"Blasphemie muss zu etwas ganz Normalem werden"

Vier Schüler einer britischen Schule wurden suspendiert, nachdem bei einem Spiel unabsichtlich ein Koran beschädigt worden war. Für Stephen Evans, Geschäftsführer der National Secular Society (NSS), ist diese Überreaktion auf die vermeintliche Schändung eines Korans symptomatisch für neue De-facto-Blasphemievorschriften in Großbritannien.

Die Blasphemiegesetze wurden zwar offiziell in ganz Großbritannien abgeschafft, aber die Aufhebung der archaischen Gesetze zum Schutz Gottes und der christlichen Religion wurde rasch durch neue Tabus rund um vermeintliche Beleidigungen des Islam und seines Propheten Mohammed ersetzt.

Der jüngste Fall von Großbritanniens neuem De-facto-Blasphemiegesetz ereignete sich letzte Woche, als vier Schüler von der Kettlethorpe High School in Wakefield suspendiert wurden, nachdem ein Koran angeblich "geschändet" worden war.

Den Berichten zufolge wurde ein Koran offenbar leicht beschädigt, nachdem er von einem Schüler, der beim Spielen eines Call-of-Duty-Videospiels mit anderen Schülern verloren hatte, als Pfand in die Schule gebracht worden war. Der betreffende Schüler leidet nach Angaben seiner Mutter an hochgradigem Autismus. Der Schulleiter erklärte, die Beteiligten hätten keine böswilligen Absichten gehabt.

Dennoch führte das nur allzu bekannte Muster der religiösen "Gemeindevorsteher", die Spannungen anheizen und mit Fehlinformationen hausieren gehen, zu einer massiven Überreaktion auf etwas, das eigentlich eine schulinterne disziplinarische Angelegenheit hätte sein sollen. So blieb es auch nicht aus, dass das Kind Morddrohungen erhielt.

Ein Mitglied des lokalen Gemeinderats, Usman Ali, beschrieb in den sozialen Medien die sogenannte Schändung als "ernsthafte Provokation, die von allen Behörden, das heißt der Polizei, der Schule und der örtlichen Behörde, dringend geahndet werden muss".

In aller Eile wurden Versammlungen anberaumt und die örtlichen Muslime wurden in die Moschee gerufen, wo die Mutter des Jungen vorgeführt wurde und um Vergebung bat. Die Polizei von West Yorkshire war ebenfalls anwesend. Chief Superintendent Andy Thornton erklärte, dass ein Hass-Vorfall registriert worden sei, fügte aber hinzu, dass es falsch sei, den Vorfall als kriminell zu bezeichnen, und dass dieser als erzieherische Chance betrachtet werden sollte.

Doch welche Lehren lassen sich aus diesem Vorfall ziehen?

Die einzige Botschaft, die wahrscheinlich vermittelt werden wird, ist, dass die Religion und insbesondere der Islam respektiert werden müssen. Aber da wäre noch etwas anderes:

Schulen müssen sicherlich den Respekt vor anderen (und auch vor Büchern) sowie die Bedeutung bürgerlicher Werte wie Toleranz, Freundlichkeit und friedliche Koexistenz lehren. Aber wir müssen auch vermitteln, dass die freie Meinungsäußerung und die Religionsfreiheit notwendig sind, um Intoleranz zu bekämpfen. Die Freiheit, Religion in Frage zu stellen, zu kritisieren, zu verspotten und sogar zu beleidigen, ist ebenso wichtig wie die Freiheit, sie auszuüben.

Eine Reihe von Vorfällen, die nur wenige kritische Reaktionen hervorriefen (zum Beispiel Batley, die Dämonisierung von Louis Smith und die Absage von The Lady of Heaven), haben den Eindruck erweckt, dass der Schutz religiöser Gefühle unantastbar sei. Das Nachgeben gegenüber religiöser Empörung hat de facto ein neues Blasphemiegesetz geschaffen.

Dagegen muss etwas unternommen werden.

In einer kürzlich durchgeführten Überprüfung des britischen Programms zur Terrorismusbekämpfung wurde die "Gewalt im Zusammenhang mit Anschuldigungen der Blasphemie und Apostasie" als ein Bereich von besonderer Bedeutung für die Bekämpfung von Extremismus hervorgehoben.

Die Erarbeitung eines besseren Verständnisses von Blasphemie und ihrer Rolle bei der Bedrohung durch den Islamismus gehörte zu den Empfehlungen, die von der Regierung angenommen wurden. Das ist ermutigend.

Wir müssen klarstellen, dass Blasphemievorschriften nur für diejenigen gelten, die sich ihnen freiwillig unterwerfen – und dass es in einer liberalen Demokratie keinen Rechtsanspruch darauf geben kann, nicht beleidigt zu werden.

Die Vorstellung, dass der Islam eines besonderen Schutzes bedarf, gibt den Islamisten Recht, die ihre Blasphemievorschriften mit Einschüchterung und Gewalt durchsetzen wollen. Außerdem werden Muslime dadurch bevormundet, dass sie stillschweigend anerkennen, dass Blasphemiegesetze notwendig sind, um ihre Gefühle zu schützen – und dass sie unfähig sind, in einer Gesellschaft zu leben, die liberale Grundsätze hochhält.

Die Menschenrechtsaktivistin Ayaan Hirsi Ali sagte einmal: "Wir hatten das Leben des Brian, jetzt brauchen wir das Leben von Mohammed". Damit meinte sie die Notwendigkeit, dass Blasphemie zu etwas ganz Normalem wird und auch das Brechen von Tabus im Zusammenhang mit dem Islam, wie zum Beispiel Darstellungen von Mohammed. Dass dies versäumt wurde, hat seit der Rushdie-Affäre und den Anschlägen auf Charlie Hebdo zu einer routinemäßigen Selbstzensur geführt, die das Prinzip und den Zweck der Meinungsfreiheit untergräbt.

Allzu oft scheuten liberale Kräfte davor zurück, islamistischen Einschüchterungsversuchen die Stirn zu bieten, und delegierten diese Aufgabe so an die Rechtsextremen. Das führt zu einer Polarisierung der Debatte und verleiht der freien Meinungsäußerung den Anschein, ein "Problem der Rechten" zu sein – und schwächt damit die Unterstützung für das Recht auf freie Meinungsäußerung.

Hoffen wir, dass diejenigen, die diesmal der Blasphemie beschuldigt wurden, anders als in Batley, sicher in die Schule zurückkehren können. Jegliche weitere Beteiligung der Polizei sollte sich ausschließlich auf die Untersuchung der erhaltenen Morddrohungen beziehen.

Und was das große Ganze betrifft, müssen wir allen britischen Bürgern ein Verständnis dafür vermitteln, dass das Leben in einer toleranten, pluralistischen Gesellschaft Debatten, Meinungsverschiedenheiten und gelegentliche Kränkungen der eigenen Gefühle beinhaltet. Was eine tolerante Gesellschaft nicht tolerieren kann, ist der Einsatz von Einschüchterung und Gewalt, um das, was einen beleidigt, zu unterbinden.

Erstveröffentlichung des englischen Textes am 28.02.2023 auf der Webseite der National Secular Society (NSS). Übernahme und Übersetzungserlaubnis mit freundlicher Genehmigung.

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