Die geprügelte Generation

Die Nazi-Erziehungs-Ideologie und ihr Fortwirken in der Bundesrepublik

Ingrid Müller-Münz verweist auf die seinerzeit noch deutlich vorhandenen Prägungen der Elterngeneration aus der Nazizeit, in der es bekanntlich nicht auf die Befindlichkeit des Kindes, auf Liebe und Zuwendung, sondern auf Funktionieren und Gehorchen ankam. Erziehung zur Härte wurde in der Nazizeit propagiert, bei der empfohlen wurde, schon Neugeborene „abzuhärten“, etwa dadurch, den Säugling sofort nach der Abnabelung in Tücher zu hüllen, zur Seite zu legen und erstmal für 24 Stunden allein zu lassen, um ihn erst dann zum ersten Stillen zu holen. Dies entsprach den Vorstellungen eines gewissen Adolf H., der bereits in „Mein Kampf“ forderte, dass die jungen Körper schon in ihrer frühesten Kindheit zweckentsprechend behandelt werden sollten, um „die notwendige Härte für das spätere Leben erhalten…“ Die Hauptpropagandistin der Nazi-Erziehungsideologie war übrigens mit ihren Erziehungsratgebern dann bis in die 60er Jahre hinein bundesweit tätig und prägte die damaligen Erziehungsvorstellungen.

Beschrieben werden zahlreiche Beispiele von Anforderungen von Eltern an die Kinder, die nationalsozialistischem Gedankengut entsprachen und doch in der Bundesrepublik weiter praktiziert worden sind. Dargestellt werden Erziehungsauffassungen aus den letzten Jahrhunderten, die nahezu ausschließlich zum brutalen Verhalten bei der Erziehung rieten, zum Kleinmachen des Kindes nach dem Motto des Herrn Daniel Gottlieb Moritz Schreber - dem Vater des Schrebergartens - der nicht nur lehrte, dass die Kinder den Vater als gottähnliche Gestalt zu verehren und zu fürchten hätten, der sie auch sie fesselte und einsperrte; und der empfahl, Prügel zur Disziplinierung bereits des Säuglings einzusetzen, denn: „eine solche Prozedur ist ein- oder höchstens zweimal nötig, und – man ist Herr des Kindes für immer.“ Andere Auffassungen, wie die etwa Jean-Jaques Rousseau bereits im 18. Jahrhundert in seinem Buch „Emile“ veröffentlichte, dass Erziehung anders verlaufen müsse, da das Kind von Grund auf gut sei und (lediglich) vor schlechten Einflüssen der Gesellschaft geschützt werden müsse, weswegen nicht gestraft werden solle, sondern das Kind die realen Auswirkungen seines Verhaltens erfahren müsse, gingen in den Zeitläufen unter, gelangten in Deutschland erst in der Weimar Republik zu einer bescheidenen Existenz, wurden dann von den Nazis ausnahmslos eliminiert und brachen sich erst in der Bundesrepublik Deutschland ab den 60er/70er Jahren Bahn im gesellschaftlichen Bewusstsein.

Am Anfang ist Erziehung

Viel Schockierendes und Beklemmendes (etwa zur Geschichte eines Heimkindes) findet sich in dem Buch, in dem nicht nur berichtet, sondern auch analysiert und bewertet wird. Alice Miller, die bekannte Schweizer Psychoanalytikerin, wird zustimmend erwähnt mit ihrer Analyse, „dass das, was dem Kind in den ersten Lebensjahren passiert, unweigerlich auf die ganze Gesellschaft zurückschlägt, dass Psychosen, Drogensucht, Kriminalität, ein verschlüsselter Ausdruck der frühesten Erfahrungen sind.“ Die dargestellten Lebensläufe bestätigen in eindrucksvoller Weise das Diktum von Alice Miller, dass am Anfang stets Erziehung stehe, die die Menschen für ihr gesamtes Leben präge, eine Prägung, die allzu oft unreflektiert an die nächste Generation weitergegeben werde. Die Auffassungen der Vergangenheit bestanden darin, dass Gewalt und Zwang deshalb gegen Kleinkinder angewendet werden solle, weil sie in diesem Alter beeinflussbar seien und der „Vorteil“ darin bestünde, dass sie sich später an die Gewalt und den Zwang nicht erinnern könnten, weswegen die Gewalt auch keine schlimmen Folge habe: Alice Miller hat derartigen Auffassungen (die auch durch moderne wissenschaftliche Erkenntnisse widerlegt sind) stets widersprochen; das Buch von Ingrid Müller-Münz ist ein eindrucksvoller Beleg gegen diese These vergangener Jahrhunderte und ein leidenschaftliches Plädoyer für eine andere Erziehung.

Ingrid Müller-Münch zeigt aber auch anschaulich, dass später - bei der Erziehung der eigenen Kinder – doch ein sehr unterschiedlicher Umgang mit den eingebläuten Erfahrungen möglich war, die einen machten weiter wie ihre Eltern, andere wählten bewusst andere Erziehungsmethoden und hatten ein schlechtes Gewissen, wenn ihnen tatsächlich einmal in einer Stresssituation die Hand ausgerutschte. Der gesellschaftlich Durchbruch der Ächtung von Gewalt in der Kindererziehung kam mit der 68er-Bewegung, mit den Kinderläden. Vor gut zehn Jahren gab es dann gesetzliche Regelungen zum Züchtigungsverbot, aber das Thema ist immer noch nicht vom Tisch. Wenn auch weniger als früher, so wird immer noch zuviel in Deutschlands Familien geprügelt.

Gerade in einer Zeit, in der bundesdeutschen Öffentlichkeit eine breite Debatte über das Kind, über seine Entwicklung, über das Elternrecht und die Einwirkungsberechtigungen von Eltern auf das Kind, entbrannt ist, kommt dieses Buch zur rechten Zeit, zeigt auf, was früher war, und macht deutlich, was heute (weiter) nötig ist.

Das Buch sollte gelesen werden, von den einen als Erinnerung an die eigene Kindheit und für die daraus erwachsende Beurteilung des heute Notwendigen, von den anderen, um sich zu vergewissern, wie sie ihre eigenen Kinder erziehen wollen und was es dabei zu beachten gilt. Und von den zuständigen Politikern schließlich, damit sie wissen, worüber sie entscheiden, wenn sie sich mit Kinderrechten befassen. 

Walter Otte
 

Ingrid Müller-Münch - Die geprügelte Generation: Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen - Klett-Cotta 2012 - 19,95 Euro - ISBN: 3608946802