„Wir mussten fast bei null beginnen“

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Manfred Isemeyer / Alle Fotos © Evelin Frerk

BERLIN. (hpd) Dreißig Jahre in der Verantwortung, einen säkularen Verband zu führen. Einblicke in die Geschichte des HVD Berlin-Brandenburg, überwundene Schwierigkeiten, historische und neuere Ereignisse aber auch Humor und Nachsinnen… Ein Gespräch mit Manfred Isemeyer.

Hpd: Der Humanistische Verband Berlin-Brandenburg ist der größte regionale Verband innerhalb der säkularen Organisationen und du bist der dienstälteste Geschäftsführer bzw. Vorstandsvorsitzende. Da fragt man sich doch: Hat das irgendetwas miteinander zu tun? (Lachen) Das soll ja nun nicht heißen, du alleine hast den Verband aufgebaut…

Manfred Isemeyer: Da muss man schon etwas in die Geschichte zurückgehen. Als ich hier anfing, 1983, war die Situation des Verbandes so, dass er sich aus der Arbeiterkultur und der sozialdemokratischen Orientierung, die es zumindest für die West-Berliner Freidenker damals gab, verabschiedet hatte.

Der Verband hatte bis auf die Jugendfeier, die damals noch Jugendweihe hieß, eine insgesamt ungünstige Prognose. Die Mitgliederzahl stagnierte. Was es gab, war ein wenig finanzielle Förderung durch das Land Berlin, mit der man die Verbandsarbeit aufrechterhalten konnte. Wer allerdings ernsthaft den Anspruch anmeldet, die Interessen von Konfessionslosen vertreten zu wollen, der benötigte neben der Weltanschauung konkrete Handlungsfelder.

Ich will nun nicht behaupten, dass ich ein Glücksfall für den Verband gewesen bin, denn es waren Mitte der Achtziger Jahre in den Verband junge Leute eingetreten, die im Kopf hatten, dass es so nicht weitergehen kann. Das waren Menschen, die aus der Friedens-, Öko- und Frauenbewegung zum Verband gestoßen waren. Das waren sozusagen Ein-Punkt-Unternehmungen, die sich politisch um eine Fragestellung gekümmert haben. Wenn sich dann die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach der Zukunft von Natur, Mensch und Gesellschaft stellte, kommt man an den Punkt, an dem man sagt: „Friedensbewegung ist wichtig und gut…, Ökologie, da müssen wir weiter drum kämpfen…, die Emanzipation der Frauen haben wir noch nicht erreicht…, aber es gibt darüber hinaus ganzheitliche Sinnfragen, die können wir in diesen Bewegungen nicht bearbeiten.“ Mit meiner Einstellung als Geschäftsführer war dann die Erwartung verknüpft, dass jetzt auch neue Ideen und kreative Konzepte entwickelt werden. Mein Verdienst an dieser Stelle war, dass ich Personal gefunden habe, das für das, was neu angedacht wurde, brannte.

Die große Schwäche des Freidenkertums lag in der Nichtformulierung einer humanistischen Alternative, die auch Dienstleistungsangebote beinhaltete, begründet. Warum sollten religiös ungebundene Menschen in schwierigen persönlichen Situationen nicht Trost und Begleitung durch qualifizierte, humanistisch ausgebildete Fachleute erhalten? Warum sollte es nicht selbstverständlich sein, dass sich in Kitas, Jugendeinrichtungen, Krankenhäusern, Seniorenheimen und in der Bundeswehr humanistische Berater engagieren? Ein nahtloses Angebot für Konfessionsfreie – das sollte keine Utopie mehr sein. Diese Überlegungen entstanden in der Zeit 1983 bis 1989.

Das erinnert mich etwas an die Freidenker in Österreich, wie die heute noch vorrangig in der Volkshochschule Erwachsenenbildung betreiben. Darüber hinaus können sie auch kaum etwas bewegen. Das war hier in Berlin vor jetzt immerhin dreißig Jahren.

Ja.

 

Wow! Meinen Respekt. Hast du eigentlich eine niedrige Mitgliedsnummer?

 

Nein, ich habe nicht die Mitgliedsnummer 1, denn vor mir gab es ja auch schon viele Verbandsmitglieder. Nein, es war so, dass diese Anstellung, die mir damals angeboten wurde, für mich persönlich gar keine leichte Entscheidung war. Ich wusste damals ja auch nicht, ob das vielleicht ein Pferd ist, das man demnächst zum Schlachthof führen muss, wo ich jetzt sozusagen in den Sattel steige. Von Hause aus bin ich Sozialpädagoge und Politologe und hatte ein attraktives Angebot vom Justizsenator, im Jugendstrafvollzug konzeptionell als Referent zu arbeiten. Ich habe mich damals aber aus zwei Gründen dafür entschieden Geschäftsführer des Freidenker-Verbandes zu werden. Auf der einen Seite sah ich das inhaltlich als weltanschauliche und politische Herausforderung. Im Studium am Otto-Suhr-Institut waren marxistische Theorie und Geschichte der Arbeiterbewegung Standardthemen und da gab es eine gewisse Affinität zum Freidenker-Verband. Andererseits hätte ich eine Karriere in der Berliner Senatsverwaltung perspektivisch als persönliche Einengung empfunden. Das Gestalten können bei einem Verband erschien mir reizvoller.

Im Nachhinein war es eine richtige Entscheidung. Diese Jahre beim Verband haben mich in vielen Arbeitsbeziehungen persönlich sehr weit gebracht. Und wenn ich zurückblicke, dann bin ich mit meinen beruflichen Lebenszielen sehr nahe gekommen. Ob der Verband mit mir zufrieden ist, das müssen andere beurteilen. (Lachen)

Aber du sprichst immer noch vom Freidenkerverband? Für die, die es nicht wissen: Es gab die Trennung zwischen den West-Berliner Freidenkern und dem westdeutschen Freidenker-Verband mit Sitz in Offenbach, die sich auch politisch auseinander entwickelt haben. Ich glaube, der Berliner Verband ist dann aus dem Freidenker-Verband ausgetreten oder wie war die Entwicklung?

