Kommentar

1848 – Was war da noch?

Es stünde Österreich gut an, statt einer Glorifizierung der Habsburger Monarchie endlich jener zu gedenken, die als Erste für Demokratie und Grundrechte auf die Straße gingen.

Ein hierzulande vertrautes Ritual vor allfälligen Urnengängen besteht im Appell von Politiker *innen, bei aller Unzufriedenheit mit den Parteien dennoch zur Wahl zu gehen; das Wahlrecht sei ein hohes Gut, für das Menschen einst gekämpft hätten und gestorben seien und das es deshalb zu nutzen gelte. Der Hinweis, wer wo und wann gekämpft hat, wird dabei regelmäßig unterschlagen. Das mag an der Unwissenheit der politischen Repräsentanten liegen oder auch nur daran, dass man die potentielle Wählerschaft historisch nicht überfordern will. Vielleicht würde gezielte Aufklärung über die diesbezüglichen Hintergründe aber auch ein Bild ins Wanken bringen, das zum österreichischen Selbstverständnis gehört wie die Lipizzaner oder die Mozartkugel und das man deshalb stets neu bepinselt, anstatt einen Blick hinter die abblätternde Farbe zu werfen.

Einseitige öffentliche Darstellung der Habsburger Monarchie

Das erste Aufflackern der Demokratie-Bewegung führt zurück ins Jahr 1848 und somit in die Habsburger Monarchie. Man hat sich in Österreich daran gewöhnt, diese Herrschaftsform im Allgemeinen und Kaiser Franz Joseph I. im Speziellen grundsätzlich eine positive Beurteilung zukommen zu lassen. Der an einen gütigen Opa erinnernde Kaiser in schmucker Uniform, der die Donau-Monarchie so lange regiert hat und stets um seine Untertanen besorgt war ("es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut"), an seiner Seite die herzzerreißend süße Sisi, dieses Bild hat sich, gefördert durch Tourismus und Film, tief ins kollektive Gedächtnis gebrannt. Dass es dort bei jeder Generation neu entsteht, dafür sollen unzählige Denkmäler sorgen, die kreuz und quer über das Land verteilt sind, vom Wiener Burggarten über Bad Ischl bis in die kleinsten Dörfer, sodass sich eine unvorhergesehene Begegnung mit einem steinernen oder metallenen Franz Joseph kaum vermeiden lässt. Noch 1992 (!) wurde am Großglockner ein derartiges Denkmal errichtet, seither können sogar Steinböcke und Murmeltiere in eisigen Höhen den Kaiser mit Stutzen, Lederhosen und Gamsbarthut bestaunen.

Kurzes revolutionäres Frühlingserwachen

Im März 1848 entspricht Franz Joseph rein optisch sicher nicht den heute bekannten Darstellungen. Er zählt gerade mal siebzehn Jahre und ist auch noch nicht Kaiser. Auf dem Habsburger Thron sitzt sein Onkel Ferdinand, und der sieht dunkle Wolken am monarchistischen Horizont heraufziehen. In Frankreich hat der Gallische Hahn zum dritten Mal gekräht, und sein revolutionärer Weckruf fegt nicht nur in Paris erneut die Monarchie hinweg, sondern führt auch in Berlin und Wien zu Volkserhebungen und Barrikadenkämpfen. In der Hauptstadt des Habsburger Reiches fordern Bürgertum und Studenten eine parlamentarische Verfassung, Rede- und Pressefreiheit, die Aufhebung feudaler Strukturen sowie die soziale Besserstellung der Arbeiterschaft. Nach gewaltsamen Auseinandersetzungen, die erste Tote fordern, verspricht Kaiser Ferdinand die Ausarbeitung einer Verfassung. Diese legt er im Mai auch vor – aber die Enttäuschung ist groß, denn die Konstitution ist ohne Mitwirkung einer Volksvertretung zustande gekommen und schließt obendrein weite Teile der Bevölkerung vom Wahlrecht aus. Erneute heftige Proteste veranlassen den Kaiser zur Zurücknahme der Verfassung, außerdem genehmigt er die Wahl eines konstituierenden Reichstages. Die junge Demokratie-Bewegung hat ihren ersten Sieg davongetragen – aber der Triumph der Revolutionäre sollte nur kurz währen.

