Sprung in die Gegenwart
Der II. Abschnitt teilt sich ebenfalls in drei Teile. Zunächst wird die Begriffsgeschichte von Humanismus zwischen 1970 und 2003 vor allem mit dem Ziel erzählt, über die Geburt des HVD zu berichten. Dann geht es um das humanistische "Selbstverständnis" des HVD, gestützt besonders auf Frieder Otto Wolfs "Humanismus für das 21. Jahrhundert" und in Kontrast gesetzt zu Joachim Kahls "Weltlicher Humanismus". Das leitet über zu Michael Schmidt-Salomons "Manifest des evolutionären Humanismus" und dessen Streit mit Joachim Kahl.
Es seien vor allem diese drei Werke und Diskutanten maßgeblich für die inneren Diskurse der säkularen Szene. Auffällig sei, dass sie untereinander um den absoluten Geltungsanspruch ihrer Modelle ringen, "von dem keiner auch nur geringfügig abrücken möchte", was besonders Kahl und Schmidt-Salomon bis zur gegenseitigen persönlichen Herabstufung treiben würden. Dabei bezieht Baab den Standpunkt, dass es in diesem Streit nur formal um Humanismus gehe. Das erläutert er dann genauer und umfänglich durch Analyse der drei Werke.
Baab schließt den II. Abschnitt mit der Feststellung ab, so sehr sich die drei Entwürfe auch unterschieden, ihnen liege "eine Reihe formaler Gemeinsamkeiten zugrunde", die aktuell "säkularen Humanismus" definieren, den er kritisch bewertend, "weichen Humanismus" nennt: Der einzelne Mensch agiere darin innerhalb des Menschheitskollektivs und des Naturkreislaufs. "Ausgehend von einer als defizitär empfundenen Gegenwartssituation wird ein globales Ethos entworfen, durch dessen Etablierung eine partikuläre Verbesserung dieser Verhältnisse erreicht werden soll."
Dieser Humanismus ziehe "seine Legitimation nicht mehr aus der Antizipation eines fest umrissenen Menschheitsideals, sondern aus der Konstatierung eines Defizits; die Opposition gegen konkrete, bestehende Verhältnisse wird daher zu Basis des eigenen Engagements und ist nicht mehr nur Folge der eigenen Ideale."
Dieser Aufgabe von hehren Zielen, die Welt neu zu machen, also der Verzicht auf eine innerweltliche Transzendenz, bringt die Säkularen, so kann man aus Baabs Kontext schließen, in einen Nachteil gegenüber den außerweltlichen Transzendenzanbietern, sprich den Religionen. Verbessernde Mehrschritttherapien bieten nahezu alle vergleichbaren säkularen Vereinigungen, die sich zudem nicht mit dem Makel belasten, gegen die "großen Erzählungen" der Kirchen aktiv aufzutreten mit einem die Konkurrenz betonenden "säkularen Humanismus" – und sei es aus Gleichbehandlungsgrundsätzen. Der Humanismus ist entsprechend kleinteilig und ständig in Gefahr, "präskriptive Aussagen" zu treffen, "vom Sein auf das Sollen" zu schließen.
Um dies zu verdeutlichen stellt Baab drei aktuelle nichthumanistische Weltsichten vor, die gegenüber dem Humanismus voraus haben, dass über sie breit diskutiert wird: Peter Sloterdeijk, Robert Spaemann und Wolfgang Welsch.
Kritik am "Humanistischen Selbstverständnis"
Das Buch von Baab ist für den organisierten Humanismus wertvoll durch die detailreiche Auflistung, was einem so ins Auge fällt, wenn man auf den "Humanistischen Verband" und andere schaut und sich ein Urteil bildet, abgerückt von den Selbstdarstellungen und Wunschbildern.
Das Zustandekommen des Grundsatzpapiers 2001 wird von Baab sachlich richtig dargestellt, inklusive das Problem einer juristischen Bekenntnisorganisation, die sich mit dem "Bekennen" schwer tut und sich gegen "Humanismus des HVD als Konfession" erfolgreich wehrt.
In der Beschreibung des "Selbstverständnisses" nimmt Baab wesentlich vorweg, was er dann an den Texten von Wolf, Kahl und Schmidt-Salomon weiter ausführt. Er resümiert: "Der HVD-Humanismus möchte eine 'selbstkritische' Einstellung den 'Widersprüchen' gegenüber vertreten, 'in die das Projekt einer aufgeklärten Moderne sich verstrickt hatte'; er scheint nicht zu bemerken, wie radikal sein Selbstbild mit allem bricht, was konstitutiv für die historischen Humanismen war, auf die er sich beruft."
Baabs Befund stimmt, dass sich ehemalige sozialistisch-sozialdemokratische Freidenker nach dem Untergang der Arbeiterbewegung und des Ostblocks, jedenfalls zweier realer Geschichtssubjekte, den Humanismusbegriff eroberten, weil ihr Ziel, der Sozialismus, unterging, denn dieser war das Ziel der Vorgängergruppe Freidenker, das war ihre "Weltanschauung"; sogar der "Humansozialismus", wie er Flechtheim noch vorschwebte, ging verloren. Humanismus nun so zu bestimmen, dass er auf den historischen Humanismus (das Erbe) passt und zugleich Menschen gewinnt für einen Verein, ist ein schwieriges Geschäft, das vor allem verlangt, Humanismus zu studieren, keine "neuen" zu erfinden, und den praktischen Humanismus zu pflegen. Da ist Übersetzungsarbeit zu leisten. Sollte der HVD wachsen, was noch nicht ausgemacht ist, bedarf er der Verortung in der "großen Erzählung" vom Humanismus. Von beiden Seiten muss dies akzeptabel und verstehbar sein, für die Funktionärin und den Kindergärtner, aber auch den akademischen Diskurs – und das alles ohne mehrere Fakultäten für "Humanistik". Sehr schwierig.
Mag sich die Auswahl der behandelten Personen noch erschließen am Zweck, ein buntes Bild eines zerfaserten Humanismus als eines höchst unvollkommen verfassten Gegenentwurfs zur Religion und deren Lehramt zu zeichnen – am Katholizismus lässt sich Humanismus nicht vermessen, so sehr dies auch ein Kriterium Baabs für dessen Kulturfähigkeit immer wieder durchscheint. Ihm fehle (die Passage ist ausgerechnet im Abschnitt über den "dritten Humanismus" zu finden) die Fähigkeit zu einer "Vision der Einheit": Es sei die "große Schwäche des humanistischen Paradigmas – dessen extreme Variabilität". Aber vielleicht liegt darin seine Stärke, die Einheit in der Vielfalt zu wollen.
Bildend und mitunter spannend ist der von Baab dargebotene Stoff durchaus. Das Buch ist gut lesbar. Es wird hiermit den Funktionären der Verbände ans Herz gelegt.
Eine persönliche Anmerkung zum Schluss: Tiefensee befördert mich in seinem Geleitwort gleich eingangs zu einem "Vordenker" des HVD. Das hätte ich sicher gemerkt. Das Urteil übernimmt er von Baab, der allerdings mehrfach richtigerweise auf Misserfolge in diesem Bemühen verweist.
Horst Groschopp
Florian Baab: Was ist Humanismus? Geschichte des Begriffes, Gegenkonzepte, säkulare Humanismen heute. Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2013, 300 S., 39,95 €, ISBN 978-3-7917-2553-6 (ratio fidei, Bd. 51).