Die Entwicklung hatte bereits viel früher eingesetzt, gleich nach 1945. Da sind die emigrierten alten Freidenkerfunktionäre aus der Zeit vor 1933 zum Teil in die Hauptstadt, die keine Hauptstadt mehr war, also nach Berlin zurückgekehrt und haben die Arbeit 1947 wieder aufgenommen. Mit der Gründung der Bundesrepublik und der DDR standen sich dann zwei verschiedenen Machtblöcken angehörenden Staaten gegenüber. An einem Miteinander von Sozialdemokraten und Kommunisten für ein gemeinsames Freidenkertum war unter diesen Bedingungen nicht mehr zu denken. 1958 trennte sich der Berliner Verband dann endgültig vom Deutschen Freidenker-Verband, der 1951 gegründet worden war. Neben persönlichen und technisch-organisatorischen Gründen spielten insbesondere politische Unterschiede eine Rolle. Während sich die Berliner Freidenker um eine kritische Auseinandersetzung mit marxistischen Positionen bemühten und eine eindeutige antikommunistische Linie in enger Anbindung an die SPD einforderten, hielt der Deutsche Freidenker-Verband an seinem Konzept einer sozialistischen Weltanschauung mit DKP-Orientierung fest.

Als ich dazu kam, haben wir darauf gesetzt, dass eine Annäherung möglich ist. Bei Treffen der Weltunion der Freidenker haben wir mit Funktionären des Deutschen Freidenker-Verbandes geredet und versucht, Brücken zu bauen. Schlussendlich hat dies nicht funktioniert. Eine entscheidende Wende im Verhältnis der Freidenker untereinander hatte es bereits 1979 gegeben: Eine große Gruppe von Mitgliedern des Freidenker-Verbandes NRW warf deren Bundesvorstand vor, Diskussionen über die Ausbürgerung von Wolf Biermann und über die DDR zu boykottieren. Nachdem es zu Ausschlussverfahren gegen „oppositionelle“ Freidenker kam und zudem bekannt wurde, dass Verbandsfunktionäre sich Direktiven aus Ost-Berlin abholten, gründeten 800 Freidenker aus 12 Ortsgruppen einen eigenen Landesverband. Dieser schloss sich später dem Berliner Verband an. Damit war gewissermaßen auch die Isolierung der West-Berliner Freidenker beendet.

Ist dann diese Abspaltung der Freidenker in NRW der spätere Humanistische Verband in Nordhein-Westfalen geworden?

Richtig. Es gab dort die Freireligiösen als Landesverband. Die haben sich mit den Freidenkern zusammengetan und daraus ist dann der Humanistische Verband Nordrhein-Westfalen geworden.

Das ist dann sozusagen der zweite Schritt? 1983 war die Situation ja noch, wie du es beschrieben hast, noch anders und es folgte dann der ruhige Aufbau?

Wir haben in dieser Phase von 1983 bis 1989 - denn 1989 kam dann etwas ganz Neues -, festgestellt, dass die Orientierung auf die Arbeiterschaft nicht mehr funktionierte. Als Familientradition lebte mit abnehmender Teilnehmerzahl die Jugendweihe. Aber dies hat nicht gereicht, um den Verband voranzubringen. Wir mussten uns neuen Zielgruppen und Bündnispartnern öffnen, die Jugendweihe modernisieren und konkrete Dienstleistungen entwickeln. Was wir dann als erstes Projekt gemacht haben, war die Wiederbelebung der Lebenskunde. Dieses freiwillige Schulfach war über die Jahre eingeschlafen, obwohl es in West-Berlin eine lange Tradition hatte. Willy Brandt hatte sich sehr stark für den Verband und die Lebenskunde eingesetzt; und wir haben es dann 1983 mit einem Modellversuch in Neukölln neu gestartet. Dieser war so erfolgreich, dass wir schon vor der Wendezeit ansehnliche Teilnehmerzahlen aufweisen konnten.

Es wurde mit einer einzigen Klasse begonnen?

Mit einer Klasse an der Theodor-Storm-Schule in Neukölln, schräg gegenüber von unserer damaligen Geschäftsstelle in der Hobrechtstraße. (Lachen) Aber das war, denke ich, nur ein Zufall. Rahmenpläne, Unterrichtsmaterialien, Lehrerausbildung: Wir mussten fast bei Null beginnen. Hätten wir damals nicht die Kontakte zu den humanistischen Organisationen in Westeuropa gesucht, wären wir nicht so schnell mit einem professionellen Angebot vorangekommen.

Das war auch eine unserer Strategien: Wir schauen einmal, was machen die Humanisten in den Niederlanden, was passiert in Norwegen, was in Finnland? Die finnischen Freidenker organisierten auch einen Lebenskundeunterricht. Sie besaßen fundierte und erprobte Lehrpläne und wir waren dankbar, dass wir Orientierungshilfen von ihnen bekommen haben.

Uns war wichtig, von den westeuropäischen Humanisten zu lernen. In ihrer praktischen Orientierung waren sie uns drei Schritte voraus.

Die Kontakte, die auch heute noch in die Niederlande und nach Belgien bestehen, sind damals entstanden?

Ja. Wir sind hingefahren und haben dort die Kontakte gesucht. In den Niederlanden, in Belgien, Finnland und Norwegen. Dort gab es starke humanistische Organisationen und von denen haben wir viel gelernt: Säkularen Humanismus, praktische Lebenshilfen für Konfessionsfreie. Wollten wir Konfessionsfreie als Mitglieder gewinnen, mussten wir uns von der vornehmlich sozialdemokratischen Orientierung verabschieden. Die Sozialdemokraten wussten ohnehin nichts mit uns anzufangen, außer vielleicht einige Funktionäre, die auf unseren Jugendweihefeiern redeten. Das waren prominente Sozialdemokraten wie die Senatoren Lipschitz und Striek, also sozusagen die erste Reihe. Sie standen noch in der Tradition des alten Freidenkertums. Aber uns war klar, dass diese Traditionslinie demnächst abreißen würde.

