Prozess-Strategie gegenüber Opfern sexuellen Missbrauchs

Die Hinhaltetaktik der katholischen Kirche

Jens Windel verklagt das Bistum Hildesheim auf 400.000 Euro Schmerzensgeld. Sein Vorwurf: Ein Pfarrer habe ihn in den 1980er Jahren immer wieder vergewaltigt. Das Bistum reagiert hinhaltend. Es lehnt einen Vergleich als Mauschelei ab und will dem Opfer zumuten, in einem möglichen Prozess die längst anerkannten Taten beweisen zu müssen. Und denkt daran, sich auf Verjährung zu berufen. Zwei Rechtsprofessoren kritisieren die Taktik der katholischen Kirche scharf.

In der Bischofsgruft des Hildesheimer Doms hängt seit kurzem eine Hinweistafel. Darauf ist unter anderem zu lesen: "Im Bistum Hildesheim werden gegenwärtig Formen der Erinnerungskultur zum Leid von Betroffenen sexualisierter Gewalt diskutiert."1 Wer hier einen Satz des Bedauerns oder gar ein Schuldeingeständnis sucht, der sucht vergeblich. Vor wenigen Tagen wurde die Gruft sogar ganz unzugänglich gemacht, nachdem bekannt geworden war, dass es gegen den 1988 verstorbenen ehemaligen Hildesheimer Bischof Heinrich Maria Janssen weitere schwere Anschuldigungen des sexuellen Missbrauchs über einen Zeitraum von mehreren Jahren gibt.

Es wird eine Umbettung von Heinrich Maria Janssen aus der Bischofsgruft geprüft, die Gruft ist nun blickdicht verschlossen. Davor gibt es einen Aufsteller mit erläuterndem Text, der über die Vorwürfe gegen Janssen informiert.

Der Fall Jens Windel

Jens Windel ist kein Opfer von Bischof Janssen. Aber sein Leid hatte seinen Ursprung auch im Bistum Hildesheim. Nach vielen Jahren des Kampfes um die Anerkennung seines Leids klagt er nun gegen das Bistum. Die Klageschrift seines Anwalts liegt beim Landgericht Hildesheim. Es geht um 400.000 Euro Schmerzensgeld und eventuelle Rentenausfallzahlungen. Denn ob der jetzt 50-Jährige, der beim Land Niedersachsen angestellt ist, bis zum regulären Renteneintrittsalter wird arbeiten können, ist nicht sicher. Jens Windel leidet immer noch unter den Folgen der Qualen, die ihm vor nun 40 Jahren zugefügt wurden.

Er erzählt: In den Jahren 1984 und 1985, zwischen seinem neunten und elften Lebensjahr, kam es zu insgesamt rund 90 "Vorfällen". Ein Pfarrer in der zum Bistum gehörenden Gemeinde Sorsum habe ihn immer wieder missbraucht. Der Kirchenmann, der zugleich auch Religionslehrer war, hatte den Jungen zum Messdienerdienst geworben und ihn dann im Pfarrhaus vergewaltigt. Immer wieder. Nein, er habe sich damals niemandem anvertrauen können, sagt Windel. "Ich wusste ja gar nichts von Sexualität, der Pfarrer hat gesagt, dass er mich liebt, so wie Jesus mich liebt. Ich konnte das alles nicht einordnen, aber es fühlte sich falsch an, es tat weh."

Der Pfarrer sei kein unbeschriebenes Blatt gewesen. Schon 1961 sei er das erste Mal auffällig geworden und von der Kirche insgesamt fünfmal versetzt worden. Im Jahr 2002 starb der Mann, ohne jemals strafrechtlich belangt worden zu sein.

Die Reaktion der Kirche

Viel später, so erzählt es Windel, habe er dann eine Verhaltenstherapie gemacht. Auf Anraten seines Therapeuten habe er beim Bistum einen Antrag auf Anerkennung des Leids gestellt. Das war im Jahr 2013. Die damalige Zentrale Koordinierungsstelle in Bonn habe ihm 1.000 Euro zugesprochen. "Da bin ich wütend geworden, das wollte ich mir nicht gefallen lassen", sagt Windel. Er wandte sich nochmal ans Bistum, bekam weitere 6.000 Euro. Und dann bekam er auf Antrag weitere 33.000 Euro – nachdem die Herbstvollversammlung der Bischöfe im Jahr 2020 ein neues System etabliert hatte, um Missbrauchsopfer zu entschädigen: die sogenannte Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA).

