Unheilbar Schwerstkranke haben in "extremen Ausnahmesituationen" ein Recht auf Mittel zur Selbsttötung, wie das in der Schweiz dazu gebräuchliche Mittel Natrium-Pentobarbital (Nap). Das entschied gestern das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Die Richter machten verfassungsrechtliche Gründe geltend und verwiesen auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht – dies könnte Auswirkungen auf die laufenden Verfassungsbeschwerden gegen den rigorosen § 217 StGB haben. Patientenschützer kritisierten das Leipziger Urteil scharf. Zustimmung gab es hingegen vom Humanistischen Verband Deutschlands (HVD). Die Humanisten hatten schon 2014 die Zulassung von Nap für die ärztliche Suizidhilfe gefordert und bestimmte Sorgfaltskriterien dazu vorgeschlagen.
Für sterbewillige Patienten kann es in Deutschland in Extremfällen einen Zugang zu einer tödlichen Dosis Betäubungsmittel für einen Suizid geben. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig entschieden. Geklagt hatte ein Mann aus Braunschweig für seine inzwischen verstorbene Ehefrau. Seit einem Unfall im Jahr 2002 war sie vom Hals abwärts komplett gelähmt. Sie musste künstlich beatmet werden und war ständig auf medizinische Betreuung und Pflege angewiesen. Häufige Krampfanfälle verursachten ihr starke Schmerzen.
Sie wollte ihrem als unwürdig empfundenen Leben ein Ende setzen und beantragte beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die Erlaubnis, 15 Gramm Natrium-Pentobarbital zu erwerben. Das Institut lehnte ab, weil dies durch das Betäubungsmittelgesetz ausgeschlossen sei. Die Frau nahm sich schließlich 2005 in der Schweiz mit Unterstützung des Sterbehilfevereins DIGNITAS das Leben.
Begründung mit grundgesetzlich geschütztem Persönlichkeitsrecht
Ihr Ehemann hatte sich seither durch die Instanzen geklagt. Er wollte festgestellt wissen, dass der Bescheid des BfArM rechtswidrig war. Erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg entschied 2012, der Mann habe Anspruch auf eine begründete Entscheidung. Aufgrund dessen hob der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts jetzt die vorangegangenen Urteile auf. Die Verweigerung eines Medikaments zur Selbsttötung sei hier rechtswidrig gewesen. Damit hat das Gericht zumindest für ähnlich gelagerter Fälle einen bisher verschlossenen Weg eröffnet.
Die Leipziger Richter argumentierten mit dem Grundgesetz: "Aus Sicht des Senats ist die entscheidende Frage, wie es verfassungsrechtlich zu sehen ist", sagte die Vorsitzende Richterin Renate Philipp in der mündlichen Verhandlung. Das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen aus Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes schütze auch das Recht des Einzelnen, seinem Leben ein selbstbestimmtes Ende zu setzen.
Allerdings machten die Bundesverwaltungsrichter klar, dass es nur um besondere Extremfälle gehen könne. Es sei "eine Ausnahme für schwer und unheilbar kranke Patienten zu machen, wenn sie wegen ihrer unerträglichen Leidenssituation frei und ernsthaft entschieden haben, ihr Leben beenden zu wollen, und ihnen keine zumutbare Alternative - etwa durch einen palliativmedizinisch begleiteten Behandlungsabbruch - zur Verfügung steht".
Kontroverse geht weiter: Lebensschutz gegen Selbstbestimmung
Die Entscheidung könnte dennoch bahnbrechend für die Zukunft sein und vielleicht auch eine Signalwirkung für die in diesem Jahr anstehende Prüfung des § 217 StGB durch das Bundesverfassungsgericht haben. Die Leipziger Richter ließen offen, ob die Frau des Klägers tatsächlich so ein extremer Einzelfall gewesen wäre. Das BfArM hätte das damals aber sorgfältig prüfen müssen – so lautet die Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, welcher die Streitfragen selbst dann aber immer den Nationalstaaten überlässt.
Kritik an dem Urteil kam von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Die Entscheidung sei praxisfern. "Denn was eine unerträgliche Leidenssituation ist, bleibt offen", erklärte Vorstand Eugen Brysch der Süddeutschen Zeitung. "Doch Leiden ist weder objektiv messbar noch juristisch allgemeingültig zu definieren. Auch ist das ein Schlag ins Gesicht der Suizidprävention in Deutschland." Es sei "gut, dass der Bundestag im November 2015 die geschäftsmäßige Suizidbeihilfe verboten hat ... Sonst würden Sterbehelfer in Deutschland den Tod aus den Gelben Seiten mit Rückendeckung des Bundesverwaltungsgerichts organisieren können", sagte Brysch.
