BGH-Freispruch bei Tötung auf Verlangen

Wegweisendes oder ambivalentes "Insulin-Urteil"?

Ein selten tragischer Fall "aktiver" Sterbehilfe: Einem schwer chronisch kranken Mann hatte auf sein Verlangen hin die Ehefrau eine tödliche Dosis Insulin gespritzt. Welche Reaktionen gibt es aus der säkularen Szene, vor allem aber aus dem Bundestag, nachdem ihre ursprüngliche Verurteilung durch den Bundesgerichtshof (BGH) aufgehoben wurde?

Die beiden waren seit 1970 verheiratet. Der Mann aus Sachsen-Anhalt, im veröffentlichten BGH-Urteil R. S. genannt, hatte seit einer Lendenwirbelfraktur und einem Bandscheibenvorfall an quälenden Schmerzen gelitten, darüber hinaus an Diabetes, starkem Übergewicht, Arthrose in den Händen sowie verschiedenen weiteren Erkrankungen, auch psychosomatischer Art. Seitdem eine ständige Bettlägerigkeit hinzukam, äußerte er gegenüber seiner Frau, einer früheren Krankenschwester, immer wieder den Wunsch zu sterben. Sie pflegte ihn seit vielen Jahren.

Am Ende halfen auch hochdosierte Medikamente kaum noch und zuletzt gar nicht mehr – nach zunehmend qualvollen Tagen im August 2019 trug R. S. seiner Frau auf, alle stark wirksamen Medikamente, darunter Diazepam, zusammenzusuchen. Diese nahm er eigenständig ein. Wegen seiner Arthrose konnte er sich das Insulin nicht selbst spritzen. Er bat seine Frau, die das auch sonst übernommen hatte, ihm alle sechs im Haus befindlichen Dosen zu spritzen, was sie dann tat.

Tötung auf Verlangen durch Insulinspritze

Als Todesursache von R. S. erwies sich Unterzuckerung durch Insulin. Nach bisher ständiger Rechtsprechung ist Täter einer Tötung auf Verlangen laut § 216 StGB (Strafgesetzbuch), wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht, auch wenn der Betroffene sterben will. Dieser Verbotsparagraf richtet sich nicht gegen jemanden, der seinem Leben mit fremder Hilfe selbst ein Ende macht. Er schützt vielmehr vor allem pflegebedürftige und hochbetagte Menschen vor einer tödlichen Infusion oder Spritze. Entscheidend war bisher zur Unterscheidung von Selbst- und Fremdtötung, wer den lebensbeendenden Akt eigenständig ausführt, das heißt die sogenannte Tatherrschaft innehat.

Nach diesen Grundsätzen hatte das Landgericht Stendal die Witwe im "Insulinfall" zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt, was menschlich bedauernswert ist. Aber hätte das Urteil auch juristisch begründet anders ausfallen können oder gar müssen? Ja, hat der 6. Senat des Bundesgerichtshofs (BGH) in Leipzig beschlossen und die vom Landgericht verurteilte Rentnerin freigesprochen. Deutschlands oberste Strafrichter*innen führten in der recht komplizierten Begründung dazu aus: In dem besonderen Fall habe der Ehemann das zum Versterben führende Geschehen nach seinem Gesamtplan beherrscht, wozu zunächst die Tabletteneinnahme in suizidaler Absicht gehörte. Das zusätzliche Insulin habe sicherstellen sollen, dass er danach nicht doch – womöglich zusätzlich geistig schwer geschädigt – überleben würde. Die Ehefrau habe insofern lediglich Beihilfe zum Suizid ihres freiwillensfähigen Mannes geleistet, was bekanntlich straffrei ist.

Obwohl es in diesem Fall nicht mehr darauf ankam, äußerte sich (d. h. in einem sogenannten obiter dictum) dann der BGH zum geltenden Straftatbestand der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB):  Er "neige zu der Auffassung", sagt der Senat im Urteil über sich selbst,  dass der § 216 StGB einer verfassungskonformen Auslegung bedürfe. Diese habe das Recht auf selbstbestimmtes Sterben normativ zu berücksichtigen, wie es im Bundesverfassungsgerichtsurteil 2020 verbürgt ist.

