Ein Land mit gespaltener Seele

(hpd) Der israelische Publizist Gershom Gorenberg sieht in der Siedlungspolitik des Landes eine große Gefahr für dessen Selbstverständnis als Demokratie und Rechtstaat. Dies macht der Autor in persönlichen Kommentaren zur Entwicklung des Landes in Gegenwart und Vergangenheit in eindeutigen Worten, aber ohne polemische Überspitzungen deutlich.

Israel sieht sich seit Beginn seiner Existenz mit politischen Bestrebungen aus Nachbarstaaten konfrontiert, welche seine Legitimation als eigenständiger Staat in Frage stellen. Doch müssen Gefahren für das politische Selbstverständnis des Landes als Demokratie und Rechtsstaat nicht nur von außen kommen. Darauf macht Gershom Gorenberg in seinem Buch „The Unmaking of Israel“ aufmerksam. In der deutschen Übersetzung hat man es in Anlehnung an einen zweifelhaften Bestseller „Israel schafft sich ab“ veröffentlicht.

Der Autor, der in Israel mit seinen Büchern großen Einfluss auf die politische Debatte nimmt, schreibt nach seinem Selbstverständnis aus einem Land „mit gespaltener Seele. Es wird durch seine Widersprüche nicht nur definiert; es läuft Gefahr, von ihnen zerrissen zu werden. Es ist ein Land mit unsicheren Grenzen und einem Staat, der seine eigenen Gesetze ignoriert. Seine demokratischen Ideale ... stehen kurz davor, wie die Ideologien des 20. Jahrhunderts als falsche politische Versprechen in die Erinnerung einzugehen“ (S. 221).

Die inhaltliche Begründung für diese mahnenden Worte entwickelt der Autor in den acht Kapiteln des Buches, die aus persönlichen Kommentaren zu verschiedenen Stationen der Gegenwart und Vergangenheit Israels bestehen. Dabei konzentriert sich sein Blick auf die Besetzung und Besiedlung palästinensischer Gebiete durch Angehörige ultraorthodoxer Gruppen. Deren illegale Praxis sei von den säkularen Regierungen nicht nur geduldet, sondern indirekt sogar unterstützt worden. So habe etwa die Siedlung Elisha vom Wohnungsbauministerium über 300.000 Dollar für Gebäude und Infrastruktur erhalten. Gerade darin manifestiert sich exemplarisch das Problem, das Gorenberg für das Israel von heute sieht: „Die fortdauernde Besatzung, die Förderung des religiösen Extremismus, die Untergrabung von Recht und Gesetz durch die Regierung selbst, all das bedroht die Zukunft Israels. Insbesondere gerät dadurch sein demokratischer Anspruch in große Gefahr. Als Israeli bin ich überzeugt, dass mein Land die Richtung ändern muss“ (S. 12).

Bestimmte Entwicklungen beförderten das Konfliktpotential noch, wozu etwa der kontinuierliche Anstieg von ultraorthodoxen Juden in der israelischen Armee gehöre. Hier seien spätere Loyalitätskonflikte vorprogrammiert, könnte die Regierung unter Umständen doch eine andere Politik nicht mehr gegen die Siedler umsetzen. Insofern würden die von Gesetzlosigkeit und Völkerrechtsbruch geprägten Gegebenheiten fortbestehen, zumal ohnehin der Anteil der Strenggläubigen in der Bevölkerung zunehme.

Gegen diese Entwicklung fordert Gorenberg die Neugründung Israels als freiheitliche Demokratie mit folgenden Punkten: „Erstens muss Israel den Siedlungsbau einstellen, die Besatzung beenden und einen friedlichen Weg finden, um das Land zwischen dem Fluss und dem Meer aufzuteilen. Zweitens muss es Staat und Synagoge trennen: den Staat vom Klerikalismus und die Religion vom Staat befreien. Drittens ... muss es von einer ethnischen Bewegung zu einem demokratischen Staat heranreifen, in dem alle Bürger Gleichheit genießen“ (S. 222).

Diese Forderungen kommen nicht von einem randständigen Intellektuellen mit überscharfer Positionierung. Gorenberg versteht sich selbst als orthodoxer Jude und wanderte in den 1970er Jahren von den USA nach Israel aus. Er vertritt noch nicht einmal die Auffassungen der „kritischen Historiker“, welche für die Entstehungszeit des Staates eine systematische Vertreibungspolitik gegen die Palästinenser unterstellen. Dezidiert nimmt Gorenberg eine Gegen-Position ein (vgl. S. 50). Umso weniger kann man ihm eine Position des „jüdischen Selbsthasses“ vorwerfen, womit man sich mitunter gern vor Kritik immunisiert. Der Autor argumentiert vom inhaltlichen Selbstverständnis des Landes als Demokratie und Rechtsstaat aus. Darin besteht seine argumentative Stärke und moralische Überzeugungskraft. Der mitunter gegen ihn erhobene Einwand, er benenne keine politischen Akteure für die Umsetzung seiner Forderungen, trägt indessen nicht. Dem Autor sollte man nicht die Existenz einer politischen Dilemma-Situation vorwerfen, welche er eben selbst kritisch konstatiert.

Armin Pfahl-Traughber

Gersholm Gorenberg, Israel schafft sich ab. Aus dem Englischen von Andras Simon dos Santos, Frankfurt/m. 2012 (Campus-Verlag), 316 S., 19,99 €.