 

Ursprünglich war für die Freidenkerbewegung die Feuerbestattungsversicherung ein zentrales Element gewesen. War das dann nach dem Krieg fortgefallen?

 

Das war unter den Bedingungen der Bundesrepublik nicht mehr fortzusetzen. Die Ursachen hierfür gehen ins Jahr 1933 zurück. Die Nazis hatten die Organisation des Freidenker-Verbandes verboten, haben aber die Bestattungskasse, die Teil des Verbandes war, gleichgeschaltet und als Neue Deutsche Bestattungskasse fortgeführt. Das war das Problem der organisierten Freidenker damals. Wenn sie aus Überzeugung aus dieser umgemodelten Versicherungskasse ausstiegen, dann verloren sie ihre Ansprüche, obwohl sie jahrelang ihren „Arbeitergroschen“ eingezahlt hatten. Deshalb sind viele dort drin geblieben, um eben eine kostengünstige Beerdigung finanzieren zu können. Und nach Ende des Faschismus war die Situation, dass die Altfunktionäre des Freidenker-Verbandes die Herausgabe des Vermögens verlangten. Gerichte haben später diesen Anspruch abgewiesen. Sie urteilten, dass der Verband zwar aus ideologisch-politischen Gründen verboten worden war, aber die Mitglieder, so die Gerichte, hätten ja austreten können.

Aus dieser Neuen Deutschen Bestattungskasse ist nach 1948 die IDEAL-Versicherung entstanden. Der Bundesgerichtshof entschied sogar noch in den siebziger Jahren, dass die Nachfolgeorganisation des von den Nazis zerschlagenen Freidenker-Verbandes Ideal-Versicherung sei. (Allgemeines Lachen) Das muss man sich heute einmal vorstellen. Es waren die Kalte-Kriegs-Zeiten, in denen sogar offizielle Kontakte zum Sportbund der DDR unter Strafe standen. Solche Urteile wären heute nicht mehr möglich.

Aber dann kam 1989. Und es gab, denke ich, auch ein paar neue Gesichter, einen neuen Bezugsrahmen, auch innerhalb Berlins, die Insel war nicht mehr Insel, sondern Teil eines Größeren geworden, was ist dann geschehen, dass aus dem Freidenkerverband der Humanistische Verband wurde?

Ja. Im Nachhinein würde ich sagen, es war eine der schwierigsten Situationen nach Öffnung der Mauer. Wie gehen wir mit dem existierenden Freidenkerverband der DDR um? Er war erst 1988 gegründet und bestand somit erst ein Jahr. Es war der politische Wille des Freidenker-Verbandes der DDR mit den Bundesdeutschen Freidenkern eins zu eins, also auf gleicher Augenhöhe zu fusionieren; andere Organisationen haben das ja gemacht. Aus politischen Gründen mussten wir das ablehnen. Wir als West-Berliner Verband haben uns dafür entschieden, die DDR-Freidenker als Einzelmitglieder aufzunehmen, aber nicht als Organisationen zu fusionieren. Das hat der Deutsche Freidenker-Verband anders gesehen.
In Berlin war es so, dass der Berliner Landesverband der DDR-Freidenker sich aufgelöst hat und die Einzelmitglieder sind dann bei uns eingetreten.

Ich denke heute, das war der richtige Weg. Wir standen an der Stelle sehr genau im Fokus der Politik, die genau geschaut hat, was wird aus diesem Verband, was macht er in dieser Situation. In diesen Wendezeiten gab es auch genügend Informationen, dass der DDR-Freidenkerverband von der Stasi geschützt und teilweise geleitet worden war.

Ich muss im Nachhinein auch sagen, dass einer der Erfolge des Berliner Verbandes die gelungene Integration Ost-West war. Ich kenne in dieser Stadt nur wenige Organisationen, die das so optimal geschafft haben wie wir. Natürlich haben wir auch Rückschläge erlebt. Aus dem DDR-Freidenkerverband haben wir z. B. auch Beschäftigte übernommen, von denen wir einzelne wieder entlassen mussten.

Die Geschichte mit Bettina Wegner ist dafür ein Beispiel: Wir hatten einen Kollegen angestellt, der in dem Jugendfeierteam tätig war. Er sagte, er würde Bettina Wegner kennen und die würde er gerne als Rednerin für die Jugendfeier gewinnen. Wir fanden den Vorschlag hervorragend. Und dann Rückmeldung von Bettina Wegner: Mit euch nicht, denn der Mann, den ihr geschickt habt, das ist der Stasi-Mann, der mich in der Vergangenheit bespitzelt hat. Das haben wir natürlich nicht gewusst.
Unser Mobilitätshilfe-Dienst begleitete einen behinderten Klienten im Rollstuhl, der uns informierte, dass beispielsweise einer unserer Betreuer ein Stasi-Mann gewesen sei, der ihn bei einer Friedensdemonstration mit dem Knüppel geschlagen hatte.

Das waren aber nur Einzelbeispiele. Mehrheitlich haben die Ost- und West-Berliner respektvoll zueinander gefunden. Das ist ein Verdienst der Beschäftigten des Verbandes, dass sie diese Integration geschafft haben. Die Frage „ Wo kommst du her?“ spielt heute nur noch im persönlichen Bereich eine Rolle; im Arbeitszusammenhang hat das keine Bedeutung mehr. Und eins muss man auch sagen: Als Verband in der Hauptstadt profitierten wir Freidenker von der Wende. Der Osten war ja atheistisch geprägt. In Wendezeiten sind wir von staatlichen Stellen - Senat, Bezirksämter - befragt worden, ob wir als Weltanschauungsgemeinschaft uns nicht stärker engagieren wollten. Wir hätten sehr viel mehr machen können, wenn unsere Kapazitäten gereicht hätten. Kluger Weise haben wir auf kontrolliertes Wachstum, nach innen als auch nach außen gesetzt und unsere Kräfte gut gebündelt.