Seitdem wird bereits von einigen Juraprofessor*innen eine einheitliche Systematik bei Tötungsdelikten hinsichtlich der Sterbehilfe eingefordert – so etwa von den acht Autor*innen des Augsburg-Münchner-Hallescher-Entwurfs aus dem letzten Jahr. Insofern sollten in Zukunft, so die Strafrichter*innen des 6. BGH-Senats "jedenfalls diejenigen Fälle vom Anwendungsbereich der Norm ausgenommen werden, in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre freie Entscheidung selbst umzusetzen und sie auf andere angewiesen ist".

Empörung bei Befürwortern eines neuen Suizidhilfeverbots

Wie reagieren nun mit diesen Fragekomplexen befasste Bundestagsabgeordnete? Mitten in der parlamentarischen Sommerpause ist es der Journalistin Dr. Heike Haarhoff durch gezielte Anfragen gelungen, für den tagesspiegel.background erste Stellungnahmen zu erhalten. Wenig überraschend ist, dass die Mitinitiator*innen für einen neuen, nur leicht geänderten  Suizidhilfeverbots-Paragrafen 217 StGB sich über diese BGH-Entscheidung empören. Dazu gehört die für ihr Lebensschutz-Engagement bekannte Kathrin Vogler, gesundheitspolitische Sprecherin der Linken. Für sie ist das jüngste Sterbehilfeurteil "schwer nachvollziehbar", breche es doch "die klare Abgrenzung zwischen strafbarer Tötung auf Verlangen und straffreier Hilfe zum Suizid" auf.  Fast wortgleich drückt Kirsten Kappert-Gonther, Gesundheitspolitikerin der Grünen, ihre Bestürzung aus: "Die Grenze zwischen assistiertem Suizid und Tötung auf Verlangen ist schmaler als oftmals in der Diskussion angenommen." Es liegt eine Form von Zynismus darin: Professionelle Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen – wie vom sterbewilligen R. S. damals geplant – kam ja gerade durch das zwischen 2015-2020 geltende Verbot im § 217 StGB nicht in Betracht. Und eben diesen wollen die Genannten wieder einführen – mit einer dahinterstehenden Mehrheit von Unionsabgeordneten – als Initiator*innen zusammen mit dem SPD-Politiker Lars Castellucci, dem Beauftragten für Kirchen und Religionsgemeinschaften.

In diesen Chor der christlich-konservativ Empörten stimmt die Deutsche Stiftung Patientenschutz erwartungsgemäß ein. Ihr Vorstand Eugen Brysch sah zwar schon immer den "Damm zur aktiven Sterbehilfe gebrochen". Sofern das Entsetzen über eine angeblich tödliche Gefahr noch steigerungsfähig wäre, soll dies nun durch die BGH-Richter*innen ausgelöst worden sein. Am Tag ihrer Urteilsverkündung, dem 11. August, wird Brysch in der Tagesschau zitiert mit der Behauptung, sie hätten nun "das strafrechtliche Verbot der Tötung auf Verlangen de facto aufgehoben". Es scheint absurd, dass Brysch dieses Urteil als Ursache anprangert für einen "gesellschaftlichen Druck auf alte, pflegebedürftige, schwerstkranke und behinderte Menschen, dem eigenen Leben vorzeitig ein Ende zu setzen". Die drohende Verschlechterung der allgemeinen Existenzbedingungen scheinen demgegenüber keine so große Bedeutung zu haben.

Stellungnahmen humanistisch-säkularer Organisationen

Dem Lager der – in der Regel – religiös motiviert Empörten stehen dezidiert säkulare und humanistische Stimmen entgegen, wobei sie nicht völlig einheitlich ausfallen.

So begrüßt Prof. Robert Roßbruch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) das BGH-Urteil als eine wichtige Grundsatzentscheidung. Diese stärke "signifikant das Freiheitsrecht des Einzelnen, über das eigene Leben zu bestimmen". Nicht die jeweilige Tatherrschaft sei demnach entscheidend, sondern "dass die wohlüberlegte Freiverantwortlichkeit des Sterbewunsches eindeutig gegeben ist". Diese richtungsweisende Entscheidung werde, so Roßbruch, Auswirkung auf die Überlegungen im Bundestag haben, ob und wie eine gesetzliche Regelung für die Durchführung von Freitodbegleitungen geschaffen werden soll.