Als sich im Oktober desselben Jahres meuternde Truppen weigern, gegen die auf nationale Unabhängigkeit pochenden Ungarn in den Krieg zu ziehen, kommt es zur gewaltsamen Niederschlagung der Revolution durch Fürst Windisch-Graetz. Der lässt Wien von der kaiserlichen Armee unter Beschuss nehmen, wobei bis zu 2000 Freiheitskämpfer den Tod finden. Aber auch mit den Überlebenden kennt die Habsburger Monarchie keine Gnade: Standgerichte fällen Todesurteile, eines der prominentesten Opfer der kaiserlichen Politjustiz wird der deutsche Abgeordnete der Frankfurter Paulskirchenversammlung, Robert Blum. Er fällt trotz seiner parlamentarischen Immunität unter den Kugeln eines Exekutionskommandos – Soldaten besiegen Demokraten.

Idealtypus eines Reaktionärs

Für all das trägt Franz Joseph keine direkte Verantwortung, er war ja damals noch nicht Kaiser. Allerdings darf man getrost davon ausgehen, dass die Niederschlagung der Revolution seine volle Zustimmung fand. Wessen Geistes Kind er war, erschließt sich trefflich, als er 1863 Fürst Windisch-Graetz, den Schlächter von Wien, in die Liste "berühmter und zur immerwährenden Nachahmung würdiger Kriegsfürsten" aufnehmen lässt.

Als Franz Joseph im Dezember 1848 nach dem Rücktritt seines Onkels Ferdinand den Thron besteigt, erhebt er "Viribus unitis" zu seinem Leitspruch, "Mit vereinten Kräften". "Gegen Demokratie und Bürgerrechte" mag er gedanklich hinzugefügt haben, denn er löst umgehend den mit einem Verfassungsentwurf betrauten Reichstag auf und beschließt selbst eine Verfassung, die "Oktroyierte Märzverfassung". Laut der steht die Gesetzesinitiative auch dem Kaiser zu, außerdem besitzt er ein absolutes Vetorecht gegenüber Beschlüssen des Parlaments, das er jederzeit auflösen kann. Die Regierung, der Reichsrat, wird vom Kaiser ernannt und auch wieder entlassen, hat aber sowieso nur beratende Funktion. Im Grunde hätte Franz Joseph auch einen Zettel vorlegen können mit der Aufschrift: "Ich frag' euch zwar um eure Meinung, aber entscheiden dürft's nix".

Was aber ist aus Sicht eines absoluten Monarchen noch besser als eine undemokratische Verfassung? Richtig, gar keine Verfassung! Also macht Franz Joseph seinem Volk zum Jahreswechsel 1850/51 ein Neujahrsgeschenk in Form des "Silvesterpatents" und hebt seine eigene Verfassung wieder auf. Fortan wird ihm kein Parlament das Regieren erschweren, werden keine lästigen Untertanen auf ihre Grundrechte pochen. Der Neoabsolutismus wirft seine düsteren Schatten auf Österreich, und als Draufgabe schließt der Kaiser 1855 noch ein Konkordat mit der katholischen Kirche ab, das ihr die alleinige Zuständigkeit für das Schul- und Ehewesen überträgt. Das hat der Kaiser bestimmt sehr schön gefunden und es hat ihn auch sicher sehr gefreut, konnte die Kirche doch mit ihrem staatspolitischen Credo "der Obrigkeit schuldest du Gehorsam, denn die Obrigkeit kommt von Gott" Generationen von obrigkeitshörigen Untertanen heranziehen. Kardinal Rauscher, der an der Ausarbeitung des Konkordats beteiligt war und nach dem heute noch die "Rauscherstraße" in Wien benannt ist, bezeichnete die Zivilehe übrigens als "sündhaftes Konkubinat". Die Befürchtungen des Steinzeitklerikalen erwiesen sich indes als unbegründet, Franz Joseph konnte sich zeitlebens nicht zur Einführung der Zivilehe durchringen. Die wurde in Österreich erst 1939 zugelassen.