Der Weg, den wir in West-Berlin gegangen sind, war dann auch für Ost-Berlin erfolgreich, weil wir uns konzeptionell neu aufgestellt hatten. Die Projekte und Dienstleistungen, die wir sozusagen alle bereits im Köcher hatten, konnten wir entsprechend realisieren. Nach der Öffnung der Mauer gab es neue Gestaltungsspielräume, die wir mit dem Aufbau von Angeboten zur Lebenshilfe, zur Sozialarbeit und Jugendhilfe nutzen.

 

War das sie schwierigste Phase oder erinnerst du, ob es später noch eine andere schwierige Phase gab?

 

Es gab noch zwei, drei weitere Phasen. Es gab keine so schwierige Situation, die derart existentiell war, dass ich gesagt hätte, es steht alles auf der Kippe.

Aber noch einmal zurück zum Thema Wachstum: Wir haben nach 1989 gleich diskutiert, brauchen wir eine bundeseinheitliche Organisation? Mit dem Schritt, ein größeres Dach zu schaffen, haben wir richtig gelegen. Es klingt jetzt so simpel, es gab bei diesem Schritt einige ‚Geburtswehen’. Dass der alte westdeutsche Freidenker-Verband draußen geblieben ist, war nicht zu umgehen, denn im wiedervereinigten Deutschland hatte nur ein moderner Humanismus eine reale Chance auf gesellschaftliche Akzeptanz.

1993 waren die Schwierigkeiten der Wende und des Wachstums bei den Humanisten nicht bewältigt. Die Landesverbände in Sachsen-Anhalt und in Brandenburg mussten Insolvenz anmelden. Beide betrieben z. B. Kitas und Nachbarschaftsheime, die mit den vorhandenen Kräften nicht zu steuern waren, weder von den Ehrenamtlichen noch den professionellen Hauptamtlichen. Das hat den humanistischen Verband insgesamt zurückgeworfen. Wir haben eigentlich alles in diesen Landesverbänden verloren und mussten fast wieder bei null anfangen. Auch strukturell war das ein negativer Einschnitt, den wir in Brandenburg mit der Fusion Berlin-Brandenburg zum Teil geheilt haben. In Sachsen-Anhalt arbeiten kleinere Einheiten als Landesgemeinschaft. Sie machen dort in verschiedenen Geschäftsfeldern eine gute Arbeit. Aber der Verband als Weltanschauungsgemeinschaft wird in der Region nur  wenig wahrgenommen. Ich hoffe, dass in den kommenden Jahren mit Unterstützung des Bundesverbandes eine Konsolidierung eintritt, dass wir dort wieder anknüpfen können, wo wir 1993 gestartet sind.

 

Die Umbenennung 1993 in Humanistischer Verband Deutschlands war das nationale Dach, an dem dann gebaut wurde?

Ja, wir haben den Diskussionsprozess gleich nach Öffnung der Mauer 1989 angefangen. Ich denke, dass wir als Westdeutsche die Debatte über einen längeren Zeitraum haben laufen lassen, war in Ordnung. Sonst hätte es wieder geheißen, die Besser-Wessis „marschieren“ im Osten ein und strukturieren alles neu. An anderen Stellen ist es ja so gewesen und die DDR-Bevölkerung hat das bewusst miterlebt und darunter gelitten.

Gleich nach der Wende hatten sich zahlreiche unabhängige Freidenker-Organisationen im Osten gegründet. In Brandenburg gab es z. B. den Interessenverband der Konfessionslosen, in Sachsen-Anhalt entstanden die Freien Humanisten, die sich stärker an den Freireligiösen orientierten. Über einen Zeitraum von zwei Jahren wurde in Gruppen und Verbänden, auf Sitzungen und Konferenzen heftig gestritten und verhandelt. Die Ostdeutschen konnten einen Teil ihrer DDR-Identität mit in den neuen Verband einbringen. Das hat sich ausgezahlt. Mit dem Schlusspunkt der Gründungsversammlung am 14. Januar 1993 konnte daher ein starkes Signal zur Beendigung der Zersplitterung der Freidenker, Agnostiker, Atheisten in diversen Kleingruppen ein Ende gesetzt werden.

Gab es neben diesen schwierigen Phasen…

Das waren noch nicht alle schwierigen Zeiten… (Gemeinsames Lachen). Du hattest mich nach den schwierigen Phasen der verbandlichen Arbeit gefragt. Es gab noch drei solche Ereignisse. 1999 haben wir vom Verwaltungsgericht ein Urteil hinnehmen müssen, das konstatierte, dass es keinen etatisierten Rechtsanspruch im Berliner Haushalt zur Förderung des Verbandes gab. Es war absurd, denn vom Berliner Senat bekamen wir für Lebenskunde Zuwendungen und eine institutionelle Verbands-Förderung. Nur im Haushaltsplan des Landes stand immer „Religionsgemeinschaften“, da kamen die Weltanschauungsgemeinschaften gar nicht vor. Das Gericht hat das beanstandet. In der Berliner Kulturverwaltung agierten damals Personen, die dieses Urteil sofort umgesetzt und die Gelder des HVD von einem Tag auf den anderen gesperrt haben. Das waren 1999 schon Millionenbeträge, die wir für die Finanzierung der Lebenskunde bekamen. Die vielen hauptamtlichen Lehrer und Lehrerinnen, die wir beschäftigten, konnten ja nicht sofort gekündigt werden. Wenn es so geblieben wäre, hätte dies zu einer Insolvenz des Verbandes geführt. Das war ein sehr kritischer Moment, aber der Verband hat zusammengestanden, die Lehrer haben darauf vertraut einen Monat oder später ihr Gehalt zu bekommen, während die Verbandsspitze sich politisch engagierte, um diese Beschlüsse wieder aufheben zu lassen. Das haben wir dann auch innerhalb kurzer Zeit geschafft, indem wir mit den Berliner Abgeordneten ins Gespräch gingen. Der Hauptausschuss hat dann beschlossen, dass wir wieder Geld bekommen. Der Gesetzgeber hat später die Titelbezeichnung dahingehend geändert, dass auch die Weltanschauungsgemeinschaften finanziert werden können.

