Selbstorganisation und Hedonismus

Bernulf Kanitscheider zählt zu den bekanntesten naturalistischen Philosophen im deutschsprachigen Raum.

Der Professor für die Philosophie der Naturwissenschaft (Gießen) hat in seinen Werken wesentliche Beiträge geleistet, die Idee eines sich selbst organisierenden Kosmos zu verbreiten. Im Gegensatz zu vielen Fachkollegen hat sich Kanitscheider aber auch immer wieder zu gesellschaftlich relevanten Fragen geäußert. Insbesondere seine Verteidigung des Hedonismus brachte dem renommierten Wissenschaftler nicht nur Beifall ein.

 

Soeben ist im Alibri Verlag sein neues Buch Die Materie und ihre Schatten erschienen. Darin behandelt er grundlegende Aspekte einer naturalistischen Wissenschaftsphilosophie, zeigt auf, an welche Traditionslinien sie anknüpfen kann, und erörtert die Möglichkeiten des „guten Lebens“.

hpd: Professor Kanitscheider, was sind das, die „Schatten“ der Materie?

Bernulf Kanitscheider: Die materielle Beschaffenheit der grobsinnlichen Welt steht außer Zweifel. Je mehr wir jedoch in die Feinstruktur der Natur eindringen, tauchen Begrifflich­keiten auf, bei denen man Zweifel haben kann, ob sie sich noch auf Objekte richten, die die gleiche Substantialität wie die sichtbaren, tastbaren, hörbaren Gegenstände der Wirklichkeit besitzen. Als ein Beispiel können virtuelle Teilchen in der Physik genannt werden, deren Status auch unter den Experten umstritten ist. Genauso gibt es eine lebendige Diskussion über den Realitätsstatus der computergenerierten Welten.

hpd: Ein Kapitel Ihres neuen Buches heißt „Zankapfel Naturalismus“. Was gibt es denn über eine naturalistische Sicht der Welt heute noch zu streiten?

Kanitscheider: Die Naturalismusdebatte ist heute erst einmal durch das Wiedererstarken religiöser Strömungen im ideologischen Bereich virulent geworden. Auf der intellektuellen akademischen Ebene sind es vor allem die Problemkomplexe in der Philosophie des Geistes um den ontologischen Status des Bewusstseins, der menschlichen Freiheit und die Natur der Werte, die immer noch scharfe Kontroversen hervorrufen. Im vorliegenden Buch bin ich bemüht zu zeigen, dass die Bedenken unbegründet sind, dass Bewusstsein real ist, Freiheit des Handels als existierend und Werte im Sinne der Reaktion unserer emotiven Zentren als effektiv vorhanden betrachtet werden können. Dies alles jedoch, ohne dass der Grundsatz aufgegeben werden muss, wonach es überall im Universum mit realen Dingen zugeht.

hpd: Wie würden Sie dem Einwand begegnen, der Naturalismus nehme auch nur eine dogmatische Festlegung auf eine Methode bzw. ein Denksystem vor?

Kanitscheider: Der Naturalismus wie er heute von analytischen Philosophen vertreten wird, ist immer mit einem durchgängigen Kritizismus verbunden. Nicht nur alle Wirklichkeitsaussagen, ebenso auch alle metatheoretischen, methodologischen und erkenntnistheoretischen Thesen und Behauptungen unterliegen der Kritik, können falsch sein und gegebenenfalls verbessert werden. Daher ist der Dogmatismusvorwurf gegen den Naturalismus gegenstandslos.

hpd: Ein Schatten des Christentums dürfte ein Naturverständnis sein, das über 1.000 Jahre im „Abendland“ vorherrschte und auch heute noch verbreitet ist. Warum muss der Naturalismus seine Traditionslinien an antike Philosophen anknüpfen?

