja auch eher aus akademischen Berufen usw. Was wichtig ist: Sie sind für zwölf Jahre gewählt, dann nur noch Verfassungsrichter und -richterinnen, sie haben nichts zu verlieren. Sie müssen nicht wiedergewählt werden. Sie können nicht wiedergewählt werden. Dadurch kann man, glaube ich, schon sagen, dass es eine große Unabhängigkeit gibt.

"Kann das Bundesverfassungsgericht so etwas wie Unrecht sprechen?"

Im April dieses Jahres hat das Bundesverfassungsgericht das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung für verfassungswidrig erklärt. Wie kam es denn dazu?

Das ist natürlich eine spannende neue Entwicklung: Ist so etwas wie Klimaschutz wirklich etwas, was man rechtlich sozusagen einfordern kann? Gibt es Grundrechte? Es gibt ja diesen Hashtag "#RechtAufZukunft" – wo man sagen kann: Wir zwingen die Regierung zu handeln oder die Gesetze zu ändern und da hat das Bundesverfassungsgericht zwar klar gesagt: Es gibt jetzt kein Recht auf Zukunft. Man kann jetzt nicht sagen: Ich muss in 30 Jahren auch noch gesund sein können usw.

Aber wie das Klimaschutzgesetz gemacht wurde – das war nach den eigenen Zielen der Bundesregierung in einer Weise gemacht, dass es zukünftige Generationen beziehungsweise Menschen, die in zehn Jahren noch leben, deutlich benachteiligt, weil sie viel weniger Möglichkeiten haben werden, CO2 zu konsumieren und im Moment ist CO2-Ausstoß eben auch eine Freiheit, weil Reisen geht nun mal nicht anders und vieles, was wir so tun. Und dadurch hat das Bundesverfassungsgericht eine große politische Einflussnahme genommen. Das kann man natürlich begrüßen, es ist aber in dieser Debatte, wie politisch ein Gericht sein darf, auch kritisierbar.

Gab es in der Geschichte des Gerichts massive Fehlurteile?

Das ist ja fast eine philosophische Frage: Kann das Bundesverfassungsgericht so etwas wie Unrecht sprechen? Das ist in unserem Film doch ein starkes Kapitel geworden, weil mir das wichtig war, weil ich ganz ehrlich zugeben muss, dass ich das Gefühl hatte, dass das etwas unter den Teppich gekehrt wird. Ich hatte selbst davon noch gar nicht gehört. Das ist das Urteil zum Paragrafen 175 des Strafgesetzbuches, der noch (…) bis in die frühen 70er Homosexualität unter Strafe gestellt hat – interessanterweise nur männliche Homosexualität, was natürlich dann unter dem Gleichheitsgrundsatz auch etwas merkwürdig war – und das hat das Bundesverfassungsgericht 1957 und 1969 sogar auch nochmal als verfassungsgemäß gesehen und hat sich da doch sehr gewunden mit den Begründungen, warum das denn jetzt nicht vom Grundrechtsschutz und freier Entfaltung der Persönlichkeit usw. gedeckt sein kann. Und mittlerweile wurden die danach Verurteilten entschädigt. Heiko Maas, damals Bundesjustizminister, hat das als eklatantes Unrecht bezeichnet.

Deswegen würde ich sagen: Ja, natürlich, aus heutiger Sicht ein Fehlurteil, aber es ist natürlich eine interessante Debatte: Kann das Bundesverfassungsgericht, das höchste Gericht, eigentlich Unrecht sprechen? Ich glaube, wir können nur sagen, es ist nach heutiger Sicht absolut inakzeptabel. Aber Recht ist natürlich immer etwas, was in der Zeit gesehen werden muss und deswegen kann auch ein Gericht sozusagen Urteile fällen, die wir heute für absolut unverständlich halten.

Gibt es in Europa einen vergleichbaren Gerichtshof wie das Bundesverfassungsgericht?

Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat wirklich als Vorlage für manche gerade der jüngeren Demokratien gedient – gerade in Osteuropa, Russland hat sich sehr danach orientiert – aber keins ist so erfolgreich. Ich glaube, das ist nochmal etwas, was sehr spannend ist zu sehen. Denn auf dem Papier kann man natürlich alles Mögliche beschreiben und es gibt viele Kompetenzen auch in anderen Ländern, die die Gerichte haben. Aber der Respekt, der dem Bundesverfassungsgericht entgegengebracht wird, der ist glaube ich wirklich einmalig. Ein Gericht ist nur so gut, solange es akzeptiert wird. Wir sehen es in Ungarn und Polen, wo es auch ähnliche Mechanismen gibt, nicht ganz so viel Kompetenz, aber doch relativ starke – dass die dann beschnitten werden, oder die Urteile nicht mehr anerkannt werden. Teilweise vielleicht auch, weil sich die Gerichte selbst etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt haben. Sicherlich aber auch, weil es den Regierenden missfallen hat. Also, ich denke, es gab ähnliche Gerichte, aber es ist eine relativ einmalige Erfolgsgeschichte.

Im Film machen wir ja noch den Vergleich mit Frankreich: Ganz anders aufgestellt war da das Verfassungsgericht – es nannte sich auch Verfassungsrat, mussten noch nicht einmal Juristen sein. Da ist interessanterweise jetzt auch eine Tendenz dahin zu sehen, dass das Gericht mehr Einfluss hat in große politische Debatten, auch Einzug halten, auch von den Bürgern direkt angerufen zu werden.

Was wären denn Ihre persönlichen Wünsche, dem Bundesverfassungsgericht zum 70. Geburtstag?

Ich wünsche mir, dass das Bundesverfassungsgericht weiter diskret bleibt, wenn ich es mal so sagen darf. Das heißt, nicht die Öffentlichkeit mehr sucht als nötig. Das ist eine Tendenz, die man im Moment beobachtet, die ich für nicht ganz so förderlich halte. Natürlich leben wir in einer Welt, wo alles mediatisiert wird, wo alles auch sehr personalisiert wird. Das fand ich eine interessante Beobachtung: Viele meiner Bekannten und Freunde, die sich sehr für Politik interessieren, konnten mir keinen Namen eines Bundesverfassungsrichters oder einer Bundesverfassungsrichterin nennen – viele Urteile, kannten die Institution gut, aber die Personen dahinter verschwinden. Ich glaube, das ist eine Stärke des Gerichts und ich glaube, da sollte man nicht der Versuchung erliegen, da jetzt mitspielen zu wollen. Natürlich müssen Urteile erklärt werden, natürlich müssen die Menschen verstehen, was da passiert, aber eben nicht personalisieren, und auch nicht mehr die Öffentlichkeit suchen als wirklich nötig. Das wünsche ich dem Bundesverfassungsgericht.

Und dann hoffe ich, dass es auch in den nächsten 70 Jahren diese, meiner Ansicht nach doch sehr positive Rolle im Institutionengefüge spielen kann. Dass es den Menschen das Gefühl gibt: "Ich gehe bis nach Karlsruhe, denn in Karlsruhe erfahre ich Gerechtigkeit." Das ist ein ganz hohes Gut, dieses Vertrauen in diese Akzeptanz, die die Bevölkerung dem Bundesverfassungsgericht entgegenbringt. Und das wünsche ich: Dass es so bleibt.

Die Dokumentation "Auftrag Gerechtigkeit" ist in den Mediatheken von Arte und ZDF abrufbar.

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