Zehra zeigt nach links und erzählt von der Nacht des 1. Juni: "Sieh, hier auf dieser Straße war ich, ich wollte rüber ins Deutsche Krankenhaus, weil ich dort meine durch die Polizei in der Nacht zuvor verletzten Freunde besuchen wollte. Als ich an dieser Straße ankam wurde ich von einer Gaswolke erwischt, die die Polizei unermüdlich abfeuerte. Ich hustete heftig und bekam keine Luft; ich dachte das war‘s dann wohl, ich werde sterben. Du musst wissen, ich habe bereits eine OP am Hirn hinter mir. Ich dachte, ich falle in Ohnmacht und dann ist es vorbei. Ein paar Häuser weiter von hier kam eine Frau raus, sie hatte Wasser in Plastikflaschen vor ihrer Tür ..." "Hier haben zahlreiche Leute ihre Türen aufgelassen und Wasserflaschen vor die Türen gestellt. Sie haben mit ihren Fußmatten die Türen angelehnt, so dass die vor der Polizei flüchtenden Unterschlupf bekommen", ergänzt Sule.
Zehra fährt fort: "... das stimmt. Diese Frau rief mich rein. Ich ging zwar rein, aber auch im Hauseingangsbereich habe ich nicht atmen können. Die Frau schlug vor, zu ihr in die Wohnung zu gehen. Ich weiß nicht, auf welcher Etage die Wohnung war, aber ich fühlte, dass das Atmen besser wurde. Ich dachte daran, dass ich in der Nähe von Sule war und ob ich es irgendwie zu ihr schaffen könnte. Als es sich etwas zu beruhigen schien, verließ ich das Gebäude, in welchem ich vorübergehend Unterschlupf gefunden hatte und rannte los. Ich kam bis zur Ecke, als sie von allen Seiten schossen. Müllcontainer brannten - und zwar nicht, weil Demonstranten sie angezündet haben, sondern, weil die Patronenhülsen der Gasgranaten das Feuer entfachten. Schließlich habe ich es irgendwie bis zu Sule geschafft."
Sule zeigt mir ein Foto von Zehra und sagt, dass es eine Momentaufnahme sei. Sie lachen über den damaligen Zustand von Zehra und sie fährt fort:
"Sule bot mir eine Joghurtsuppe an und versorgte meine Augen. Als ich mich später etwas besser fühlte, bin ich wieder raus und machte mich auf den Weg zum Taksim Platz ... Fast am Platz angekommen, landete wieder eine Gasgranate in meiner Nähe ... und wieder konnte ich nicht atmen und dachte, ich falle gleich um. Dann kam ein junger Mann - 18 war er, nahm die Granate und schleuderte sie zurück in die Richtung der Polizisten. Dabei verbrannte er sich die linke Hand - er hatte keinen Schutz, war total unerfahren. Ich fragte ihn, woher er denn kommt und er antwortete, dass er ein Oberstufenschüler sei und mit seinen Klassenkameraden da wäre. Ich habe ihn mitgenommen in die entgegengesetzte Richtung und habe in einem Laden Wasser gekauft, um seine Hand abzukühlen … dann haben wir vom Ladenbesitzer Eis bekommen. Damit sind wir in die nächste Apotheke und haben dort rudimentär die Hand versorgen lassen. Dann sagte er mir, dass er sich besser fühlen würde und am besten wieder zurück zu seinen Freunden auf den Taksim Platz gehen möchte. Er hatte auch Brandwunden im Gesicht. Ich war sprachlos: Er ging zurück."
"Ich bin aus Beşiktaş und gehöre zu der çArşı Gruppe“, fährt Zehra fort, "... ich begegnete einem Kumpel aus dieser Gruppe und fragte ihn ironisch, was er denn hier machen würde, die ganze Gruppe wäre doch wieder auf dem Taksim Platz und er antwortete auf dieselbe Art zurück, dass es doch alles noch Grünschnäbel wären und wir als die wahre çArşı-Gruppe doch den Widerstand geleistet hätten."
Sie lacht und versucht die machohafte Art des Kumpels nachzuahmen. "Wir liefen ein Stück zusammen in Richtung Yildiz Universität. Vor der Uni sahen wir die Barrikaden der Polizei, die die çArşı Anhänger eingekesselt haben. Ein Durcheinander, die jungen Leute versuchen in die Seitenstraßen auszuweichen. Ich wohne dort in Yildiz am Barbaros Boulevard und rannte so schnell ich konnte, um die Hauseingangstür zu öffnen. Meine Tochter war auch dabei und gemeinsam riefen wir die jungen Leute rein. Kaum drin, war eine dabei, die nur noch röchelte und kaum atmen konnte. Wir versuchten zu helfen, aber es half wenig. Offensichtlich eine Asthmatikerin. Ich fragte sie, warum sie denn dabei sei, wenn sie doch Asthma hätte, dann wäre es doch umso gefährlicher. Also sind diese jungen Leute um die 20, mit diesem naiven Elan auf die Straßen - und sie antwortete mir röchelnd, dass sie nicht anders konnte, dass sie nicht zuhause bleiben konnte, wenn ihre Freunde im Getümmel seien. Sie ergänzte noch, dass sie es nicht bereuen würde auch wenn sie dabei draufgehen würde ... Dieses Mädel war gerade 19 Jahre alt. Wie Du siehst, er hat diese Menschen so weit gebracht, dass sie so verrückt sind. Und der Hinterhalt der Polizei ist ja noch schlimmer - wie können sie diese Barrikaden umstellen, diese Kinder in die Ecke drängen und sie unter dauerndes Pfeffergas setzen? Ich meine, ist das Leben denn so wertlos? Das waren Kinder, die 18, 19, höchstens 20 Jahre alt sind. Nehmt euch doch Erwachsene vor, denn wir sind bereit mit euch zu kämpfen! Aber Kinder, die noch nichts in ihrem Leben erlebt haben so niederzumachen, das ist unmenschlich! Diese Brutalität der Polizei in den ersten drei Tagen war heftig und nicht gerechtfertigt."
Lale erwähnt den Vorfall von Yakup, dem Sicherheitsangestellten der Schule ihrer Kinder. Sie erklären mir, dass die Schule ihrer Kinder an dem Regierungssitz des Ministerpräsidenten grenzt und dieses Gebiet immer eine Zielscheibe darstellt. Yakup hatte schon Feierabend und versuchte so schnell wie möglich zuhause anzukommen und somit den Gefechten der Polizei und Demonstranten zu entkommen. Kurz vor seiner Haustür trifft ihn eine der Gaspatrone im Gesicht. "Ein einfacher Mann, unpolitisch und hat weder mit der einen Seite noch mit der anderen Seite irgendetwas zu tun. Schau dir das Foto an. Die Verantwortlichen, aber auch die Polizisten, die haben kein Gewissen. "Unmenschen!", sagt sie und die Traurigkeit in ihrem Gesichtsausdruck ist unverkennbar.
Sule zeigt mir auf ihrem iPhone das Foto des Verletzten.
Er habe schon zwei Operationen hinter sich, aber die Ärzte sehen keine Chance für die Wiederherstellung. Das Kinn, die Kiefer mitsamt der Zähne sind zu stark zerfetzt, sodass er nie wieder so aussehen wird wie vorher.
"Es tragen nun so viele Menschen schwere Verletzungen, es sind auch welche gestorben. Genau deshalb darf all der Protest nicht umsonst sein. Wir dürfen uns nicht beugen!" sagt Zehra.
Çapulcu Zeliha
Bericht aus Istanbul (1) (13.06.2013)