"Steuern sind Diebstahl!"
Wenn man Diebstahl als "Geld von jemand anderem ohne deren Einwilligung wegnehmen" definiert, mag das wohl stimmen. Aber ein typischer Fall von Diebstahl — wie beispielsweise in jemandes Haus einbrechen und alle Juwelen stehlen — hat eigentlich nur Nachteile. Normaler Diebstahl ist ungerecht und schadet der Gesellschaft. Es lässt sich argumentieren, dass Steuern auch in einem gewissen Sinne ungerecht sind, da Menschen, die hart für ihr Geld gearbeitet haben, dieses an Andere abgeben müssen. Aber die Etablierung einer Regierung, welche durch Steuern ja erst möglich wird, ist ein unbestreitbarer Vorteil von Steuern und mag wichtiger sein, als dass niemand Geld an die Allgemeinheit abgeben muss. Die Frage ist, ob die Vorteile die Nachteile überwiegen. Deshalb sollte man Steuern nicht einfach ablehnen, nur weil man Diebstahl im Allgemeinen verurteilt. Man müsste ebenfalls zeigen, dass die Vorteile dieser bestimmten Form von Diebstahl deren Nachteile nicht überwiegen.
"Förderungsmassnahmen zugunsten von Minderheiten sind rassistisch!"
Wenn man Rassismus als "bestimmte Menschen aufgrund ihrer Rasse bevorzugen" definiert, mag dies der Wahrheit entsprechen, aber wieder muss festgehalten werden, dass unsere unmittelbare negative Reaktion auf das archetypische Beispiel von Rassismus, wie z.B. den Ku Klux Klan, nicht auf unsere Reaktion gegenüber Förderungsmassnahmen zugunsten von Minderheiten verallgemeinert werden sollte. Ehe wir verallgemeinern, müssen wir zuerst überprüfen, dass die Probleme, aufgrund derer wir den Ku Klux Klan verurteilen — Gewalt, Erniedrigung, Uneinigkeit, Ungerechtigkeit — auch auf Förderungsmassnahmen zugunsten von Minderheiten zutreffen. Und selbst wenn wir einige dieser problematischen Eigenschaften auch hier finden, wie beispielsweise mangelnde Berücksichtigung meritokratischer Prinzipien, müsste man auch hier zunächst zeigen, dass die Nachteile dieser Politik deren Vorteile überwiegen.
In der Praxis
In hitzigen und temporeichen Wortgefechten kann es dennoch nützlich sein, zu behaupten, dass "Abtreibung kein Mord ist!" Denn stellen Sie sich vor, Sie würden in einer Diskussion im Debattierclub verlauten lassen, dass "Abtreibung Mord ist, aber trotzdem gut". Denn nun kann die Gegenseite einfach entgegnen: "Unser werter Opponent denkt anscheinend, dass Mord gut sein kann; wir hingegen beziehen tapfer Stellung und lehnen jegliche Form von Mord ab." Und damit haben Sie eigentlich auch schon verloren, denn Ihnen wird wahrscheinlich nicht die Zeit bleiben, Ihrem Widersacher und dem Publikum Ihre Position und den Fehlschluss der Atypikalität en détail zu erläutern. Ähnliches gilt auch für Diskussionen im Alltag, wo Zeit und Motivation häufig ebenfalls begrenzt sind. Aber falls die Umstände intellektuelle Redlichkeit und philosophische Klarheit erlauben, täten Sie gut daran, oberflächlicher Rhetorik abzuschwören und den Dingen auf den Grund zu gehen.
Es mag Fälle geben, in denen obiges Argumentationsmuster nützlich ist. Sie könnten beispielsweise versuchen eine Diskussion zu entfachen, indem Sie mögliche Widersprüche in der Position Ihres Gegners aufzeigen: "Hast du bemerkt, dass Steuern wirklich einige Eigenschaften von typischem Diebstahl aufweisen? Vielleicht hast du noch nie wirklich darüber nachgedacht? Warum sind deine moralischen Intuitionen in diesen beiden Fällen unterschiedlich?" Aber sobald Ihr Gegenspieler erwidert, dass er ihre Einwände bedacht hat und sich seiner Meinung nach die beiden Fälle hinsichtlich X, Y, und Z unterscheiden, sollte die Unterhaltung fortschreiten; es macht wenig Sinn weiterhin stumpfsinnig zu insistieren: "Aber es ist Diebstahl!"
Meiner Ansicht nach läuft der Fehlschluss der Atypikalität in den meisten Fällen jedoch auf emotionale Manipulation hinaus. Menschen empfinden Wörter automatisch als ewig währendes, monolithisches Ganzes, über-generalisieren folglich die mit einem Wort assoziierten Emotionen, und wenden diese auf alle mit diesem Wort bezeichneten Dinge an. Deshalb sitzen Sie in der Falle, sobald ihr Diskussionspartner Martin Luther King einen "Kriminellen" nennt. Ihnen wird in den meisten Fällen die Zeit fehlen, zu erwidern, dass Martin Luther King ein "Krimineller der guten Sorte" sei und daraufhin lang und ausgiebig zu erklären, was Sie damit eigentlich meinen. Sie wurden gezwungen, das archetypische Beispiel des Wortes als Ausgangspunkt der Diskussion zu verwenden und genau die entscheidenden Informationen zu ignorieren.
Und deshalb ist der Fehlschluss der Atypikalität das schlechteste Argument der Welt.
In Anlehnung an den englischen Originalartikel der LessWrong-Community.
Übernahme von der Webseite der gbs Schweiz.
- Es wurden absichtlich drei progressive und drei konservative Beispiele angeführt, um dem geneigten Leser zu ersparen, diese zusammenzuzählen und über die ideologische Gesinnung des Autors zu spekulieren.
- Dies sollte von deontologischen Theorien unterschieden werden, denen zufolge Mord immer moralisch verwerflich ist und dies durch ein beweisbares moralisches Prinzip begründet werden kann. Ich glaube nicht, dass diese Anmerkung wirklich wichtig ist, weil nur sehr wenige Menschen überhaupt so weit vorausdenken. Zudem stellt — meiner zugestandenermassen umstrittenen Meinung zufolge — der Grossteil deontologischer Theorien eigentlich nur den Versuch dar, den Fehlschluss der Atypikalität zu formalisieren und zu rechtfertigen.
- Manche Leute “lösen” dieses Problem, indem sie Mord als “ungesetzliches Töten” definieren. Das ist in etwa genauso kreativ wie “Krimineller” als “eine Person, die das Gesetz bricht und nicht Martin Luther King ist” umzudefinieren.