Grüne setzen Signal bei der Homöopathie

Evolution statt Revolution

Der Beschluss der Grünen, homöopathische Leistungen künftig nicht mehr zu erstatten, markiert eine bemerkenswerte Zäsur: Eine Partei verabschiedet sich von einem ihrer frühen ideologischen Erkennungsmerkmale – und nähert sich konsequent der wissenschaftlichen Evidenz. Doch jenseits parteipolitischer Symbolik berührt die Entscheidung eine größere Frage: Welche Verantwortung trägt der Staat, wenn er durch Anerkennung oder Duldung pseudowissenschaftlicher Verfahren die öffentliche Wahrnehmung von Wissenschaft prägt?

Mit einem klaren Votum hat sich die Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen dafür ausgesprochen, homöopathische Leistungen künftig nicht mehr im deutschen Sozialversicherungssystem zu erstatten. Für eine Partei, die in ihren Anfangsjahren alternative Heilmethoden fest in ihrem Selbstverständnis trug, markiert dieser Beschluss eine historische Zäsur. Und obwohl die Grünen derzeit in der Opposition sind, ist die Entscheidung politisch nicht minder bedeutsam.

Ein eher evolutionärer als revolutionärer Schritt

Der Kurswechsel kommt nicht überraschend, sondern ist das Ergebnis einer langen innerparteilichen Entwicklung. Über Jahre hinweg prallten unterschiedliche Generationen und politische Kulturen aufeinander: Während Jüngere und viele Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker immer deutlicher eine evidenzbasierte Linie einforderten, hielten andere am homöopathischen Erbe fest.

In den vergangenen Jahren hatte diese Minderheit eine starke Stimme und konnte Veränderungen immer wieder verlangsamen. Doch nun hat sich die parteiinterne Gewichtsverteilung sichtbar verschoben. Dass der Antrag zur Streichung der Homöopathie-Erstattung auf der Tagesordnung des Parteitags unmittelbar nach oben rückte, war das erste deutliche Signal dafür, dass sich eine neue Mehrheit gefunden hatte. Der Beschluss selbst war dann die folgerichtige Konsequenz.

Warum auch ein Oppositionsbeschluss politisch relevant ist

Obwohl die Grünen derzeit nicht Teil der Bundesregierung sind, hat die Entscheidung Gewicht. Parteitagsbeschlüsse großer Parteien beeinflussen die politische Agenda – vor allem dann, wenn sie ein altes Selbstverständnis hinter sich lassen und eine klare wissenschaftliche Position beziehen.

Über Jahre bewies die Bundespolitik gegenüber nicht evidenzbasierten Verfahren eine bemerkenswerte Toleranz. Statt sich klar auf wissenschaftliche Kriterien zu berufen, wurde ihre Tolerierung – im Grunde sogar Privilegierung – immer wieder mit irrelevanten Nebenargumenten operiert: mit Patientenautonomie, mit wirtschaftlicher Rücksichtnahme, mit der Behauptung geringer Kosten, mit den "Wünschen" von Patienten.

Doch diese Argumente greifen nicht.

Die Frage ist nicht, was Patienten privat nutzen dürfen – da wird nichts eingeschränkt durch eine Aufhebung der Erstattungsregelungen –, sondern was die Solidargemeinschaft als wirksame medizinische Leistung anerkennt.

Wenn das Gesundheitswesen Verfahren ohne Wirksamkeitsnachweis erstattet, entsteht eine Art amtlicher Legitimation. Dadurch wird nicht nur ein wissenschaftlicher Konsens unterlaufen, sondern auch das Vertrauen der Bevölkerung in evidenzbasierte Medizin geschwächt.

Warum institutionelle Signale das Denken beeinflussen

Die Wirkung solcher staatlichen Signale ist seit Langem bekannt. Bereits der Sozialpsychologe Gustave Le Bon beschrieb Ende des 19. Jahrhunderts, dass die "unablässige Wiederholung" einer Behauptung deren gefühlte Plausibilität erhöht – unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt.

Moderne Kommunikations- und Kognitionsforschung bestätigt diesen Grundmechanismus. Wiederholung, soziale Bestätigung und institutionelle Rahmung können die Glaubwürdigkeit eines Verfahrens stärken, auch wenn dessen Wirksamkeit nicht belegt ist.

Moderne Untersuchungen aus der Kommunikations- und Sozialforschung bestätigen diesen Mechanismus. Eine vielbeachtete Auswertung der spanischen "Nationalen Umfrage über die soziale Wahrnehmung von Wissenschaft und Technologie" (N = 6.357) durch den Soziologen Francisco J. Lobera zeigt, dass das Vertrauen in Verfahren wie Homöopathie oft nicht aus eigener Überzeugung entsteht, sondern aus sozialen und institutionellen Signalen.1

Die Studie identifizierte Medien und Apotheken als zentrale Faktoren, die zur "wissenschaftsähnlichen Wahrnehmung" solcher Verfahren beitragen und damit gesellschaftliches Vertrauen erzeugen – selbst dann, wenn wissenschaftliche Validierung fehlt. Die Verbreitung homöopathischer Verfahren erklärt sich demnach maßgeblich durch die atmosphärische Autorität, die ihnen im Alltag zugeschrieben wird – erst recht, wenn diese auch noch durch staatliche "Adelung" nicht evidenzbasierter Methoden und Mittel gestützt wird.

Vor diesem Hintergrund hat die Frage, welche Leistungen das Solidarsystem erstattet, weitreichendere Folgen, als es häufig scheint. Sie prägt mit, wie Menschen Wissenschaft und Medizin einordnen – und ob sie nachvollziehen können, welche Verfahren auf Evidenz beruhen und welche nicht. Hieraus erwächst eine besondere Verantwortung der Gesundheitspolitik – was die Grünen durch ihren Beschluss erkannt und anerkannt haben.

Ein Signal für eine wissenschaftsorientierte Gesundheitspolitik

Der Grünen-Beschluss ist daher mehr als nur ein innerparteilicher Akt. Er ist ein sichtbares Zeichen dafür, dass wissenschaftsorientierte Positionen sich durchsetzen können – und dass politische Mehrheiten dem Rechnung tragen können.

Für die evidenzbasierte Medizin ist dies ein wichtiger Moment. Er zeigt, dass sich selbst tief verwurzelte historische Identitäten verändern können, wenn Argumente, Generationswechsel und politische Verantwortung zusammenwirken.

Und er wirft eine zentrale Frage an die Gesundheitspolitik insgesamt auf: Wie lange will sie noch an Verfahren festhalten, deren behauptete Wirkung einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhält?

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1. Lobera, Francisco J.: Social perception of complementary and alternative medicines in Spain. Auswertung der "Encuesta de Percepción Social de la Ciencia y la Tecnología" (N = 6.357). Universidad de Zaragoza / Fundación Española para la Ciencia y la Tecnología (FECYT). Health Commun 2021 Sep;36(10):1278-1285. doi: 10.1080/10410236.2020.1750764. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32285701
Kernaussage der Studie: Medien und Apotheken tragen maßgeblich zur wissenschaftsähnlichen Wahrnehmung von CAM-Verfahren bei und fördern damit gesellschaftliches Vertrauen in deren Wirksamkeit – unabhängig von der wissenschaftlichen Evidenzlage.