Kanitscheider: Einem heutigen Betrachter der ionischen Naturphilosophie muss die Rationalität, die Konsequenz und die Radikalität der vorsokratischen Denker geradezu ins Auge springen. Die materialistische Weltsicht wurde in der Denklinie Leukipp-Demokrit-Epikur-Lukrez in einer Vollständigkeit durchargumentiert, die es modernen Denkern leicht macht, die Brücke zur neuzeitlichen Naturwissenschaft zu schlagen. In der Übergangszeit der dann christlich geprägten Spätantike hat die Naturwissenschaft bis ca. zum Jahre 1000 gebraucht, um wieder auf das Niveau der griechisch-römischen Antike zu gelangen und auch in den folgenden 500 Jahren konnten in der Naturerkenntnis nur kleine Fortschritte erzielt werden. Erst die Renaissance-Astronomie hat dann, anschließend an antike Vorbilder, die großen Umbrüche eingeleitet. Aus den Problemen der Bewegung der Himmelskörper entwickelte sich dann die klassische Physik.

hpd: Diese veränderte Auffassung von der Natur beeinflusste auch die Vorstellung vom Ende der Welt...

Kanitscheider: Die christliche Eschatologie war vollständig von einem Katastrophenszenarium besetzt, wie es in der Offenbarung des Johannes („Apokalypse“) geschildert wird. Die alternative Möglichkeit, dass die zeitliche Entwicklung der Welt in einem langsamen Auslaufen aller lokalen physikalischen Prozesse bestehen könnte, dass anstatt eines Endes mit Schrecken, auch die wachsende Verödung und Ereignislosigkeit das späte Schicksal des Universums bilden könnte, wurde gar nicht wahrgenommen. Erst die Thermodynamik im 19. Jahrhundert brachte dann auch die Philosophen auf die Idee, dass das Ende aller Zeiten in der ereignislosen Verödung bestehen könnte.

hpd: Mittlerweile gibt Szenarien, wie unser Universum in einigen Jahrmilliarden enden wird. Mir erscheinen sie gut nachvollziehbar – jedenfalls für alle, die nicht von der Existenz außerweltlicher Einflussgrößen ausgehen.

Kanitscheider: Nach dem gegenwärtigen Stand astrophysikalischen Wissens geht die Expansion des unendlichen kosmischen Raumes ewig weiter. Die Materie dünnt immer mehr aus und alle stellaren, galaktischen Vorgänge kommen dann zum Erliegen. Eine Wiederingangsetzung dieses linearen einsinnig gerichteten Prozesses ist momentan keine naturwissenschaftliche Denkmöglichkeit. Allerdings kann sich in der Kosmologie noch viel ändern, aber philosophische Schlüsse kann man immer nur aus dem gegenwärtigen Stand des Fachwissens ziehen.

hpd: Selbstorganisation ist bei Ihnen ein zentraler Begriff. Auf welche Bereiche ist er anwendbar?

Kanitscheider: Selbstorganisation ist ein systemübergreifendes Konzept der Strukturentstehung. Von der Entwicklung galaktischer Gebilde bis zu den planetaren Systemen der Pflanzen- und Tierwelt kann diese allgemeine Strukturtheorie erklären, wie sich aus einfachen Elementen und deren dynamischer Wechselwirkung Schritt für Schritt die komplexe Welt, wie wir sie heute beobachten, ohne einen externen Organisationsplan aufgebaut hat.

hpd: Lassen sich damit auch gesellschaftliche Prozess erklären?

Kanitscheider: Es ist versucht worden, auch soziale und ökonomische Systeme speziell das Funktionieren des Marktes als einen Anwendungsfall der spontanen Ordnungsentstehung zu begreifen. Von den Urhebern dieser Theorie insbesondere Hermann Haken und Ilya Prigogine sind auch die Vorgänge der Wissensentwicklung ebenso wie auch geographische Prozesse etwa Urbanisierungsvorgänge von ländlichen Gebieten mit der Thermodynamik der Ungleichgewichte beschrieben worden. Die Reichweite der Selbstorganisationstheorien abzustecken, ist heute ein intensives Forschungsgebiet.

hpd: Der praktischen Philosophie, also der Frage, wie wir leben sollen, widmen Sie in Ihren Arbeiten seit längerem großen Raum. Lassen sich aus der Natur Normen für unser menschliches Zusammenleben ableiten?