Die anderen schwierigen Probleme sind neueren Datums, zum einen die Auseinandersetzung um Pro Reli. Aus unserem weltanschaulichen Selbstverständnis war klar, sich für Pro Ethik auszusprechen. Dafür haben wir 2008/2009 sehr viele politische Anfeindungen von den Kirchen und Konservativen hinnehmen müssen. Umso zufriedener waren wir, dass der Volksentscheid so eindeutig positiv für die fortschrittlichen, säkularen Kräfte ausgegangen ist.

Die letzte Geschichte sind die Stasi-Vorwürfe gegen Bruno Osuch, den damaligen Berliner HVD-Vorsitzenden. Als Verband haben wir eindeutig hinter Osuch gestanden. Das war eigentlich nicht das Problem. Die Schwierigkeit war, dass wir die Anfeindungen in der Öffentlichkeit und durch die Medien nur sehr schwer abwehren konnten. Dass wir in der Sache trotzdem erfolgreich waren, haben wir zum einen der guten politischen Netzwerkarbeit in der Stadt zu verdanken. Herrn Henkel [CDU, derzeitiger Innensenator in einer Großen Koalition] werde ich aber nicht nachsehen, dass er, als die Vorwürfe gegen Bruno Osuch aufkamen, als erstes gefordert hatte, dem HVD die Gelder zu streichen. Er wollte damals den HVD zusammen mit Osuch in die Sippenhaft nehmen. Wenn ich Henkel treffe, werde ich ihn fragen, wie er heute dazu steht. Der andere Grund für unseren Erfolg war Rechtsanwalt Eisenberg, der mit seiner professionellen Kompetenz durch alle Instanzen gekämpft hat und wir schließlich die Prozesse gewinnen konnten.

Das waren für mich sehr existentielle Momente. Wir konnten uns damals nicht sicher sein, wie der Streit ausgeht. Osuch ist völlig rehabilitiert, an den Stasi-Vorwürfen war absolut nichts dran. Leider kursieren diese Geschichten aber immer noch im Internet. Das ist sehr schmerzlich, aber niemand, der eine politische Führungsposition ausübt, ist gegen solche Angriffe gefeit. Ich persönlich bin nie so scharf angegangen worden. In weitaus schwächerer Form habe ich zwei-, dreimal Ähnliches erlebt. In meinem Aufsatz „Das Gras des Vergessens“ ging es um Verquickung von Stasi und DDR-Freidenkertum. In der säkularen Szene bin ich als „Vatermörder“ und als „Nestbeschmutzer“ angegriffen worden. Aber sonst... ich habe Anfeindungen immer überleben oder wegstecken können. Ich weiß nicht, ob ich ein dickes Fell hatte? Das Entscheidende ist für mich immer gewesen, es gibt hier einen innerverbandlichen, geschützten Raum, da stehen Menschen zu dir und man hält zusammen. Diese Solidarität, die ich spüre, auch wenn man zeitweise alleine ganz vorne steht, diesen Rückhalt zu haben, das war für mich immer besonders wichtig. Das hat mich in den Jahren getragen.

 

Wie viele Mitarbeiter hat der HVD Berlin-Brandenburg jetzt aktuell?

 

1.100. Bis zur Jahreswende werden es fast einhundert Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mehr sein.

Das Größerwerden nimmt ja gar kein Ende…

Nach meiner Auffassung kann es mit einem kontrollierten Wachstum so weiter gehen. Im Moment sind wir an einem Punkt, wo wir genauer hinschauen müssen, in welche Projekte wir investieren. Wir sind in der Vergangenheit immer darum herum gekommen, zur Bank zu gehen und zu fragen, ob wir einen Kredit bekommen, weil wir dieses oder jenes Projekt realisieren wollten. Investitionen in die Zukunft müssen aktuell genauer abgewogen werden. Wir sind jetzt dabei, drei weitere neue Kitas in Berlin ans Netz zu bringen. Und die bauen wir nicht, weil wir so viel Geld übrig haben, sondern weil in dieser Stadt ein Bedarf an Kitaplätzen ist –bis 2016 werden noch 10.000 Plätze benötigt. Niemand weiß, was noch kommt, wenn Eltern ihren Rechtsanspruch einklagen. Niemand weiß, wenn das Betreuungsgeld kommt, wie viele Kinder dann zu Hause bleiben. Und wie entwickelt sich die Erwerbstätigkeit von Müttern? Alles Variablen, die niemand einschätzen kann.

Wir müssen aber auch sehen, wie weit wir voran gehen, um nicht andere Projekte zu gefährden, denn alle befinden sich unter einem Dach. Zudem gibt es immer wieder Überlegungen, Teilbereiche in eigene Träger-GmbH`s auszugliedern, um die ökonomischen Risiken zu minimieren. Ich denke, dass so etwas auf lange Sicht kommen wird. Aber ich bin gleichzeitig der Ansicht, dass, wenn wir unser Konzept des praktischen Humanismus frühzeitig in kleinere Geschäftsfelder gesplittet hätten, unsere Stärke als Weltanschauungsgemeinschaft, die wir jetzt haben, gelitten hätte.

