(hpd) Die Herausgeber haben einen interessanten Band vorgelegt. Einige der Autoren sind evangelische Theologen und der Band wurde u.a. wesentlich von der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern bezuschusst. Die Gesamttendenz der Aufsatzsammlung ist aber erfreulich kritisch.
Sowohl in zeitlicher wie räumlicher Hinsicht weist die Publikation eine große thematische Vielfalt auf, wie es vielen Tagungsbänden eigen ist. Der Soziologe Waldmann versucht daher, das Verhältnis von Macht und Religion in einem typologischen Schema zusammenzufassen, indem er fünf Hauptformen dieser Beziehungen unterscheidet: Von der absoluten Machtlosigkeit der Religion (Unterdrückung) bis zur Theokratie. Abschließend kommt er zum Ergebnis, eine allzu enge Verschwisterung mit der Macht schade den Religionen tendenziell, aber Machtnähe müsse die religiöse Substanz nicht zwingend angreifen. Die Einzelbeiträge des Bandes sind aber wohl eine zu schmale Basis für allgemeine Schlussfolgerungen.
Als viel interessanter erscheinen dem Rezensenten die meisten Einzeldarstellungen. Der Alttestamentler Eckart Otto bekräftigt in seiner Abhandlung zum antiken Judentum u.a. eingehend, wie schon die Archäologen Finkelstein und Silberman, dass die Erzählungen von der gewaltsamen Eroberung Palästinas eine literarische Fiktion aus dem 8. bis 7. Jh. seien. Im 7. Jh. liege der Beginn einer Unterscheidung von Religion und Staat aus einer historischen Notsituation heraus. - Der Aufsatz des Theologen Gemeinhardt zum spätantiken Christentum enthält recht kritische Passagen zur Rolle der Kirche und insbesondere der Bischöfe.
Die Historikerin Nicole Reinhardt befasst sich eingehend mit der Rolle der meist jesuitischen königlichen Beichtväter, einer Besonderheit der frühen Neuzeit. Vom späten 15. Jh. bis um 1750 galten Beichtväter an Herrscherhöfen auch als Ratgeber in weltlichen Dingen. Sie hatten eine Sonderstellung als eine Art Anti-Höfling mit großem Einfluss, vor allem in Spanien. In Frankreich hingegen beschränkte sich der Einfluss der Beichtväter auf kirchenpolitische Fragen. Ein kürzerer, aber recht faktenreicher Beitrag ist dem verhängnisvollen Billy Graham gewidmet (Pastor der Nation), der wesentlich für den politischen Aufstieg der amerikanischen Neoevangelikalen mitverantwortlich war. Er konnte praktisch bestimmen, was amerikanische Werte zu sein hatten. Den hysterischen Kommunistenjäger McCarthy bewunderte er.
Sehr aufschlussreich ist die Abhandlung des bekannten Religionswissenschaftlers Hans G. Kippenberg zur innerislamischen Diskussion um das Verhältnis von Gewalt und Fatwa. Man erfährt so interessante Dinge wie die große Bedeutung einer 1984 erlassenen Fatwa anlässlich der Erhebung gegen die Rote Armee in Afghanistan. Sie erklärt den Jihad zur Verteidigung muslimischer Länder zur persönlichen Pflicht selbst aller Muslimas, eine intern umstrittene völlig revolutionäre Ansicht, die jegliche Verhandlungen mit dem zu tötenden Feind verbietet. Der Beitrag bietet viel Material zum Verständnis des Islamismus im Nahen und Fernen Osten.
Ebenso lesenswert sind die Darlegungen der Israel-Spezialistin Angelika Timm zur höchstgefährlichen Rolle der jüdisch-orthodoxen Parteien in Israel, die ernsthaft die Frage provoziert haben, ob Israel grundsätzlich eine Demokratie bleiben oder in die Theokratie abgleiten soll. Der Historiker Hennig Fürtig stellt komprimiert die Geschichte der Islamischen Republik Iran von ihrer Vorgeschichte bis heute dar. Das Land stehe zwischen Republik und Islam mit Primat des Islam, wobei aber die Geistlichkeit heute sehr diskreditiert sei. Die Friedensforscherin und Historikerin Corinna Hauswedell zeichnet den Weg des Reverend Ian Paisley vom hasserfüllten evangelikalen Eiferer bis zum Regierungschef von Nordirland nach mit den wesentlichen ideologischen und machtpolitischen Aspekten: Ein wichtiger Beitrag zum Verständnis des sozialen und religiösen Dramas. An eine reuebedingte Wende Paisleys glaubt die Autorin mit anderen Beobachtern nicht, vielmehr an Dinge wie Machtwillen, Krankheit und Ruhmsucht.
Mindestens so lesenswert ist die Darstellung des weißen südafrikanischen Theologen Dirk J. Smit zum Thema Apartheidregime und Regimekritik. Schon Anfang des 19.Jh. begann eine schrittweise Rassentrennung, deren gesetzliche Forcierung weiße Reformierte Kirchen in den 30er und 40er Jahren des vorigen Jh. forderten und dazu zunehmend biblische „Belege“ vorlegten. Die Apartheid wurde mit großer kirchlicher Unterstützung bürgerliche Religion. Erst im Zuge der Erhebung der Schwarzen begann in den weißen Kirchen ein Umdenken, das immer stärker wurde. Die Kirchen erklärten Apartheid zur Sünde und wurden zur wesentlichen Kraft im Kampf gegen sie.
Der Weg von der Legitimierung und Unterstützung einer Terrorherrschaft (1976-1983 und schon 1966-1972) bis zur Beendigung derselben war auch der der katholischen Kirche in Argentinien, wie der Soziologe Peter Waldmann eindringlich darlegt. Innerkirchliche Opposition wurde verfolgt. Der Episkopat unterstützte geschlossen den Staatsterror und verlieh ihm eine sakrale Weihe. Für die militärischen Ermordungskommandos standen genügend Militärgeistliche zur Verfügung. Erst das völlige wirtschaftliche Scheitern des Regimes führte die Bischöfe zu einer Kursänderung.
Manch Leser wird sich von einer Darstellung des Einflusses der Kirchen in Deutschland durch den Theologen und Mitherausgeber Oberndorfer etwas versprochen haben. Leider bietet seine ohnehin zu kurze Abhandlung „nur“ historische Aspekte überwiegend aus der Neuzeit, während zu den aktuelleren Fragen kaum interessante Informationen und Erkenntnisse beigesteuert werden. Mit dieser Einschränkung: Ein vielseitiger und überwiegend aktueller kritischer Band, dessen Lektüre lohnt.
Gerhard Czermak
Bernd Oberdorfer/Peter Waldmann (Hg.): Machtfaktor Religion. Formen religiöser Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft, Köln/Weimar/Wien 2012, 264 S. (Böhlau Verlag), 34,90 Euro.