Boris Palmer: "Wir können nicht allen helfen"

Selbstverständliches als Provokation?

"Wir können in der Tat nicht allen helfen". Diese Kernaussage des Buchs von Boris Palmer ist richtig und wegen ihrer Selbstverständlichkeit auch derart umstritten. Sie untergräbt das persönliche Selbstverständnis vieler, die ihre persönliche Moralität mit politischem Handeln verwechseln. Die gegen Palmer und seine Positionen vorgebrachte Polemik ist in der Sache vielfach unpräzise. Ihr eigen ist der Duktus höchster Empörung verbunden mit einem bisweilen nebulösen Umgang mit unangenehmen Fakten.

Aber erst mal ein paar Worte zu dem viel geschmähten grünen Oberbürgermeister von Tübingen. Wer sich über seine – vor allem in sozialen Netzwerken gern auch provozierenden - Äußerungen kennt, der kennt ihn schlecht. Er wurde 1972 als Sohn des Obstbauern Helmut Palmer geboren, der als "Remstal-Rebell" zu einem Stück Geschichte des Bundeslands Baden-Württemberg wurde. Glaube an Autoritäten und Abnicken allgemeiner Mehrheitsformeln waren seine Sache nicht. Das hatte schon Klein-Boris in den Genen. Diese Jahre, die sein Vater zeitweilig im Gefängnis verbringen musste, haben den Sohn geprägt. Er wollte aber praktisch arbeiten und vor Ort die Dinge gerade rücken. Mit 34 Jahren wurde er 2007 zum Oberbürgermeister von Tübingen gewählt – und 2014 mit 61,7 Prozent der Stimmen für weitere acht Jahre im Amt bestätigt. Er kennt die Probleme vor Ort – vielfach besser als andere. Wer langsamer denkt als er, kommt dann gerne in den Genuss bisweilen deftiger Bemerkungen, vorwiegend auf Facebook. Aber er muss deutlich mehr einstecken als er austeilt.

Wer freilich in seinem Buch die große persönliche Abrechnung mit seinen politischen Kontrahenten innerhalb und außerhalb der grünen Partei erwartet, wird enttäuscht. Das Buch ist sachlich geschrieben und geprägt von den Erfahrungen, die viele Bürgermeister im Jahre 2015 machen mussten, als rund 900.000 Menschen auf der Flucht vor Verfolgung und Bürgerkrieg nach Deutschland kamen.

Hier liegen seine großen Stärken und machen die Lektüre zu einem Gewinn. Die Schilderung der praktischen Schwierigkeiten beim Bau neuer Unterkünfte für Flüchtlinge ist stellenweise Realsatire. Ein – wenig genutzter – Tennisplatz in der Nähe mache in einem Fall ein Gutachten zu Lärmschutz für die Schlafräume erforderlich. Es wird zwar in der Nacht kein Tennis gespielt, aber es war zu laut. Ende vom Lied: die Unterkunft musste "gedreht" werden. Jetzt liegen die Schlafräume an der Hauptverkehrsstraße. Da ist zwar viel lauter als gegenüber dem leeren Tennisplatz. Wegen der höheren Toleranzwerte für den Straßenverkehr ist das aber vom Gesetz so gewollt.

Palmer hat Recht

"Es ist nicht dasselbe, Eigenschaften einer Gruppe von Menschen zu beschreiben oder sie zu einer Masse ohne menschliche Individualität zu machen. Wir dürfen über Prägungen reden, die Menschen bestimmter Herkunft haben, einfach weil es sie gibt. Was wir nicht dürfen, ist Menschen zu unterstellen, sie seine durch Herkunft bereits auf solche Eigenschaften festgelegt und faktisch austauschbar." Hier löst er ein Tabu auf und legt die dahinter liegenden Verklemmungen offen. Es sind diese Beispiele, unterfüttert mit der praktischen Erfahrung vor Ort, mit der das Buch die bundesweite politische Debatte bereichert.

Bei der Flüchtlingspolitik geht es nicht nur um Gut und Böse. Diese Entrücktheit ist – er drückt es sprachlich vorsichtiger aus – Kirchentagslyrik mit Frau Käßmann als oberster moralischer Instanz von Gottes Gnaden.

Ob es um Kriminalität oder die Versorgung mit Wohnraum geht. Sein Bestreben ist eine vorurteilsfreie und sachbezogene Debatte sowie eine darauf begründete Entscheidungsfindung. Er mahnt an, endlich damit aufzuhören, eine von Moralismus und Ängsten geprägte Debatte fortzuführen und dabei die Fakten zu vernachlässigen. Die Verteufelung anderer Positionen spaltet die Gesellschaft und führt nicht zu besseren Lösungen.

