Von Alan Posener
Es kommt alles wieder. Als ich 1970 mit dem Lehrerstudium begann, war die „kompensatorische Erziehung“ in aller Munde. Es ging um die Frage, weshalb Arbeiterkinder – oder besser: „Unterschichtkinder“ – so selten Gebrauch machten von den erweiterten Bildungsangeboten, die ihnen die Reformen der 1950er Jahre zugänglich gemacht hatten...
In einem neuen Buch [...] beschäftigt sich der New Yorker Journalist Paul Tough mit den Faktoren des Schulerfolgs und – wichtiger – des Erfolgs im Leben, und findet, dass die Messung der Intelligenz, etwa durch IQ-Tests – Überraschung! – ein schlechter Gradmesser ist...
Angesichts einer steigenden Zahl auch bürgerlicher verhaltensgestörter Kinder und Jugendlicher, die diverse Lernschwierigkeiten, Unlust und Leistungsverweigerung an den Tag legen, haben viele Ratgeber Konjunktur, die in Anlehnung an Michael Winterhoffs These von den „kleinen Tyrannen“ die Schuld für diese Entwicklung darin sehen, dass in der Folge der „antiautoritären Erziehung“ Eltern vergessen haben, Nein zu sagen.
Deshalb lernten die Kinder halt nie, mit Frustrationen umzugehen. Diese relativ simple Denkschule ist in Deutschland so mächtig, dass ein Buch des dänischen Familienpsychologen Jesper Juul, der eigentlich einen ganz anderen Ansatz vertritt, von seinem deutschen Verlag den Titel „Nein aus Liebe“ verpasst bekam, was Juul, wie er mir im Interview sagte, für „faschistisch“ hält.
Die Psychologen und Neurologen, die Tough befragte, haben etwas weniger spekulative Antworten auf die Frage, wie Kinder lernen können, mit Frustrationen umzugehen. Ihre Forschungen zeigen, dass Armut, dysfunktionale Familien, Gewalt und sexueller Missbrauch – kurz: extremer Stress – den präfrontalen Cortex beschädigen, und zwar derart, dass die beschädigten Kinder es schwieriger finden, schädliche Impulse zu unterdrücken.
Herkunft ist Schicksal – nicht mittels der Genetik, aber mittels der Biochemie. Armut ist nicht, wie Rilke meinte, „ein großer Glanz aus innen“, sondern ein Verbrechen gegen kleine Kinder, die mit einem in die Neuronen eingeschriebenen Defekt in die Schule kommen.