Nun sehen die Richtlinien der UKA vor, dass in besonders schweren Fällen auch mehr als 50.000 Euro Entschädigung gezahlt werden. "Es war mir wichtig, dass mein Fall als ein solcher besonders schwerer Fall anerkannt wird", sagt Jens Windel. "Ich war unter 14 Jahre alt, und es ist mehrfach zu Penetrationen gekommen." Doch eine solche Anerkennung gab es nicht. Gespräche über eine gütliche Einigung wurden seitens des Bistums abgebrochen. Windels Anwalt forderte das Bistum auf, sich mit ihm außergerichtlich zu einigen. Doch die Antwort war, so sagt es Windel, "niederschmetternd". In dem Schreiben werde er darauf hingewiesen, dass er im Falle einer Klage "vollumfänglich beweispflichtig" sei, ob die behaupteten sexuellen Übergriffe tatsächlich erfolgt seien. Auch wird angekündigt, dass man nicht bereit sei, auf die Einrede der Verjährung als prozessuales Gestaltungsmittel zu verzichten. Und in einem Interview mit der christlich-kritischen Zeitschrift Publik Forum erklärte Bischof Heiner Wilmer dann auch noch, dass er eine außergerichtliche Einigung für den falschen Weg halte, weil es etwas von "Mauschelei" habe.

Dass die Kirche ihm nun androht, dass er in einem Prozess alles beweisen müsse, hält Windel für perfide. Die Kirche habe ihn durch ihre Zahlungen doch längst als Missbrauchsopfer anerkannt. "Da war ich einfach schockiert, das Bistum weiß über alles Bescheid, ich wurde immer wieder als Betroffener eingeladen, und jetzt kommen diese Worte. Die haben mich zutiefst verletzt. Ich hätte erwartet, dass Bischof Wilmer damit verantwortungsvoller umgeht. Das hat mir die Füße weggerissen."

Die Kritik an der Prozesstaktik

Mit scharfen Worten haben zwei Rechtsprofessoren den Umgang der katholischen Kirche mit Fällen wie dem von Jens Windel kritisiert. Prof. Dr. Stephan Rixen ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Köln und Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs sowie Berater der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz. Prof. Dr. Jörg Scheinfeld ist Strafrechtsprofessor an der Universität Mainz und Direktor des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw). Die beiden Rechtsprofessoren schrieben in einem Gastbeitrag für das Rechtsmagazin Legal Tribune Online, dass sich der Eindruck aufdränge, "dass sich die deutschen Bischöfe darauf verständigt haben, außergerichtliche Vergleichsverhandlungen abzulehnen und so in der Konsequenz den von sexualisierter Gewalt Betroffenen Klageverfahren mit einem hohen Geld-, Zeit- und Kraftaufwand aufbürden". Und sie stellen die Frage: "Spekulieren sie darauf, dass nur wenige Betroffene ein anstrengendes und aufwühlendes Gerichtsverfahren auf sich nehmen?"

Außergerichtliche Vergleichsverhandlungen dürften nicht als "Mauschelei" schlechtgeredet werden. Das Bundesverfassungsgericht habe deutlich gesagt: "Eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung." Auch sei das Verweigern außergerichtlicher Verhandlungen als treuwidrig zu qualifizieren. Dies folge schon aus dem katholischen Kirchenrecht Codex Iuris Canonici – CIC, das der außergerichtlichen Streitbeilegung den Vorrang einräume. Heiße es doch in Canon 1446, Paragraf 1: "Alle Gläubigen, vor allem aber die Bischöfe, sollen eifrig bemüht sein, daß Rechtsstreitigkeiten im Gottesvolk ohne Beeinträchtigung der Gerechtigkeit nach Möglichkeit vermieden und baldmöglichst friedlich beigelegt werden."

Die Kirche verhalte sich widersprüchlich, wenn sie außergerichtliches Verhandeln für den eigenen (kirchlichen) Rechtskreis verlangt, es aber ablehnt zu verhandeln, wenn es um Rechtsstreitigkeiten im staatlichen Rechtskreis gehe. "Den von sexualisierter Gewalt Betroffenen würde ansonsten die Chance genommen, sich vor erwartbaren Traumatisierungen zu schützen, die in einem öffentlichen Gerichtsverfahren vor einem staatlichen Gericht leicht eintreten können. Die außergerichtliche Streitbeilegung hilft, solche (Re-)Traumatisierungen zu vermeiden", schreiben die Rechtsprofessoren.

Aber kann die katholische Kirche nicht einwenden, sie zahle doch schon genug für Opfer sexuellen Missbrauchs? Immerhin hat die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) 2023 rund 16,1 Millionen Euro an Entschädigungszahlungen für Missbrauchsbetroffene in der katholischen Kirche festgesetzt. Seit ihrer Einrichtung vor mehr als drei Jahren hat die UKA insgesamt mehr als 56 Millionen Euro angewiesen, die sich auf 2.248 beschiedene Anträge verteilen. 2023 entfielen auf einen Antrag durchschnittlich rund 25.300 Euro Anerkennungsleistung.

Das UKA-Verfahren war von der Deutschen Bischofskonferenz, der Deutschen Ordensobernkonferenz und der Caritas eingerichtet worden. Mit dem Ziel, "Betroffenen auf der Basis ihrer eigenen plausiblen Tatschilderung möglichst unbürokratisch zu Leistungen zu verhelfen, die sie ohne die Hürden bei Schmerzensgeldklagen erhalten können, der Höhe nach aber gerichtlichen Schmerzensgeldern entsprechen."