Die Weltanschauungsgemeinschaft und die HVD-Unternehmungen ergänzen sich gegenseitig. Von der Größenordnung sind wir ein akzeptierter gesellschaftlicher Akteur, denn in Berlin und Brandenburg weiß man, welchen Stellenwert der HVD hat. Wenn wir nur eine kleine Wertegemeinschaft wären, hätten wir nicht diese Bedeutung. Deswegen war dieser Weg richtig. Ich denke aber, was Professionalität in den einzelnen Arbeitsfeldern wie auch die Risikoabschirmung betrifft, werden Änderungen notwendig sein, weil  auch ein starker Ökonomisierungsdruck auf den Organisationen des Dritten Sektors ruht. 

Meine Prognose ist, dass in den kommenden Jahren die ‚Mutter’, die Wertegemeinschaft, groß und stark genug sein wird und sein muss, um die verschiedenen Arbeitsfelder inhaltlich zu steuern und zusammen zu halten. Mit bald 10.000 Mitgliedern sind wir jetzt schon eine mitgliederstarke Organisation. Mitgliedergewinnung und –bindung muss auch zukünftig ein Schwerpunkt verbandlicher Anstrengungen sein.

 

Demnächst wirst du offiziell aufhören…

Ich bin Jahrgang 48, im September ist für mich der formale Ruhestand erreicht. Im Moment sieht es so aus, dass der Verband dabei ist, die Nachfolgeregelung zu organisieren und ich habe zugesagt, dass ich, solange der oder die Nachfolgerin noch nicht gefunden ist, im Amt bleibe. Danach ist dann … Schluss.

 

Das Wachstum des Verbandes hat sich meines Erachtens auch fortgesetzt, nachdem Brandenburg dazu gekommen war und es jetzt zwei Verantwortliche an der Spitze gibt. Das heißt, achtundzwanzig Jahre lag es nur auf deinen Schultern und jetzt sind es dann zwei Personen, die es weiterführen.

Ja, das hängt nicht nur damit zusammen, dass wir territorial als Verband in den Aufgaben größer geworden sind. Ich habe als Geschäftsführer das Gesamtmanagement gehabt, sowohl die Verbandsgeschäftsführung nach innen, wie auch die Verbandsvertretung nach außen. Wenn so ein Unternehmen größer wird, erfordert das noch mehr Professionalität. Wir bewegen über 50 Millionen Euro jedes Jahr und das sind Finanzströme, die bewältigt werden müssen. Ich selbst bin ja kein Betriebswirt, sondern habe mich über die Jahre qualifizieren müssen. Nach der Fusion sind die richtigen Hebel umgelegt worden, um mit einem Vorstand aus zwei Personen gut in die Zukunft zu kommen.

Das hat aber auch Rückwirkungen auf die betriebliche und die innerverbandliche Struktur. Es gibt jetzt jemanden, der im Vorstand für Finanzen und Personal verantwortlich ist und wir sind jetzt auch intern dabei, die Verwaltung umzustrukturieren, weil aufgrund der unterschiedlichen Größen und qualitativen Anforderungen da auch nicht mehr alles so bleiben kann wie bisher. Das sind schon schwierige Probleme, mit denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umgehen müssen.

In der Mitarbeiterstruktur verändert sich gegenwärtig einiges. Die ‚Pioniere’, die erste Generation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter scheiden allmählich aus. Die zweite Generation identifiziert sich häufig nicht mehr so stark mit den weltanschaulichen Zielen des Verbandes. Viele Kollegen kommen primär zu uns, weil es einen attraktiven Arbeitsplatz gibt und erst in zweiter Linie, weil wir eine Weltanschauungsgemeinschaft sind.

 

Für Familienbetriebe heißt es manchmal, die erste Generation baut auf, die zweite verwaltet es und die dritte… nun das ist sehr unterschiedlich…

 

Nun ja, aber ich denke, wir haben beides bewerkstelligt, wir haben den Aufbau vorangetrieben und gleichzeitig auch gut verwaltet. Und wir arbeiten immer noch auf Zuwachs, ich hoffe nicht, dass das bereits zu Ende ist.

Wir haben uns als Landesverband Berlin-Brandenburg jahrelang, jahrzehntelang konzentriert auf den Aufbau von Geschäftsfeldern und Dienstleistungen. Aber ich sage auch auf den Mitgliederversammlungen immer wieder, der Betrieb muss sich durch die Wertegemeinschaft legitimieren lassen. Wenn dieser Mitgliederverband ein schwacher ist, wird ihm auch die Legitimation für das Unternehmen abhanden kommen. Deshalb setze ich mich auch dieser Tage dafür ein, dass wir den Mitgliederverband stärker nach vorne bringen.

Es klang zwar bereits an, aber ich möchte die Frage noch einmal explizit stellen: Ist es für dich etwas Besonderes, Vorstandsvorsitzender eines humanistischen Verbandes zu sein oder wäre das für dich bei dem Paritätischen oder dem Roten Kreuz ähnlich?

Dieser weltanschauliche Hintergrund ist ja ein Alleinstellungsmerkmal des Humanistischen Verbandes auch gegenüber anderen kulturellen und sozialen Trägern. Der Humanismus ist immer das Wesensmerkmal, das Fundament für meine Arbeit gewesen. Ohne, dass ich das täglich reflektiert habe, waren die humanistische Lebensauffassung, Vernunft und Menschenwürde für mich wichtig. Das hängt auch mit meiner Biografie zusammen, ich bin katholisch sozialisiert.

In Schleswig-Holstein, in Kiel?...