Wesentliche Verbesserungen brachte auch die Verfassung von 1867 nicht. Eine der beiden Kammern des Parlaments, das "Herrenhaus" – welch verräterische Bezeichnung! – war ausschließlich für vom Kaiser ernannte Fürsten, Bischöfe und Oberhäupter von Adelsfamilien vorgesehen, die Sitze im Herrenhaus waren teilweise sogar vererbbar. Eine gewisse Logik kann man Franz Joseph dabei nicht absprechen: Wenn die Erbfolge schon für den Thron gilt, warum nicht auch gleich fürs halbe Parlament? Ist immerhin weniger umständlich als Wahlen. So blieb es schließlich bis zum Ende der Monarchie 1918.

Vergessene Revolutionäre

Gemessen an seinem Herrschaftsverständnis verkörpert Franz Joseph I. den Idealtypus eines Reaktionärs, der das Rad der Zeit zurückzudrehen versuchte, wann immer es ihm möglich war. Demokratie und Parlamentarismus ließ er nur so weit zu, wie sie seine absolute Macht nicht einschränkten, seine Legitimation als Herrscher leitete er nicht vom Volk, sondern von Gott ab. Doch während über den Revolutionären von 1848 der Mantel des Vergessens liegt, ist Franz Joseph I. noch heute gleichsam eine omnipräsente Lichtgestalt. Sogar im Bundeskanzleramt, einer Herzkammer der Republik, hängt ein Porträt des Kaisers! Dieser Umstand muss sogar überzeugten Monarchisten Anlass zur Sorge geben, denn in derart vom Geist der Demokratie geschwängerten Räumlichkeiten hätte sich Franz Joseph sicher nicht wohlgefühlt. Einen vergleichbaren historischen Personenkult gibt es nur noch in Frankreich, dort ist die "Marianne" – die Symbolfigur der Republik, eine junge Frau mit Tunika und Jakobinermütze – in allen Rathäusern und auf zahlreichen Plätzen zu finden. "Marianne" gibt aber nicht nur optisch eine andere Erscheinung ab als ein reaktionäres Relikt in Gala-Uniform, sie verkörpert auch andere Werte: Freiheit, Gleichheit, Widerstand gegen eine autoritäre Obrigkeit und die Trennung von Staat und Kirche – essentielle Merkmale einer Demokratie und somit den Gegenentwurf zum Weltbild des ehemaligen österreichischen Kaisers.

Um Missverständnisse auszuschließen: Auch in anderen europäischen Staaten wurden die bürgerlich-liberalen Revolutionen niedergeschlagen, versuchten die Herrscher eine Wiederherstellung der alten Ordnung. Aber in diesen Ländern kam es nicht zu einer Glorifizierung der ehemaligen Herrscher, vielmehr erhält man das Gedenken an die Vorkämpfer für Demokratie und Grundrechte aufrecht. Frankreich, das seine erste erfolgreiche Revolution schon lange vor 1848 vollzog, erklärte den Jahrestag des Sturms auf die Bastille zum Nationalfeiertag. In Berlin erinnert der zentral gelegene "Platz des 18. März" beim Brandenburger Tor an die Gefallenen der Märzrevolution.

Zwar gibt es auch in Wien eine "Märzstraße", aber wer denkt dabei schon an 1848? Und das Denkmal für die Opfer der Märzrevolution am Zentralfriedhof ist wohl nur Eingeweihten bekannt. Es mangelt an Hintergrundwissen, es fehlt aber auch die Bereitschaft, sich kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Gegenüber der nostalgisch-verklärten Kaiserdiktatur besteht in Österreich immer noch eine irrationale Beißhemmung.

Hier müssten die fortschrittlichen politischen Parteien für Aufklärung sorgen: durch Förderung von Ausstellungen, dem Abhalten von Gedenkveranstaltungen und der Berücksichtigung des Jahres 1848 bei der Benennung von Straßen und Plätzen.

Es ist hoch an der Zeit, die Glorifizierung der Habsburger Monarchie zu überwinden und endlich jener zu gedenken, die hierzulande als Erste für Demokratie und Bürgerrechte kämpften – der Revolutionäre von 1848. Und für das Kaiserporträt im Kanzleramt findet sich bestimmt ein schönes ruhiges Plätzchen in einem Museum.

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