Bericht aus Istanbul (3)

25.6.2013 – Suadiye-Kadiköy/Istanbul

Wir entscheiden den Tag auf der asiatischen Seite der Stadt zu verbringen und nehmen die Fähre nach Kadiköy. Dort treffen wir uns mit meiner Cousine, in Begleitung einer Verwandten ihres Ehemannes.

Ezgi, 21, studiert Architektur an der Mimar Sinan Universität in Istanbul. Ich erfahre von ihr, dass sie seit Beginn der Proteste gemeinsam mit Kommilitonen und Freunden im Gezi Park war. Von den Bauplänen der AKP Regierung auf dem Taksim Gelände und Gezi-Park erfuhr sie in ihrem Studiengang von einem ihrer engagierten Dozenten, ein Mitglied der Taksim Solidaritätsplattform. Sie ist zusätzlich über Twitter und Facebook gut vernetzt und hat über diese Plattformen auch den Aufruf zum Protest erfahren. Ende Mai, einige Tage vor den brutalen Angriffen der Polizei, haben sie sich entschieden, mit ihren Zelten im Gezi Park gegen das Vorhaben zu protestieren.

"Als wir zum Protest unsere Lager im Park aufgeschlagen haben, waren wir völlig losgelöst von politischen Parteien. Die Absicht war einfach, nämlich die persönlichen Freiheiten zu schützen. Mit unserem Protest wollten wir die Botschaft an die Regierung und Erdogan vermitteln: 'Du kannst Dich nicht einmischen, was wir essen, was wir trinken. Du kannst unsere Bäume nicht verschwinden lassen'. Es war friedlich im Gezi Park, wie ein großes Festival… bis die Polizei morgens um 5 Uhr die Zelte in Brand gesteckt hat. Ohne Vorwarnung. Natürlich sind wir um unser Leben gerannt. Es reichte der Polizei nicht, dass wir den Park verlassen haben… sie sind uns in alle Richtungen auch noch gefolgt. Es war beängstigend. Vor mir lief ein Mann und wurde am rechten Ohr von einer Gaspatrone getroffen, die von hinten abgefeuert wurde. Das Ohr sah schlimm aus, ich denke nicht, dass das wiederhergestellt werden konnte. Einige Helfer haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Auch mich hat es am Bein erwischt; ein Gasgeschoss streifte meinen Oberschenkel, ich habe immer noch eine Schwellung davon. Auch wenn meine Freunde und ich noch Glück hatten und vor schlimmen Verletzungen davon kamen, hat es doch einige ganz schlimm erwischt."

"Am nächsten Tag, am 1. Juni sind wir wieder auf den Taksim Platz und haben dort an der Sit-In Aktion mitgemacht. Nichts anderes als auf dem Boden sitzen… plötzlich kamen die Wasserwerfer aus der Richtung der Istiklal Caddesi. Ohne Ankündigung, ohne Warnung haben sie die Wasserstrahlen auf uns gerichtet. Wir sind alle nass geworden und es war kaum auszuhalten, sodass wir natürlich wieder davor weggerannt sind - in Richtung Cihangir, weil wir dachten, dort sind die Gassen nicht so breit, da kommen sie nicht rein. Aber sie kamen rein und haben uns ganz schön erwischt. In den ersten Tagen haben sie nur Wasser eingesetzt, bei den späteren Einsätzen war es kein pures Wasser mehr: es hatte eine rötliche Verfärbung und sobald es Deine Haut berührt, spürst Du das Brennen. In Cihangir waren wir ganz schön in die Ecke gedrängt. Dauerbeschuss unter Wasserwerfern und Pfeffergas. Plötzlich öffnete ein Mann uns die Eingangstür eines Mehrfamilienhauses und wir schlüpften rein. Ich habe nicht gezählt, wie viele wir waren, eine ganze Gruppe halt, vielleicht 15 oder 20 Leute… Der Mann war sehr hilfsbereit und hat auch seine Wohnung für uns geöffnet und mischte Talcid-Tabletten in Milch zusammen, damit wir uns die Augen auswaschen konnten. Das dämpft die Tränen und beruhigt die Augen... Dann sind wir ja wieder auf die Straße, sie schien beruhigt und außerdem können wir ja nicht die ganze Zeit die Wohnung des hilfsbereiten Mannes belagern", lächelt sie. "wir versuchten herauszufinden, in welcher Richtung wir weitergehen konnten. Plötzlich kommen uns die Polizisten entgegen, hatten ihre Helme abgezogen und versicherten, dass sie sich zurückziehen. Es klang glaubwürdig für uns und wir haben dann die Richtung nach Taksim Platz eingeschlagen. Der Platz füllte sich von allen Seiten… die Freude war nicht von langer Dauer, denn ein Hubschrauber warf von oben Gas ab… das war ganz heftig."

"Ich werde nicht alle Vorfälle hier zusammenbringen können, kann aber sagen, dass sie sich nicht einmal davor gescheut haben, den Park unter der Gaswolke zu ersticken, als Kinder dort waren… es gab Spiel- und Malateliers im Park und Familien waren mit ihren Kindern gekommen. Sie haben die Kinder gesehen und dennoch abgefeuert. Über das Divan Hotel ist ja größtenteils berichtet worden; das Foyer wurde zu einem Lager umgewandelt - unsere Fakultät ist sehr nah am Gezi Park und unsere Dozenten haben unsere Räume auch als Lager zur Verfügung gestellt. Freiwillige Ärzte haben dort Verletzte versorgt, auch dort haben sie das Gas abgefeuert."

"Ich weiß nicht, wie das Ganze noch ausgehen wird. Momentan finden Foren in den anderen öffentlichen Parks statt. Es wird versucht ein gemeinsames Verständnis, ein Bündnis auf die Beine zu stellen. Es ist schön zu sehen, dass je mehr abgewehrt wird, der Protest größer wird."

"Eigentlich ist das was wir wollen ziemlich klar und einfach: wir wollen Freiheiten, wir wollen Demokratie in diesem Land. Wir wollen nicht, dass man uns vorschreibt was wir essen, trinken, anziehen sollen oder wie viele Kinder auf die Welt zu bringen haben. Wir möchten keine Vorschriften, wir mischen uns ja auch nicht ein und respektieren sie auch in ihren Freiheiten, wie sie sich zum Beispiel kleiden. Eigentlich müssten wir viel mehr Verständnis von der 'gläubigen' Schicht erhalten, denn sie haben ja auch diesen Weg gemacht und um ihre religiösen Freiheiten gekämpft. Sie müssten uns verstehen und wissen was Unterdrückung ist. Stattdessen unterdrücken sie uns."

Çapulcu Zeliha

Fotos:

1: Istanbul, 3. Juli 2013 "Mörderstaat"
2.: Gerichtsgebäude in Caglayan, Menschen melden sich an, die Verantwortlichen für die Proteste zu sein.
3.: Proteste bei Studienabschlussfeiern

Bericht aus Istanbul (1)

Bericht aus Istanbul (2)