Wir brauchen – und er schreibt nichts Gegenteiliges - eine humane Flüchtlingspolitik und gleichzeitig die Steuerung und Kontrolle der Zuwanderung. Offene Grenzen sind nicht die Lösung des Problems, auch wenn einige diese Chimäre zäh und verbissen verteidigen. Offene Grenze werden von einer großen Mehrheit der Menschen klar abgelehnt. Sie führen zur Überforderung auf der einen und dem faktischen Verzicht auf eine Auswahl derer, dem geholfen wird und geholfen werden muss. Dogmatisches Herangehen an diese diffizilen Probleme bleibt in Schwarz-Weiß-Kategorien hängen und vernachlässigt pragmatische Problemlösung.

Die Gedankenführung ließe sich auch noch zugespitzter formulieren. Ist es moralisch hochwertiger, jungen Männer aus einem afrikanischen Land unter Lebensgefahr nach Europa kommen zu lassen, hier zu versorgen, sie kulturell an die neue Umgebung zu gewöhnen und womöglich über Jahre sprachlich und fachlich auszubilden. Vielfach können sie ohnehin die von ihren Familien gesetzten Erwartungen nach schneller finanzieller Hilfe nicht erfüllen. Oder wäre es nicht humaner und zudem wirkungsvoller, mit den gleichen finanziellen Mitteln der Herkunftsgemeinde zu helfen, wirtschaftlich über die Runden zu kommen und auch den jungen Menschen eine Perspektive zu bieten, deren Familien es sich nicht leisten können, die Schlepper für die teure Flucht zu bezahlen?

Kritikpunkte

Das Buch liest sich vorzüglich. Boris Palmer gehört wahrlich nicht zu denen, die sich von einer Zitatengirlande zur nächsten hangeln, ohne je den Boden der Tatsachen zu berühren. Die gewählte Darstellungsweise hat aber auch ihren Preis. An bestimmten Stellen hätte ein wenig mehr Aufwand bei den Belegen für die Fundstellen gut getan. Eine etwas genauere und umfassendere Darstellung der Kosten für Bund, Länder und Gemeinden wäre für den Mathematiker und Haushaltsfachmann Palmer ein Klacks gewesen. Auch ein Register hätte der Verständlichkeit gut angestanden.

An der einen oder anderen Stelle wäre Palmer sicher gut beraten, in einer – zweiten – Auflage die Darstellung juristischer Fragen etwas gründlicher anzugehen und so die Leserinnen und Lesern etwas besser durch das Gestrüpp häufig gegensätzlicher juristischer Positionen zu führen.

Es würde sogar die Aussage des Buches stützen, würde beispielsweise der Unterschied zwischen lediglich subsidiär Schutzberechtigten nach § 4 Absatz 1 Satz 1 Asylgesetz und dem Flüchtlingsstatus nach § 3 Absatz 4 Satz 1 herausgearbeitet und hinsichtlich der Konsequenzen besprochen. So begründet der Flüchtlingsstatus den Anspruch auf Familiennachzug.

Rechtlich und tatsächlich sollte auch erläutert werden, dass es gerade bei syrischen Flüchtlingen Abschiebehindernisse gibt, weil ihnen in der Heimat eine konkrete Gefahr für Leib, Leben und Freiheit besteht. Diesen Schutz für Leib und Leben gewährleisten aus gutem Grund das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention. Zudem müssen die aufnehmenden Staaten mit der Rückkehr ihrer Landsleute einverstanden sein. Ob Deutschland aber ausgerechnet mit dem Assad-Regime über eine solche Zustimmung zur Rücknahme verhandeln sollte, ist mehr als fraglich. Auch Abschiebungen nach Afghanistan dürften aus den gleichen Gründen nur in wenigen Ausnahmefällen – wenn überhaupt – möglich sein.

Man muss aber nicht immer mit Palmer einer Meinung sein. Diskussion und sachliche Auseinandersetzung sind wesentliche Voraussetzungen der Demokratie. Der hat Palmer mit seinen Ausführungen einen wichtigen Dienst geleistet.

Boris Palmer, Wir können nicht allen helfen, Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit, Siedler-Verlag München, Erste Auflage 2017, ISBN: 978-3-8275-0107-3, 18,00 Euro