Der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) äußert sich vorsichtiger und weist auf eine Ambivalenz bei der Tötung auf Verlangen hin. Denn dadurch könnte, so der Vorstandssprecher des HVD Bundesverbandes, Erwin Kress, zwar einerseits das Selbstbestimmungsrecht für Menschen mit körperlichen Einschränkungen erleichtert werden, andererseits aber auch einem "Beihilfemissbrauch" Vorschub geleistet werden. Zudem gelte auch ohne eine Liberalisierung der Fremdtötung so gut wie immer: "Für jeden, auch einen nahezu vollständig gelähmten Menschen (…) gibt es Möglichkeiten und Techniken, durch seine eigene Handlung die Einnahme eines tödlichen Mittels zu starten."

Andere Stellungnahmen aus dem säkularen Spektrum, etwa vom Zentralrat der Konfessionsfreien oder von einer seiner Mitgliedsorganisationen, sind bisher zu einer Neujustierung der Tötung auf Verlangen nicht bekannt.

Vorsichtige Zustimmung von rechtspolitischen Sprecher*innen der Ampel

Im tagesspiegel.background hat die Redakteurin Haarhoff neben den oben genannten rigorosen Ablehnungen auch anderslautende Stimmen aus dem Bundestag einfangen können, nämlich von allen drei rechtspolitischen Sprecher*innen der Regierungskoalition. Diese betonen allerdings, in dem Fall ihre persönliche Meinung zu äußern. Sonja Eichwede von der SPD meint: "Die Entscheidung des BGH zu § 216 StGB trifft ins Herz der aktuellen Debatte im Deutschen Bundestag um die Ausgestaltung der Sterbehilfe." Ihr sei "ein schlüssiges Gesamtkonzept, das derzeit bestehende Wertungswidersprüche behebt", als Rechtspolitikerin wichtig.

Eichwedes Kollege von den Grünen, Helge Limburg, äußert sich ähnlich zustimmend. Der Rechtspolitiker widerspricht dabei der gesundheitspolitischen Sprecherin seiner Fraktion (Kirsten Kappert-Gonther, siehe oben) indem er sagt: "Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs begrüße ich ausdrücklich". Die Auslegung des Strafrechtsparagraphen 216 durch die BGH-Richter erscheine ihm "in einer inklusiven Gesellschaft folgerichtig". Nur so könne sichergestellt werden, dass bewegungsunfähige Personen vom Recht auf Suizidhilfe nicht ausgeschlossen wären. "Eine normative anstelle einer starr technischen Betrachtung der Tatherrschaft trägt diesem Gebot Rechnung", argumentiert Limburg. Eine "Regelungslücke", welche Handlungsbedarf zu einer Reform der Tötung auf Verlangen nach sich zöge, könne er hingegen nicht erkennen.

Ähnlich sieht es die rechtspolitische Sprecherin der FDP, Katrin Helling-Plahr: "Einer Änderung des § 216 StGB bedarf es nicht", sagt sie auf Anfrage von tagesspiegel background. Überfällig sei hingegen "die Etablierung eines liberalen Sterbehilfegesetzes". Denn "wenn wir niederschwellige Beratungsmöglichkeiten für Betroffene mit Sterbegedanken und Angehörige schaffen (…) und sodann selbstbestimmt Handelnden die Verschreibung eines Medikaments transparent bei einem ihm vertrauten Arzt ermöglichen, werden Betroffene in Zukunft gar nicht mehr erwägen müssen, Angehörige in die Gefahr zu bringen, sich wegen Tötung auf Verlangen strafbar zu machen", ist sie überzeugt. Infusionen und Apparaturen wären zwar heute schon verfügbar, "die ihnen dennoch ermöglichen, die Medikamentengabe selbst auszulösen". Für Personen, die sonst physisch nicht in der Lage dazu wären, gäbe es durch das mittels Suizidhilfegesetz dann zugelassene Natrium-Pentobarbital zudem die Möglichkeit, dieses mittels Strohhalm einfach zu trinken.

Ob und wie sich der jüngste BGH-Beschluss auf die bevorstehende Neuregelung zur Durchführung von Suizidbegleitungen auswirkt, bleibt derzeit völlig unklar.

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