Mein Vater stammt aus Danzig und war katholisch, meine Mutter aus Mecklenburg-Vorpommern, evangelisch, und als sie heirateten, ist meine Mutter konvertiert. Damals hat der Mann gesagt, wo es lang geht. Ich bin als Jugendlicher  – ich mag das gar nicht so gerne erzählen -, über das Gymnasium in eine katholische Eliteorganisation, den Bund Neudeutschland, gekommen. Mädchen wurden nicht aufgenommen. Mit fünfzehn stand dann die Entscheidung an, wird man Messdiener; und ich durfte nicht Messdiener werden, weil meine schulischen Leistungen nicht auf 1 waren. Da fing ich an nachzudenken, was machen die eigentlich mit dir? Und wir hatten einen Geistlichen Rat, der war so etwas wie unser religiöser Berater, und er hat uns Ferien am Gardasee oder in Dänemark organisiert. Das waren erlebnisreiche Freizeiten, die wir als Jugendliche erlebt haben. Aber er kam mit  frauenfeindlichen Sprüchen daher, dieser Geistliche Rat, das ich mich fragte: Er ist eine moralische Instanz, wie kann der so über Frauen reden?

Und so kam eins zum anderen und ich bin dann mit 18 aus der Kirche ausgetreten. Ich entsinne mich noch: ich wollte den Führerschein machen und mein Vater erklärte mir:  Wenn du wieder in die Kirche eintrittst, zahle ich dir den Führerschein. (Gemeinsames Lachen) Aber das Thema war damals für mich schon durch, da ich mich selber schon recht schnell als Atheist begriff, ohne dass ich das philosophisch alles durchdacht hätte. Ich würde mich heute auch noch als Atheisten bezeichnen, nur ist Atheismus ist für mich ein Element meines Humanismus.

Dass der Verband in der Vergangenheit keinen atheistischen Schwerpunkt herausgebildet hat, finde ich richtig, anderes wäre kontraproduktiv gewesen. Dem aktuellen „Religionsmonitor“ der Bertelsmann-Stiftung ist zu entnehmen, dass 36 Prozent der westdeutschen und 16 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung den Atheismus als Bedrohung empfinden. Darüber muss man einmal nachdenken, warum das so ist. Das ist ja erst einmal eine rein subjektive Wahrnehmung, die ist repräsentativ für die Bundesrepublik. Ich denke, das Bild, das in der westdeutschen Bevölkerung über Religion besteht, entsteht über Medien. Es bildet sich nicht mehr aus dem praktischen religiösen Vollzug der Menschen, den gibt es ja fast gar nicht mehr. Wenn das so ist, dann muss man sich fragen, warum wird der Atheismus durch die Medien so negativ dargestellt? Als Bedrohung! Nur der Islam wird in dieser Wahrnehmung noch heftiger als Bedrohung wahrgenommen. Auch dieses Szenarium muss hinterfragt werden.

Ich meine, dass ein wertebildender praktischer Humanismus eine größere Zukunft hat als der reine Atheismus. Natürlich sind radikale Positionen, auch der Religionskritik legitim. Aber das ist nicht das Feld, auf dem der Humanistische Verband agieren sollte. Ich mache das auch an anderen Ergebnissen der Bertelsmann-Studie fest: religiöse Werte rangieren ganz unten und was sind die positivsten Werte? Und da lese ich: Der positivste Wert in der deutschen Bevölkerung ist Hilfsbereitschaft! Und sehr viele religiöse Menschen engagieren sich bürgerschaftlich in irgendwelchen Organisationen. Das kann ich nachvollziehen, der Mensch ist hilfsbereit und will etwas tun. Die Kirchen, Caritas, Diakonie bieten Betätigungsfelder an. Ich behaupte, wenn der HVD solche Angebote auch macht, findet er unter den Konfessionsfreien einen ebenso hohen Prozentsatz, die sich engagieren. Der Humanistische Verband macht noch zu wenig Angebote für Freiwillige. So simpel ist das.

 

Die Kirchen holen die Leute dort ab, wo sie warten…

Ja, genau. Der HVD muss meines Erachtens noch mehr auf bürgerschaftliches Engagement setzen. Das ist für mich einerseits eine Vorstufe für eine mögliche Mitgliedschaft, andererseits  eine generelle Bedingung, einen Verband zu organisieren. Wir brauchen selbstverständlich das Verbandsmitglied, wir benötigen aber auch viele bürgerschaftlich engagierte Menschen, die im Umfeld des HVD mitarbeiten.

Das ist nun nicht mein Verdienst, aber für den Berlin kann ich feststellen: Wir haben 800 ehrenamtlich Engagierte, die in den verschiedenen Arbeitsfeldern des Verbandes aktiv sind. Diese Zahl lässt sich sicherlich noch steigern.

Nun eine ganz andere Frage: Gab es auch etwas Fröhliches für dich in den vergangenen dreißig Jahren? Wenn du jetzt so schmunzelst…

Also, mit dem Humor…, es gibt viele Momente, aber Humor,… ich versuche es einmal mit dem Kabarettisten Werner Finck – du kennst ihn vielleicht noch -. Von ihm stammt der Satz: „Die schwierigste Turnübung ist es, sich selbst auf den Arm zu nehmen.“ Für den Humor hieße es dann, sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen, Fehler auch positiv darstellen zu können.

Eine der Geschichten – es gibt viele Beispiele -, ist eine Anekdote aus dem Jahr 1993. Ich habe seinerzeit eine Bildungsreise des Verbandes in die Toscana organisiert. Renaissance und Humanismus waren die Themen. Die Toscana hat natürlich etwas mit italienischem Lebensgefühl zu tun und so stand auch eine Weinverkostung auf dem Programm. Nach der Weinprobe sind wir leicht angeheitert in den Weinberg gegangen. Es hatte den Tag so sehr geregnet, dass wir mit unseren Straßenschuhen in dem Matsch des Weinbergs kleben geblieben sind. Anspielend an die biblische Geschichte sagte ein Teilnehmer: „Da habt ihr aber Pech gehabt, ihr Humanisten. Zur Strafe müsst ihr jetzt im Weinberg des Herrn verbleiben.“ Wir haben alle schallend gelacht.