Kanitscheider: Eine bedenkenlose Übernahme von naturwüchsigen Strebungen speziell im Bereich der Aggression würde zu einem anarchischen Sozialwesen führen. Zudem bestehen trotz der Versuche von John Searl immer noch logische Bedenken von deskriptiven Prämissen zu präskriptiven Folgerungen überzugehen. So wird in dem vorliegenden Buch der Naturalismus in der Ethik nur in dem schwächeren Sinne vertreten, dass ein Normensystem auf die natürlichen Strebungen der Menschen Rücksicht nehmen sollte, soweit dies mit einer glücklichen, harmonischen Gemeinschaft aller Individuen verträglich ist.

hpd: Möglichst viel Freude im Leben zu empfinden, klingt gut – aber warum ist das entsprechende philosophische Konzept, der Hedonismus, so schlecht angesehen?

Kanitscheider: Der schlechte Ruf des Hedonismus liegt wohl in erster Linie daran, dass man die langzeitlich disponierte Sorge für sich selbst mit einem krassen Egoismus, wonach der Einzelne zu seinem momentanen Vorteil über Leichen geht, gleichsetzt. Dabei ist es gerade im Interesse jedes Einzelnen gelegen, dass es auch seinem Nachbarn gut geht, denn dann lebt auch er selber in einer zufriedeneren Umgebung und diese harmonische Umwelt trägt zu dessen eigenem Glück bei.

In zweiter Hinsicht ist wohl der mit dem Hedonismus verbundene Individualismus und die geringere Rolle des Kollektivs Ursache für eine häufige Ablehnung. Nun wird die Gemeinschaft, wie gerade Epikurs Gartenmodell zeigt, nicht verachtet, Solidarität und Fürsorge für den Mitmenschen ergeben sich jedoch, abgeleitet aus dem aufgeklärten Eigeninteresse jedes Einzelnen. Naheliegenderweise kommt der individualistische Hedonismus den Herrschenden als Repräsentanten und Verwalter des Kollektivs äußerst ungelegen, wünschen diese sich doch eine möglichst starke Unterordnung des Einzelnen unter die politischen Ziele des Staates und dies um so mehr, je totalitärer die Staatsform ist. Es nimmt deshalb nicht wunder, dass in fundamentalistischen, kommunistischen und faschistischen Gesellschafsordnungen der individualistische Hedonismus, der das Glück jedes Einzelnen betont, verhasst ist.

hpd: Trotzdem hört es sich für mich so an, als sei der Hedonismus ein Konzept für die Mittel- und Oberschichten in den reichen Industrienationen. Die meisten Menschen auf der Südhalbkugel können selbst von bescheidenstem Glück doch nur träumen...

Kanitscheider: Selbstredend setzt eine hedonistische Lebensgestaltung einen gewissen Handlungsspielraum voraus. Wenn aufgrund von ökonomischen oder existenziellen Not- oder Katastrophensituationen die Zahl der Aktions-Alternativen gegen Null geht, gibt es auch kaum mehr Möglichkeiten den Lebensstil frei zu wählen. Aber selbst wenn sich die Lebenslage nur ein wenig von der allergrimmigsten Not entfernt hat, so dass irgendwelche Wahlsituationen vorliegen, kann der Gesichtspunkt der freudvollen Optimierung des Lebensstiles wieder zum Tragen kommen.

hpd: Handeln die „Verdammten dieser Erde“, die sich mit dem „Opium des Volkes“ berauschen, anstatt für diesseitige Veränderungen zu kämpfen, aus hedonistischer Persepektive also klug oder töricht?

Kanitscheider: Ebenso wie man beim Drogenkonsum für deren Freigabe plädieren kann, ohne zu vertreten, dass er glücklich macht, muss man auch beim „Opium des Volkes“ nicht der Meinung sein, dass der „Konsum“ der Religion als Ablenkung von leidvollen Lebenssituationen zum Lebensglück führt.

Ein Hedonist wird also den Betäubungseffekt, den die Religionen bewirken, als Pseudolösung ansehen und dafür plädieren, die sozio-ökonomischen Lebensbedingungen aller Menschen so zu verändern, dass jeder Mensch ein wenig realen Lebensgenuss verspüren kann. Die Hypothek auf das transzendente Glück, von dem die Religionsverteidiger reden, ist de facto ein antihedonistischer Ersatz für etwas, das sie den Menschen in dieser Welt nicht gönnen.

Die Fragen stellte Martin Bauer.

Bernulf Kanitscheider: Die Materie und ihre Schatten. Naturalistische Wissenschaftsphilo­sophie. 298 Seiten, kartoniert, Euro 20.- ISBN 3-86569-015-9