Demgegenüber kommentierte Gita Neumann vom Humanistischen Verband Deutschlands (HVD): "Wir begrüßen den individualrechtlich begründeten, liberalen Tenor der Entscheidung. Es wäre zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgerichts bei den anhängigen Beschwerden gegen das Suizidhilfeverbot im § 217 StGB davon nicht unbeeinflusst bleibt. Pegida-ähnliche Sprachbilder wie 'der Tod aus den gelben Seiten' als angebliche Gefahr sollten aus dem seriösen lösungsorientierten Diskurs verbannt werden.“
Zulassung von Natrium-Pentobarbital schon 2014 vom HVD gefordert
Der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) hatte bereits 2014 im Vorfeld der gesetzlichen Suizidhilferegelung u.a. einen solchen Vorschlag unterbreitet. Damals erschien dies keinem einzigen Parlamentarier als unterstützenswert. Stattdessen wurde mit großer Mehrheit das Verbotsgesetz zur Suizidhilfe im § 217 StGB verabschiedet. In der Positionsbestimmung des HVD "Am Ende des Weges", hrsg. von Erwin Kress u.a. heißt es dazu:
Zulassung von Natrium-Pentobarbital
"Wenn Ärzten – eingebettet in die Suizidkonfliktberatung gemeinnütziger Organisationen – Handlungsoptionen zur Suizidhilfe eingeräumt werden sollen, muss diese auch fachgerecht, d .h. nach dem Stand der ärztlichen Kunst, erfolgen können. International gilt dabei als sanfteste und sicherste Methode die Gabe von Natrium-Pentobarbital (wie in der Schweiz gebräuchlich). Es führt mit hinreichender Sicherheit zu einem raschen "Einschlafen". Zwar gibt es auch grundsätzlich geeignete Kombinationsmöglichkeiten anderer Stoffe, um einen Suizid herbeizuführen – diese sind aber in ihrer Wirkung weit weniger gut erforscht als Natrium-Pentobarbital. Dieses sollte deshalb durch eine Änderung des Gesetzes über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (BtMG) zur ärztlichen Suizidbegleitung in der Humanmedizin zugelassen werden.
Bei der Genehmigung der Gabe von Natrium-Pentobarbital wären an geeigneter Stelle Ausführungsbestimmungen zu erlassen. Darin sollten, da dieses Mittel – wie sonst kein anderes – ausschließlich zum Ziele der ärztlichen assistierten Selbsttötung verordnet wird, strenge Sorgfaltskriterien festgelegt werden. Natrium-Pentobarbital darf – anders als z. B. Morphin oder hochwirksame Schlafmittel – nicht in die Hände von Patienten oder Angehörigen gegeben werden. Vom behandelnden Arzt soll nachgewiesen werden müssen, dass er einen ärztlichen Kollegen konsultiert hat und dass eine anerkannte Suizidkonfliktberatungsstelle mitgewirkt hat." (S. 11).
7 Kommentare
Kommentare
Klaus Bernd am Permanenter Link
Ich teile die Empörung von Frau Neumann über den schwülstigen Kulturpessimus nach Art von H.
agender am Permanenter Link
"Patientenschützer" in Anführungszeichen, bitte!
Es geht um Fanatiker, die ihren Glauben an ein Leben nach dem Tod und die Angst vor ihrer Hölle mit dem Strafrecht aufzwingen wollen, weil die meisten Menschen durchaus akzeptieren können, dass wir sterblich sind, und die grosse Mehrheit schon der jetzt älteren Jahrgänge (nicht nur der jüngeren) verstehen, dass herausgezögertes Sterben eine Qual ist.
Gita Neumann am Permanenter Link
Die Fanatiker glauben wohl selbst nicht mehr an Hölle und Teufel (wie der jetzt gefeierte Luther), vielleicht nicht mal an einen Gott.
Gita Neumann
Peter Koch am Permanenter Link
Ein erster Schritt in die Richtung des letzten Menschenrechts! Wer gegen kommerzielle Suizidhilfe wettert, sollte sie nicht völlig verbieten, sondern eine nicht-kommerzielle Lösung zulassen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Es tut sich endlich was in die richtige Richtung.
Thomas am Permanenter Link
"Sonst würden Sterbehelfer in Deutschland den Tod aus den Gelben Seiten mit Rückendeckung des Bundesverwaltungsgerichts organisieren können", sagte Brysch."
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Udo Endruscheit am Permanenter Link
Aus allen Poren von Herrn Bryschs Statement quillt die Vorstellung, dass er dem Leidenden tatsächlich das vom BVerwG betonte individuelle Recht in einer Extremsituation absolut nicht zubilligen will.