Notwendige Klarstellungen

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Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, Foto: Manecke (CC-BY-SA-2.0-DE)

(hpd) Die beiden Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. September 2013 sind richtig. Sie bringen zum Ausdruck, dass in einer pluralistischen Gesellschaft nicht jegliche Indoktrination von Kindern aufgrund religiöser elterlicher Vorstellungen akzeptiert werden muss – und (im Interesse der Kinder) nicht akzeptiert werden darf.

Die Grenzen der Indoktrination, jedenfalls was das schulische Verhalten angeht, sind gestern deutlich markiert worden.

Die wichtige und frohe Botschaft aus Leipzig: Religiöse Begründungen können stets nur in besonderen, in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen zur Befreiung vom Schulunterricht führen. Tabuisierungen aufgrund religiöser Überzeugungen, die Schulkinder von der Teilnahme am gesellschaftlichen Wissensstand ausschließen wollen, haben keine Chance. Religionsgemeinschaften agieren nicht im rechtsfreien Raum; ihre Glaubensregeln stehen nicht über den für alle maßgeblichen schulischen Erziehungszielen.

Eine erfreuliche Rechtsprechung, die von verschiedenen Untergerichten bereits zunehmend praktiziert wird, die allerdings auch notwendig ist, angesichts der Zunahme der Begehrlichkeiten derjenigen, für die ihre Glaubenslehrsätze an erster Stelle stehen: Befreiung vom Biologie-, vom Sexualkunde-, vom Deutsch- sowie vom Sport- und Schwimmunterricht, jeweils mit Hinweis auf die Besonderheiten der eigenen konservativen / orthodoxen Community. Bloß nicht über Sexualität aufklären, bloß nicht über Evolution sprechen. Ein Fass ohne Boden: denn, warum sollte nicht auch eine Befreiung etwa vom Geschichtsunterricht, vom Geographieunterricht oder vom Ethikunterricht aufgrund der eigenen (bzw. der elterlichen) "wahren" religiösen Überzeugung möglich sein? Würde hier nachgegeben, wäre der Weg frei für die nächste Runde: die Einführung kreationistischen Schulunterrichts würde vehement gefordert und manches andere mehr.

Den Selbstausgrenzungsunternehmungen von Religionsgemeinschaften ist gestern in zwei Fällen höchstrichterlich Paroli geboten worden. Das Urteil hinsichtlich des den Zeugen Jehovas angehörenden Schülers wird kaum einer bedauern. Pech für diesen Schüler gewissermaßen, dass er keinen "Migrationshintergrund" hat. Denn dann bekäme er sicherlich Unterstützung von denen, die mit dem Zauberbegriff "Integration" gerne alles Mögliche rechtfertigen: Abgrenzung, Ausgrenzung, bis hin zum minderen Grundrechtsschutz. Das sind die Gleichen, die nicht bereit sind die Frage nach der Indoktrination von Kindern in strenggläubigen Familien zu thematisieren.

Diese Leute werden womöglich schon in Kürze ihr Lamento über die Teilnahmepflicht muslimischer Schülerinnen am koedukativen Schwimmunterricht anstimmen. Ihnen sei in´s Stammbuch geschrieben: Zum Integrationsauftrag gehört auch, dass religiöse Minderheiten sich nicht selbst ausgrenzen. Vor allem aber, dass nicht die Kinder von den Erwachsenen zur Ausgrenzung bestimmt werden. Und: es wäre unredlich, den jehovanitischen Jungen anders zu behandeln als das muslimische Mädchen.

Aber es besteht Hoffnung auf eine sachliche Erörterung des Themas: denn sowohl Kenan Kolat, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde Deutschland, als auch Ayman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, haben bereits am Mittwoch erklärt, sie könnten mit der Leipziger Entscheidung zum Schwimmunterricht leben; das Gericht habe einen akzeptablen Ausgleich der verschiedenen Interessen gefunden.

Bekannt ist, dass etwa drei Prozent muslimischer Schülerinnen aus religiösen Gründen nicht am koedukativen Schwimmunterricht teilnehmen wollen, oder besser: nach dem Willen ihrer Eltern nicht teilnehmen sollen. Nach Adam Ries bedeutet dies: 97 Prozent der muslimischen Mädchen und ihrer Eltern haben damit überhaupt kein Problem.