In ihrem Gastbeitrag für Legal Tribune Online nehmen die Rechtsprofessoren Rixen und Scheinfeld auch diesbezüglich kein Blatt vor den Mund. Die Anerkennungsleistungen seien rechtlich betrachtet freiwillige Leistungen und damit Almosen. "Die Kirche behandelt die Betroffenen wie Bittsteller und verweigert ihnen so die Anerkennung als Rechtspersonen. Was die Betroffenen erlitten haben, wird zum bedauerlichen Widerfahrnis umdeklariert, statt zuzugeben, um was es geht: Um ein gigantisches Organisationsverschulden, in dem Sorgfalts- und Aufsichtspflichten bis über die Grenze der bewussten Rechtsblindheit hinaus missachtet wurden." Die Betroffenen blieben "Unterlegene, Rechtlose, Missachtete".

Und die Rechtsprofessoren fordern: "Die Bischöfe täten gut daran, sich gegenüber den zu entschädigenden Betroffenen, die teils unvorstellbare Gewalt erlitten haben, endlich so zu verhalten, dass weiteres Leid vermieden wird, also so, wie es nicht nur Anstand und Fairness gebieten, sondern wie es neben dem staatlichen Recht ihr eigenes Kirchenrecht fordert: Bemüht Euch um friedlich-gütliche Streitbeilegung und schließt Vergleiche! Vergleiche anerkennen die Schuld der Kirche und vermeiden die vielfältigen Belastungen für Betroffene, die mit einem streitigen Verfahren verbunden sind."

Doch auch die katholische Kirche dürfte gewarnt sein: Im vergangenen Jahr war das Erzbistum Köln zu 300.000 Euro Schmerzensgeld für einen Missbrauchsbetroffenen verurteilt worden. Der heute 64-jährige Georg Menne war in den 1970er Jahren als Messdiener viele Jahre lang von einem Priester sexuell missbraucht worden. Womöglich fürchtet die Kirche viele weitere Klagen und greift daher zu allen rechtlich erlaubten Mitteln – ohne Rücksicht auf das Seelenleben der Opfer.

Ob die Klage von Jens Windel gegen das Bistum Hildesheim dieses doch noch zu Vergleichsgesprächen bewegen kann, ist offen. Auf Anfrage des hpd heißt es von Seiten des Bistums-Pressesprechers Volker Bauerfeld: "Wenn die Klage dem Bistum Hildesheim zugestellt worden ist, wird die Diözese entscheiden, wie sie auf die Klage reagieren wird. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich Ihnen diesbezüglich noch nicht mehr sagen."

Ein zufälliges Treffen mit dem Bischof

Als Jens Windel Anfang Juni beim Katholikentag in Erfurt mit anderen Betroffenen per Plakatwand auf das Leid der Missbrauchsopfer aufmerksam machte, kam doch tatsächlich Bischof Wilmer auf ihn zu. "Er fragte mich, was ich hier mache und wie es mir gehe. Perplex antwortete ich ihm: Wie soll es mir nach Ihrer Aussage durch Ihre Anwaltskanzlei gehen? Ich schilderte die Verletzung, die durch seine Ablehnung der Verantwortung und das ins Spiel gebrachte Berufen auf die Verjährung in mir ausgelöst wurde. Ebenso wie der Hinweis darauf, dass ich in einem Prozess beweispflichtig wäre und dass das institutionelle Versagen der Kirche abgelehnt werde." Bischof Wilmer habe daraufhin versucht zu beschwichtigen, dass er das mit der Mauschelei so nicht gemeint habe, weil er den Sachverhalt einer außergerichtlichen Einigung falsch verstanden habe. Und dann habe der Bischof gesagt: "Wir werden uns schon einig." Windel dazu: "Diesen Satz bezweifle ich, da genug Zeit war, um mit mir und meinem Anwalt das Gespräch aufzunehmen."

Möglicher Präzedenzfall

Vor dem Landgericht Traunstein läuft derzeit ein Schmerzensgeldprozess, der möglicherweise die Beweisposition von klerikalen Missbrauchsopfern verbessern könnte. Das Onlineportal Correctiv berichtet über die Klage von Andreas Perr, der Schmerzensgeld einklagt.

Es geht auch um die Frage, ob Perrs spätere Drogensucht Folge des Missbrauchs war. In diesem Rahmen muss er grundsätzlich zivilrechtlich den lange zurückliegenden Missbrauch beweisen. Seine Anwälte versuchen vor Gericht, eine Beweislastumkehr oder eine Beweiserleichterung zugunsten des Klägers zu erreichen, da nach "der Lebenserfahrung eine tatsächliche Vermutung oder eine tatsächliche Wahrscheinlichkeit für den ursächlichen Zusammenhang" durch den Missbrauch des Priesters an Perr gegeben sei. Folgt das Landgericht Traunstein dieser Argumentation, so könnte das Signalwirkung auch für andere Prozesse wie den von Jens Windel haben.

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1 Siehe dazu auch den hpd-Artikel: Bistum Hildesheim: Wenn der Bischof persönlich Hand anlegt ↩︎