 

Es gibt so Momente, die kenne ich aus meiner eigenen Arbeit, die sind zwar selten, aber es ist dann das rundum gute Gefühl, „Das ist dir einfach gut gelungen!“ Gibt es so etwas auch für dich? Verbunden mit einem gewissen Stolz, nicht so sehr auf die Leistung, sondern darauf, dass das eigentlich den Sinn der Arbeit ausmacht.

Ja, im Alltag gibt es ein Projekt, eine Aufgabe ist erfolgreich abgeschlossen, das sind so Momente. Aber ich glaube, das fängt bei mir erst jetzt mit dem Ende meiner beruflichen Tätigkeit an, sich zu setzen. Ich war mir meiner Funktion durchaus bewusst, nun wo ich 30 Jahre Revue passieren lasse und mich aus meiner Rolle als Vorstandsvorsitzender verabschiede, erfahre ich die Relevanz meiner Arbeit. Stolz wäre nicht die passende Vokabel dafür; ich bin einfach mit mir zufrieden.

 

Das einfache, gute Gefühl, da habe ich etwas Gutes beigetragen, das hat Sinn gemacht…

Ja, dieses Gefühl verstärkt sich jetzt. Es wird der Moment kommen, wo der Verband mich verabschiedet und ich wahrscheinlich gefragt werde: Was ist deine Lebensleistung? Die Antwort, welchen Beitrag ich in dreißig Jahren für den HVD eingebracht habe, müssen schon andere geben.

 

Nun ist ja absehbar, dass du bald „Privatier“ wirst. Und da kann man sich ja alles Mögliche vorstellen: An der Ostsee sitzen und übers Wasser schauen, dicke Bücher lesen, zu denen du bisher nicht gekommen bist… Wie sieht deine Perspektive aus, wenn du aus deinen Alltagsverpflichtungen heraus bist?

Zunächst werde ich es mir gönnen, die Dinge, die bisher in meiner Freizeit zu kurz gekommen sind, anzupacken. Ich werde mich intensiver als bisher um mein Hobby Fotografie bemühen. Ich arbeite an zwei, drei Thematiken, die ich vor Jahren angefangen habe und jetzt zu Ende bringen möchte. Des Weiteren schwebt mir vor, dass ich zwei Buchprojekte im Frühjahr 2014 abschließe.

Dann will ich ja dem HVD und dem gesamten säkularen Spektrum noch verbunden bleiben. Ich werde weiterhin den Vorsitz der Humanismus-Stiftung innehaben – sofern man mich haben will. Zum anderen werde ich mich zivilgesellschaftlich und basisnah in meinem Stadtteil betätigen. Bei mir um die Ecke existiert die „Zukunftswerkstatt Heinersdorf“, die im Konflikt um ein Moscheebauprojekt für Toleranz und Sachlichkeit gegenüber dem Islam warb. Dieser Bürgerverein organisiert Politikstammtische, Kinderveranstaltungen, Sportangebote für Familien und vieles mehr. Derzeit versucht die Zukunftswerkstatt eine geplante Fleischfabrik zu verhindern, die die soziale Infrastruktur des Kiezes zerstören würde. Hier sehe ich Aufgabenfelder, wo ich meine Fähigkeiten und Kenntnisse einbringen kann. Graswurzelarbeit hat man früher dazu gesagt.

Ja, und dann gibt es noch den anderen Bereich von echter Freizeit, den der Familie. Meinen Sohn im Teenageralter will ich in seiner persönlichen Entwicklung begleiten. Der älteste Enkelsohn kommt im August zur Schule und hat schon gefragt, ob er auf dem Nachhauseweg bei Opa vorbeikommen darf, ob Opa mit ihm Fußball spielt oder bei den Schularbeiten hilft. Derartige Aufgaben werden mir sicherlich Freude bereiten.

Was ist noch wichtig? Für meine Frau Andrea und mich ist Reisen immer ein Stückchen Lebensinhalt, die Welt kennen zu lernen. Wir werden auch in Zukunft so häufig wie möglich miteinander verreisen. Und das würde ich dann auch gerne mit meinem Hobby Fotografieren verbinden. Vielleicht kann man meine Fotos später in einer Ausstellung beim HVD anschauen.

Nach Ruhestand klingt das nicht so sehr. (Lachen) Gibt es, um nachzufragen, auch noch die Idee in Vietnam einen Humanistischen Verband und eine Hospizbewegung dort voranzubringen?

Nicht in Vietnam, in Nepal. Beim HVD Berlin arbeitet ein Kollege, der aus Nepal stammt, im interkulturellen Hospizdienst Dong Ban Ja. Er hat das Projekt, ein humanistisches Altenzentrum in der Nähe von Kathmandu aufzubauen, an uns herangetragen. Wir reden im Moment mit der IHEU [Internationale Humanistische und Ethische Union], die dieses Projekt unterstützen soll. Zu meiner Überraschung stellten wir fest, dass in Nepal sogar eine humanistische Organisation besteht. Unser Humanistisches Hilfswerk in Nürnberg wird sich ebenfalls in das Netzwerk einbringen. Ich hoffe, ich kann noch zur Eröffnung des Zentrums reisen und fotografieren.

Das klingt phantastisch: humanistisch-politisch arbeiten, gesellschaftlich-engagiert reisen und dabei fotografieren. Wunderbar. Wir werden es sehen und hoffentlich darüber berichten.

Danke.
 

Für den hpd sprach Carsten Frerk mit Manfred Isemeyer. Fotografien von Evelin Frerk

Plakat für die Kitas des HVD-Berlin-Brandenburg

Modell des Ambulanten Kinderhospizes (im Bau)

Auf dem Weg zum Hospiz Ludwig Park

In den Räumen des Hospiz Ludwig Park

Besprechung im Stadtteilzentrum Pankow