Freier Wille

Die philosophische Kritik ist jedoch bei den christlichen Theologen, die eine Widerlegung der Kritik versucht haben, erhalten geblieben. Um sich gegen Kritik zu immunisieren haben die Autoren der Bibel und auch die späteren Theologen stets mehrere Bibelstellen geschaffen um sowohl jeden Sinn als auch jeden Unsinn sowohl zu belegen als auch widerlegen zu können. Die scheinbar theoretisch abstrakte Lehre von der Unfreiheit des freien Willens, resultiert aus konkreten, manifesten, repressiven gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen der Wille der Menschen, aufgrund der inneren und äußeren Abhängigkeit und der daraus resultierenden Ohnmacht, gefesselt ist. Der Mensch denkt und der Staat lenkt. Menschen, die entfremdet bzw. fremdbestimmt sind, sollen ihr Schicksal, entfremdet und fremdbestimmt zu sein, akzeptieren. Denn, wenn es keinen freien Willen gibt, dann gibt es auch keine Entfremdung, keine Fremdbestimmung und auch keine Willfährigkeit.

Demzufolge ist auch eine Veränderung der gesellschaftlichen Zustände nicht notwendig. Wenn jemand mental und emotional davon überzeugt ist, unterdrückt, entfremdet und fremdbestimmt zu sein; wenn er darunter leidet, seinen eigenen Willen aufgeben und sich einem fremden Willen beugen zu müssen; dann hat derjenige eine falsche Vorstellung, er bildet sich das alles ein. Derjenige, der glaubt einen freien Willen zu haben, der muss sich von dieser eingebildeten und falschen Vorstellung verabschieden und funktionieren so wie es alle anderen auch tun. Denn Gott hat jedem Menschen eine Funktion zugewiesen und der Sinn des Lebens liegt darin, diese Funktion zu erkennen, darin aufzugehen und dankbar für die unendliche Gnade Gottes zu sein. Du bildest dir nur ein, dass du leidest und dass es dir schlecht geht, befreie dich von diesen falschen Vorstellungen, gebe deinen Kampf gegen vermeintlich repressive Verhältnisse auf und füge dich deinem Schicksal, füge dich dem Willen Gottes, dann wird es dir gut gehen und du wirst glücklich!

Die Bibel gibt Anweisungen wie der Wille der Kinder zu brechen ist, mit Prügel und Schlägen. Wer sein Kind liebt, der züchtigt, der schlägt es. Warum wollen die Autoren, dass Kinder geschlagen werden? Die Kinder haben einen ursprünglichen, unverfälschten freien Willen und eine angeborene Wissbegierde und Wissenslust. Jedes gesunde Kind ist imstande in kürzester Zeit unzählige Fragen zu stellen und die Erwachsenen bisweilen damit gänzlich zu überfordern. Um die christlichen Lügen den Kindern einzutrichtern, muss ihr Wille und ihre Wissbegierde gebrochen, indem sie geschlagen werden. Den Kindern wird ihr freier Wille und die Wissbegierde weggeprügelt und die christliche Lüge eingeprügelt.

Die Autoren der Bibel, die selbst geprügelt worden sind, die Opfer waren, predigen die Prügelstrafe und ziehen aus den Prügeln der Anderen ihre sadistische Lust. Aus den Opfern sind längst Täter geworden. An dieser sadomasochistischen Struktur hat sich bis in die Gegenwart hinein nichts verändert. Die modernen Christen, die sich dem Vorwurf, ihre Kinder zu prügeln, entziehen wollen, zwingen ihre Kinder tagelang in einen dunklen Keller oder drücken den Kopf der Kinder ins Wasser, bis sie, wegen Luftmangel, zusammenbrechen. Die Kinder werden so lange misshandelt, bis sie willfährig sind, bis ihre freier Wille gebrochen wurde. Beide Foltermethoden hinterlassen keine körperliche Spuren. Die Aussage, "er ist ein gebrochener Mensch bedeutet, dass der freie Wille dieses Menschen gebrochen wurde.

