Christopher Hitchens: Unmoralische Bräuche

Auch die schlimmen Folgen des Masturbationstabus, das im viktorianischen England ebenfalls als Rechtfertigung für die Beschneidung herhalten musste, sind den Religionen anzulasten. Jahrzehntelang wurden junge Männer und Jugendliche mit der vermeintlich medizinischen Warnung in Angst und Schrecken versetzt, ihnen drohten Blindheit, Nervenversagen und das Abrutschen in den Wahnsinn, wenn sie sich der Selbstbefriedigung hingäben. Geistliche hielten düstere Predigten, die vor unsinnigen Behauptungen nur so strotzten - etwa dass der Samen nur begrenzt vorhanden sei -, und zwangen damit Generationen von Heranwachsenden unter ihr Joch. Rupert Baden-Powell verfasste zur Untermauerung der körperbetonten Christlichkeit seiner Pfadfinderbewegung eigens eine Abhandlung zu diesem Thema. Bis zum heutigen Tage hält sich der Wahnsinn auf islamischen Websites, die gute Ratschläge für Jugendliche bereithalten. Die Mullahs haben offenbar Samuel Tissots Die Onanie, oder Abhandlung über die Krankheiten, die von der Selbstbefleckung herrühren aus dem 18. Jahrhundert und dergleichen mittlerweile in Verruf geratene Texte studiert, die schon die Christen vor ihnen mit so unheilvoller Wirkung praktisch umsetzten. Nicht weniger bizarr und von gleichermaßen schmutziger Fantasie durchsetzt ist die Desinformation eines Abd al-Asis bin Bas, verstorbener Großmufti von Saudi-Arabien, dessen Auslassungen gegen die Onanie auf vielen muslimischen Websites zitiert werden. Er warnte davor, das Masturbieren führe zu einer Beeinträchtigung des Verdauungssystems, einer Schwächung des Augenlichtes, einer Entzündung der Hoden, zu Muskelzittern und einer Zersetzung des Rückenmarks, aus dem das Sperma komme. Auch die »Hirndrüsen« seien betroffen, wobei der Intelligenzquotient sinke, bis der Wahnsinn einsetze. Zu guter Letzt kündigte der Mufti den Jugendlichen an, ihr Sperma werde so dünn und kraftlos, dass sie später keine Kinder würden zeugen können - eine Aussage, die Millionen gesunder Jugendlicher mit quälenden Schuldgefühlen und Ängsten belastet. Die Websites Inter-Islam und Islamic Voice kauen diesen Unsinn wider, als herrschten in der muslimischen Welt nicht schon genügend Repression und Ignoranz unter den jungen Männern, die häufig von jeglicher weiblichen Gesellschaft ferngehalten werden, im Wesentlichen lernen, ihre Mütter und Schwestern zu verachten, und sich dem lähmenden Auswendiglernen des Korans zu unterwerfen haben. Nachdem ich in Afghanistan und anderswo Produkten dieses Erziehungssystems begegnet bin, kann ich nur noch einmal betonen: Die jungen Leute leiden nicht unter dem Problem, dass sie sich Jungfrauen wünschen, sondern dass sie Jungfrauen sind. Ihre emotionale und psychische Entwicklung wird im Namen Gottes irreparabel gestutzt und die Sicherheit vieler anderer Menschen als Folge dieser Entfremdung und Deformationen bedroht. Sexuelle Unschuld, die bei jungen Leuten bezaubernd sein kann, sofern sie nicht künstlich verlängert wird, ist bei einem Erwachsenen einfach nur abstoßend und zerstörerisch.

Auch lässt sich gar nicht ermessen, welcher Schaden von schmuddeligen alten Männern und hysterischen Jungfern angerichtet wurde, die sich als geistliche Hüter unschuldiger Kinder in Waisenhäusern und Schulen aufgespielt haben. Insbesondere der römisch-katholischen Kirche kommt hier die überaus schmerzliche Aufgabe zu, den Geldwert eines Kindesmissbrauchs für einen Schadensersatzprozess zu bemessen. Milliarden von Dollar wurden den Opfern bereits zugesprochen, doch wie soll man einen Gegenwert festlegen für die Generationen von Jungen und Mädchen, die von Menschen, denen sie und ihre Eltern vertrauten, auf die abscheulichste Art an die Sexualität herangeführt wurden? Das Wort Kin-desmissbrauch ist in Wahrheit ein dümmlicher und erbärmlicher Euphemismus für die wahren Vorgänge: die systematische Vergewaltigung und Folterung von Kindern mit Wissen und Unterstützung einer Hierarchie, die sodann die schlimmsten Täter mittels einer Versetzung in einer anderen Gemeinde in Sicherheit brachte. Angesichts dessen, was in jüngster Zeit in modernen Großstädten ans Licht gekommen ist, schaudert es einen bei dem Gedanken, was wohl in den Jahrhunderten vor sich ging, als die Kirche noch über jede Kritik erhaben war. Aber was hatte man auch anderes erwartet, wenn man die Schwächsten in die Obhut von Menschen gab, die, ihrerseits Außenseiter und nicht selten homosexuell, ein scheinheiliges Zölibat schwören mussten? Und die gelehrt wurden, mit ihrem Glaubensbekenntnis gebetsmühlenartig zu wiederholen, dass Kinder Auswüchse des Satans sind? Die daraus erwachsende Frustration drückte sich bisweilen in exzessiver körperlicher Züchtigung aus, die für sich genommen schon schlimm genug ist. Doch wenn, wie geschehen, die künstliche Selbstbeherrschung zusammenbricht, führt das zu einem Verhalten, das kein masturbierender, hurender Durchschnittssünder auch nur in Betracht ziehen würde, ohne dass es ihn vor sich selbst grauste. Wir haben es hier nicht mit einigen wenigen Delinquenten unter den Schäfern zu tun, sondern mit dem Ergebnis einer Ideologie, die dem Klerus die Macht zu sichern suchte, indem sie sich die Kontrolle über den Sexualinstinkt, ja über die Sexualorgane der Menschen anmaßte. Wie der Rest der Religion hat auch dieser Aspekt seinen Platz in der angstgeschüttelten Kindheit unserer Spezies.

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Auszug aus Christopher Hitchens „Der Herr ist kein Hirte“.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages. © 2007 by Karl Blessing Verlag, München.