ADHS ist gesellschaftliche Aufgabe

Die "Ritualkunde"

Tücke geht - wie gesagt - davon aus, dass es vor allem die bildgebenden Medien sind, die die Kinder krank machen: "Bildmaschinen üben zwar auf alle Kinder Sogwirkung aus, aber nicht alle sind gleich anfällig dafür. Besonders wehrlos dagegen sind Kinder, die, längst ehe sie verstehen konnten, was sich auf Bildschirmen abspielt, die Kraft ihres Flimmerns als elementaren Aufmerksamkeitsentzug zu spüren bekommen haben. Dieser Entzug verlangt nach Wiederholung, um bewältigt zu werden. Er sucht sein Verlangen dort zu stillen, wo es entstand. Und so suchen diese Kinder gerade bei den Maschinen Ruhe, die sie auf diffuse Weise, noch präobjektal, gewissermaßen spukhaft, und dennoch prägend als Stifter ihrer Unruhe erlebt haben. Das ist die Logik des traumatischen Wiederholungszwang: 'Vor dem mir graut, zu dem michs drängt.'" (S. 86)

Die Aufmerksamkeit erregen diese "Bildmaschinen" dadurch, dass sie versuchen, etwas zu ersetzen, dass in der heutigen Zeit ziemlich verloren ging: Zum Beispiel das Vorlesen eines Buches. "Erst durch Aufmerksamkeit lernt man menschenspezifische Gemeinschaft. Zwar sucht der Säugling vom ersten Tag an Gemeinschaft, wenn er die Wärme und die Brust der Mutter sucht. Aber diese Art von Gemeinschaft suchen alle Säugetiere. Spezifisch menschlich wird Gemeinschaft jedoch erst, wenn ein Drittes sie stiftet. Menschliche, nicht bloß psysisch-emotionale Nähe zwischen Eltern und Kind erfordert, dass sie sich gemeinsam auf etwas richten, was sie gemeinsam fesselt. Deshalb ist das gemeinsame Anschauen von Bilderbüchern, das geduldige wiederholte Benennen von Gegenständen, das Vorsprechen oder Vorlesen von Texten für Kleinkinder so unschätzbar wichtig. Es handelt sich hierbei um nichts Geringeres als Initiationsriten, die die Kinder in einer spezifischeren Weise in die menschliche Gemeinschaft aufnehmen als die Geburt." (S. 65 - Hervorhebung von mir, F.N.)

Diese Rituale interessieren Türcke - er nennt sie auch "geronnene und kodifizierte Wiederholungen". Und von diesem Gedanken ausgehend plädiert er für die Einführung eines Unterrichtsfaches "Ritualkunde".

"Was hier Ritualkunde genannt wird, begänne am besten schon im Kindergarten und ist darauf angelegt, die Schüler von der Einschulung bis zum Abitur zu begleiten. Allerdings in verschiedener Konsistenz und Dosierung."(S. 87) Diese Idee führt er recht ausführlich im Buch aus und teilt mit, dass er sich in dem Fach "den Zusammenschluss von Sozialkunde und Religion/Ethik" vorstellt - mit der vollen Stundenzahl der beiden Fächer zusammengenommen.

Allerdings zeigt sich hier - wenn man genauer hinschaut, dann leider doch, dass Christoph Türcke einen religiösen Hintergrund hat. Denn wenn er schreibt: Ritualkunde "wäre ferner ein konfessionsneutrales Fach - und gleichwohl den konfessionellen Anliegen der Religionsgemeinschaften um einiges näher als jeglicher separater Werteunterricht für Nichtgläubige. Denn Ritualkunde stellt schon von ihrem Ansatz her die abstrakte Trennung von sakral und profan grundsätzlich in Frage" (S. 112), dann klingt das eben nicht konfessionsneutral. Denn er wertet einen nichtreliösen Werteunterricht - wie es zum Beispiel das Fach "Lebenskunde" ist - in einem Halbsatz ab. Ohne sich an irgend einer Stelle des Buches genauer mit dessen Inhalten und Anliegen zu befassen.

Auch wenn er schreibt: "Inszenieren Juwelierläden und Boutiquen ihre Schaufenster nicht wie Sakralräume, die Schmuckstücke wie Reliquien, die Schals wie Altartücher?" dann kann ich nicht anders als zu fragen, ob das nicht vielleicht eher umgekehrt richtiger wäre.

Doch abgesehen von diesem zum Ende des Buches hin deutlicher religiösen Touch ist die Idee eines Unterrichtes, in denen Kinder (und Erwachsene) lernen, wieder mehr auf sich selbst zu hören; sich selbst zu vertrauen und es auch mal mit sich selbst in Langeweile auszuhalten, überdenkenswert.

Wenn man Türcke folgt, dann ist ADHS weniger ein Gesundheitsproblem als vielmehr ein gesellschaftliches. Und damit ein selbstgemachtes. Und das können nur wir selbst ändern.

Frank Nicolai
 

Christoph Türcke - Hyperaktiv!: Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur , Beck 2012, ISBN: 3406630448, 9,95 Euro