(hpd) Ganz aktuell ist bei Alibri ein neues Buch von Ludger Lütkehaus erschienen. Darin erzählt er die Geschichte einer Kindheit unterm Kreuz: der Kindheitsvergiftung. Gegenüber der Erstveröffentlichung im Jahre 1994 wurde dem Buch noch eine Sammlung von Aphorismen, die der Autor „Ketzereien“ nennt, hinzugefügt.
Wenn man die Biografie des Autors mit der „Kindheitsvergiftung“ vergleicht, liegt der Schluss nahe, dass Ludger Lütkehaus hier viel aus seiner eigenen Kindheit erzählt. Aufgewachsen in einem überaus strengen katholischen Elternhaus und mit dem mütterlichen Wunsch belastet, einmal Theologe werden zu sollen, kämpft der junge Sohn gegen den schier unstillbaren Sexualtrieb. Nach dem, was ihm beigebracht wurde, also gegen die Sünde. Und selbstverständlich muss er dabei der Unterlegene bleiben.
Es ist für die heutige Zeit kaum noch vorstellbar, welche Mühe es machte und welche psychischen Schäden es hervorrufen konnte, seine Sexualität zu unterdrücken. Da dieses Thema so tabuisiert war, nimmt es nicht Wunder, dass sexueller Missbrauch in religiöser Nähe so gut funktionierte. Und verschwiegen wurde.
Ein liebloses, dafür aber umso gläubigeres Elternhaus; eine Gesellschaft, die keinesfalls wollte, dass man die jüngste Geschichte hinterfragt. All das führte dazu, dass die Hauptfigur sich immer weiter vom Leben seiner Eltern distanziert.
Als er älter wird, kommen sich Vater und Sohn wieder etwas näher. Später erkrankt seine Mutter, die eifrige Beterin und Kirchgängerin. Sie verliert langsam das Gedächtnis. Und ein wenig boshaft nennt Lütkehaus es „Amnestischer Atheismus“ als sie sogar Gott vergißt. „Gott war nicht bloß tot, sondern zuverlässiger als alles andere auf Erden entsorgt im Endlager einer Kalkablagerung.“ (Seite 48)
Lütkehaus spricht von „dem Jungen“ immer in der dritten Person; das schafft Abstand für den Autoren und macht den Leser ein wenig zu einem fassungslosen Beobachter. Auch ansonsten hält das Buch den Leser auf Abstand. Die kunstvoll geschmiedeten aber manchmal kaum zu verstehenden Sätze können nicht „nebenher konsumiert“, sie müssen gelesen werden.
Das gilt auch für die Aphorismen. Sie erinnern manchmal an Deschner. Allerdings bedarf es schon eines gewissen Maßes an philosophischem Wissen, um sie alle wirklich genießen zu können. Jedoch sind nicht alle damit gemeint. Auch der weniger Gebildete findet darin noch das eine oder andere Schmankerl.
Eines davon möchte ich zum Abschluss zitieren:
Trost
Die Zuversicht, dass nichts Schreckliches ewig sei oder auch nur lange dauere, ist der Grund für die Seelenruhe Epikurs. Welcher Unterschied zwischen seiner Unerschütterlichkeit und dem des christlichen Höllenterror. Alles hat bald sein Ende. Welcher Trost!
F.N.
Ludger Lütkehaus, Kindheitsvergiftung, Alibri-Verlag 2012, 101 Seiten, ISBN 3865690459, 9,50 Euro.
Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.