Es ist an der Zeit, endlich mit dem Gerede von den Muslimen, von den muslimischen Mädchen, aufzuhören. Die Gleichsetzung aller Muslime mit kleinen orthodox-fanatischen Gruppen ist völlig verfehlt. Und: sie ist eine Beleidigung für die übergroße Mehrheit der Muslime, denen gewissermaßen unterstellt wird, sie seien ja keine richtigen Muslime, das seien allein die orthodoxen Minderheiten

Sowenig die Zeugen Jehovas die Christen sind, sowenig sind die orthodoxen Muslime (mit strengen Bekleidungsvorschriften) die Muslime. Derartige Vereinfachungen sollte man denjenigen, die von einer Integration konservativster Lebensmodelle schwätzen, künftig austreiben.

Gut ist, dass das Bundesverwaltungsgericht beide Fälle, den des jehovanitischen Schülers und den der muslimischen Schülerin, an ein und demselben Sitzungstag verhandelt hat. Dadurch wird über die gleichzeitige Berichterstattung über beide Fällen deutlich, um was es geht: die rechtliche Klärung, was Religiöse jeglicher Couleur in Hinsicht auf den Schulunterricht verlangen können. Und was nicht.

Nun ist erforderlich, dass auch die Schulpraxis reagiert; ein augenzwinkerndes Verbünden mit religiösen Ab- und Ausgrenzern darf es auch da, wo dies bisher praktiziert worden sein sollte, nicht mehr geben.

Eine Lehrerin hat am Mittwoch im SPIEGEL die Situation im Schulalltag erläutert und die Probleme deutlich gemacht. Zu rechnen ist damit, dass ab sofort eine Reihe muslimischer Schülerinnen plötzlich erkranken, wenn es um den Schwimmunterricht geht. Es wird deutlich werden: weitere Maßnahmen sind dringend erforderlich. Dazu gehört, künftig „Gefälligkeitsatteste“ über angebliche Chlorallergien oder andere vermeintliche Erkrankungen, die ein Schwimmen verhindern, nicht mehr unbesehen zu akzeptieren; dazu gehört aber auch die Beschäftigung mit der Problematik des geistlichen Missbrauchs, wenn Eltern und Religionsvertreter Minderjährige auf Ab- und Ausgrenzung hin indoktrinieren.

Jetzt gehört zudem das Thema Befreiung von Klassenfahrten aus religiösen Gründen angepackt. Die bisherige Praxis darf nach der Entscheidung aus Leipzig keinen Bestand mehr haben. Es kann nicht angehen, dass Schüler und Schülerinnen aus religiösen Motiven ausgegrenzt werden und Sonderregelungen unterworfen sind. Not tut aber auch eine verstärkte schulische Beschäftigung mit Kindern aus strenggläubigen Communities. Sie dürfen nicht weiter von der Gesellschaft allein gelassen werden. Geistlicher Missbrauch sollte zum gesellschaftlichen Thema werden.

Heute Morgen hat eine muslimische Schülerin im Deutschlandfunk geäußert, sie schäme sich, wenn sie sich Jungen gegenüber bis auf einen Bikini entblößen müsse und ihren Körper zur Schau stelle. Denn, so hat sie ausgeführt, sie sei es seit Jahren gewöhnt, "züchtig" bekleidet mit Kopftuch und entsprechender Kleidung zu sein, da sei es ein großes Problem für sie, dann in der Schwimmhalle genau das Gegenteil zu machen. Nach den seelischen Nöten der Kinder in strenggläubigen Commuties wird wenig gefragt. Aber um die Kinder sollte es doch in erster Linie gehen. Ein Schritt könnte sein, die "züchtige" Bekleidung aus den Schulen zu verbannen und den betroffenen Schülerinnen so einen Freiraum zu schaffen, in dem sie ohne äußeren Druck von Religionsgemeinschaften, Eltern und Verwandten sich bewegen können.

Und schließlich: Nicht nur in Fällen, in denen wie bei den "Zwölf Stämmen" physische Gewalt gegen Kinder angewendet wird, ist das Jugendamt gefragt – auch psychische Gewalt gegen Minderjährige gehört in den Fokus der Gesellschaft und den Minderjährigen muss Hilfe zukommen. Bei den "Zwölf Stämmen" gehört zum "Erziehungskonzept", die Kinder von der Außenwelt abzuschotten und ihnen einen normalen Kontakt zu Personen außerhalb der Sekte zu verwehren; sie von der Kenntnisnahme gesellschaftlichen Allgemeinwissens abzuschneiden.

Nichts anderes darf da gelten, wo dies nur in nicht so offenkundiger Weise geschieht.

Walter Otte

Vgl. dazu auch: "Bildungsauftrag statt Religion"