Die raffinierte Methode liegt darin, die Kinder durch soziale Isolation zu misshandeln. Den Kindern wird zunächst erzählt, dass sie, wenn sie nicht an Jesus glauben, sie in die Hölle kommen. Die Kinder kommen dann in den christlichen Kindergarten, in die christliche Schule und in das christliche Internat. Die Kinder werden in der Weise manipuliert, dass sie sich stets in einem christlichen sozialen Umfeld bewegen, damit sie nicht mit Menschen in Berührung kommen, die von Teufel besessen sind und somit nicht mit teuflischen Gedanken infiziert werden können. Der Staat und die Religion lebten stets in einem symbiotischen Herrschaftsverhältnis. Der Staat benutzte die Religion um, die Menschen zu blenden, zu dominieren und auszubeuten und die Religion benutzte den Staat um die Menschen auszubeuten, zu dominieren und zu blenden. Schließlich gibt auch die Sprache einen Aufschluss über das Problem des freien und des unfreien Willens: Es gibt Handlungen, die man "freiwillig" und Handlungen, die man "unfreiwillig" tut. Seiner inneren Stimme folgen, heißt, seinem freien Willen folgen. Die Frage ist, ob man seinem freien Willen folgt oder willfährig ist.

Die Lehre von der Unfreiheit des Willens ist einerseits ein Vehikel und Affirmation der repressiven gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse und andererseits eine Ideologie, um diese repressiven Verhältnisse zu verschleiern und zu festigen. Denn, der Schein bestimmt das Bewusstsein. Wer den freien Willen leugnet, leugnet zugleich die menschliche Freiheit und wer die Freiheit leugnet, leugnet zugleich die Möglichkeit einer Selbstbestimmung. Der freie Wille ist wie alle anderen menschlichen Vermögen durch die Wirklichkeit bedingt. Es gibt selbstredend keinen absolut freien Willen, genauso wenig wie es die absolute Wahrheit oder die absolute Freiheit gibt. Es gibt jedoch einen sehr wertvollen, die Würde des Menschen bildenden, durch die Natur und die Kultur bedingten, freien Willen.

Selbstbestimmung

Erkenne dich Selbst! Selbsterkenntnis, Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung bedingen sich gegenseitig und befinden sich in einem Wechselwirkungsprozess. Selbsterkenntnis ist die Erkenntnis der eigenen Anlagen, Fähigkeiten, Schwächen, Stärken, Kräften, Grenzen und die Möglichkeiten des eigenen Vermögens. Selbstbewusstsein ist das bewusste Sein des eigenen Selbst, der Prozess des Sich-selbst-findens in Natur und Gesellschaft. Selbstbestimmung ist die Fähigkeit in Überwindung von inneren und äußeren Widerständen, durch die Freisetzung des Willens, durch Bildung und Selbstbildung bzw. durch die kritische Konstruktion der Zusammenhänge der Wirklichkeit, sich selbst zu bestimmen und damit das eigene Leben selbst aktiv zu gestalten. Der, durch die Natur und Gesellschaft bzw. durch die äußeren und inneren Zwänge, unfreie Wille wird durch die Aufhebung dieser Zwänge frei gesetzt und wird damit zum freien Willen.

Im gleichen Sinne wie es die Erkenntnis und die Freiheit gibt, gibt es auch den freien Willen. Wer den freien Willen leugnet, leugnet zugleich die Freiheit, wer Freiheit leugnet, leugnet zugleich die Möglichkeit der Selbstbestimmung, wer die Selbstbestimmung leugnet, leugnet zugleich die Möglichkeit der Selbstverwirklichung. Ohne Freiheit kein freier Wille, ohne freien Willen keine Selbstbestimmung, ohne Selbstbestimmung keine Selbstverwirklichung.

Aus der Erkenntnis über den freien Willen resultiert die humanistisch politische Forderung nach der Aufhebung repressiver Verhältnisse und nach der Emanzipation des Menschen.

Branislav Petrovic