Ist es denn immer nur der Schmerz, der die Leute umtreibt und den Wunsch nach Freitodbegleitung wachsen lässt?
Es ist vor allen Dingen die Würdelosigkeit der Situation. Der Schmerz steht nicht so um Vordergrund. Es ist immer die elende Situation, in der sich die Leute befinden, die Abhängigkeit von anderen, vor allen Dingen, das würdelose Dahinsiechen und die Aussicht, es wird nicht besser und ich muss mir das nicht bis zum Ende antun.
Und das ist nicht unbedingt eine Depression?
Depressionen sehe ich ganz selten, höchstens mal eine depressive Verstimmung. Die Leute, die ich kennenlerne sind in der Regel urteilsfähiger als der normale Bürger. Und vor allem urteilsfähiger, als manche sogenannte Fachleute oder politische Funktionäre.
Können Sie unterscheiden, ob jemand aus einer depressiven Verstimmung heraus in den Freitod gehen möchte und sich an Sie wendet oder ob er wirklich freiverantwortet und gut überlegt hat?
Ja, natürlich, das merkt man sofort im Gespräch, wenn jemand sehr stark psychische Probleme hat. Ich sage dann: Sie sollten nochmal zum entsprechenden Facharzt gehen, der das dann mit Ihnen nochmal bespricht. Ich glaube, Sie brauchen jetzt etwas anderes als die Hilfe, weswegen wir uns getroffen haben. Das spürt man als Arzt sofort, auch wenn man nicht vom Fach ist. Ich verweise dann an den Hausarzt oder rufe einen befreundeten Psychiater an und vermittle den Kontakt.
Kommt es auch vor, dass die Leute enttäuscht sind, weil Sie sagen, die Voraussetzungen für eine Freitodbegleitung sind nicht da?
Das kommt schon vor und ist sicherlich enttäuschend für die Betroffenen, aber beschwert hat sich noch keiner über meine Entscheidung. Die Menschen kleben doch am Leben. Auch wenn sie im Moment nicht das bekommen haben, was sie erwartet haben, akzeptieren sie doch die ärztliche Autorität. Allein das Gespräch bewirkt schon kleine Wunder.
Es gibt ganz oft den Wunsch von Menschen, dass sie die klassische „Sterbe-Pille“ gerne im Nachtkästchen hätten. So für alle Fälle. Gibt es die Pille schlechthin, wo kann ich das bekommen?
Es gibt keine Pille schlechthin. Ob es sie geben könnte oder ob man eine herstellen könnte, kann ich nicht beurteilen. Das Entscheidende ist hier, die Menschen haben zu Hause in ihrem Nachtkästchen ein Packung Aspirin und sie haben eine Packung Schlafmittel. Die nehmen sie ja nicht ständig ein, sondern nur dann, wenn sie Kopfschmerzen haben oder wenn sie mal nicht schlafen können. Darum soll man eigentlich auch ein Medikament zu Hause haben, das dann natürlich entsprechend verwahrt werden muss, damit es nicht in falsche Hände gerät. Ein Medikament, das man dann nimmt, wenn man so weit ist, und zwar ohne ärztliches Gutachten, ohne psychiatrisches Gutachten usw. Das ist eine Forderung, die stammt nicht von mir, sondern die kommt von einem bekannten Schriftsteller, der sterbenskrank ist; das ist natürlich provokativ. Er will eben niemand fragen, er will es ja selber entscheiden. Und das kann ich gut verstehen.
Der Schwangerschaftsabbruch muss ja auch nicht am nächsten Tag erfolgen, sondern braucht seine Zeit: medizinische und sozialpsychologische Beratung etc. Das Gleiche gilt für das Sterben. Wer wirklich diesen Weg gehen will, hat sich das lang und gründlich überlegt. Spontane Entschlüsse, sein Leben zu beenden, sind schlechte Entschlüsse. Kurzschlussreaktionen, sein Leben zu beenden, würde es vielleicht weniger geben, wenn die Möglichkeit bestünde, offiziell Sterbehilfe zu bekommen
Da hätten wir also eine reelle Chance, die „harten Suizide“ zu verringern?
Man wird die Gesamtzahl der Suizide nicht auffällig verringern, aber die harten Suizide bei kranken Menschen würden zurückgehen. Die Frauen machen ja jetzt auch keine Schwangerschaftsabbrüche mehr in der früheren Form mit Stricknadeln und unglaublichen Instrumenten, sondern das läuft ja alles irgendwo legal ab. Einige sind dabei, die dann doch keinen Schwangerschaftsabbruch machen, weil sie sich haben überzeugen lassen, das Kind zur Adoption oder zu einer Pflegefamilie zu geben, weil sie nach einer Beratung ihre Meinung geändert haben. Der Abtreibungswunsch ist ja nicht das allerletzte Wort einer aus welchen Gründen auch immer betroffenen Frau. Sondern unter dem Aspekt der Möglichkeit, es tun zu können, kommt man da vielleicht zu einer anderen Lösung bis dahin, das Kind vielleicht sogar zu akzeptieren.
Und das ist der vernünftige Weg, daran sollten wir uns orientieren. Der sollte für die Sterbehilfe auch möglich werden. Schlicht und einfach.
Vielen Dank für das Gespräch.
Erstveröffentlichung in der DGHS-Zeitschrift "Humanes Leben - Humanes Sterben" (HLS 2013-2).