ERLANGEN. (hpd) Mit einem "evidenzbasierten Blick auf die Beschneidungsdebatte" will Hendrik Pekárek die Risiken und Vorteile der Zwangsbeschneidung Neugeborener unvoreingenommen bewerten. Den zentralen Aspekt jedoch leugnet er: Es ist keine medizinische, sondern eine ethische Frage.
Gibt es überhaupt unvoreingenommene, qualitativ hochwertige Studien zu dieser Frage? Die Aussagen des dänischen Forschers Morten Frisch im folgenden Video sprechen dagegen.
Er berichtet von den Schwierigkeiten und Anfeindungen, die er bei dem Versuch erlebte, eine Studie zu veröffentlichen, die Beschneidung zum Thema hatte. Anstandslos wurden seine früheren Arbeiten angenommen und peer-reviewed, erst als er die Variable „Beschneidung“ untersuchte, fingen die Schwierigkeiten an. Wenn ein Thema von solch politischer Brisanz ist, und wenn kritische Stimmen es so schwer haben, durchzudringen, dann wirft das auch ein sehr negatives Licht auf die weniger kritischen Stimmen – und ein unvoreingenommener, "evidenzbasierter" Blick erscheint wenig sinnvoll.
Aber unvoreingenommen wird Pekárek ohnehin kaum sein. Er ist "Research Fellow und Doktorand bei den Berliner Studien zum Jüdischen Recht an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin." Kritikern der Zwangsbeschneidung wirft er immer wieder Voreingenommenheit vor, aber dass es auch eine veritable Beschneidungslobby gibt, erfahren wir aus seinem Text nicht. So führt er völlig kritiklos jemanden wie Brian Morris an, einen glühenden Verfechter der Zwangsbeschneidung für alle männlichen Kinder auf der Welt, der allen Ernstes eine intakte, lebendige Vorhaut als tödliches Risiko darstellt. (Cirkleaks führt ihn gar als "Circumfetishist".)
Szientabilität
Aus Debatten um Studien zu Homöopathie und anderen esoterischen Ideen stammt der Begriff der Szientabilität. Damit ist gemeint, dass eine Hypothese wissenschaftlichen Plausibilitätsstandards genügen muss, bevor es sich überhaupt lohnt, sie wissenschaftlich zu untersuchen. Wenn Studien zur Homöopathie eine Wirkung nicht-vorhandener Wirkstoffe belegen, dann stehen sie entweder zu gesicherten Erkenntnissen in Chemie, Biologie und Medizin im Widerspruch, oder sie deuten auf einen mächtigen Effekt hin, z.B. den Placeboeffekt. Immerhin kosten Studien Zeit und Geld, und viele Hypothesen können auch ohne langwierige Studien getrost zurückgewiesen werden.
Wie plausibel ist ein Studienergebnis, das nach einer Amputation der Vorhaut keinerlei Einschränkung der Empfindungsfähigkeit feststellt? Pekárek führt zunächst Studien an, die solche Einschränkungen feststellen, nur um sie dann aufgrund methodischer Mängel und wegen eines „offene[n] Interessenkonflikt[s]“ zurückzuweisen, „da die Studie von einer amerikanischen Anti-Beschneidungsorganisation finanziert und durchgeführt wurde.“ [Sorrells et al. 2007] Dann führt er eine Reihe von Studien an, die „keine statistisch signifikanten sensorischen Unterschiede zwischen beschnittenen und nicht-beschnittenen Männern feststellen können“ [Bleustein et al. 2005], mit dem Ergebnis, „dass zwischen beschnittenen und unbeschnittenen Männern [...] keine Unterschiede in der sexuellen Empfindlichkeit bestanden“ [Payne et al. 2007], oder „dass die Zirkumzision bei erwachsenen Männern weder das sexuelle Empfinden noch die sexuelle Funktionsfähigkeit negativ beeinträchtigt“ [Kigozi et al. 2008]. Kurz: Gemäß diesen Studien macht Beschneidung nicht den geringsten Unterschied aus.
Viele dieser Studien werden auf der – sehr „voreingenommenen“ – Seite The Intactivism Pages genauer betrachtet. (Siehe auch den Kommentar von John R. Taylor zur Studie von Payne et al. 2007: „The Forgotten Foreskin and Its Ridged Band“)
Erst seit relativ kurzer Zeit (seit den Arbeiten von John R. Taylor 1996) wissen wir, was genau bei einer Beschneidung abgeschnitten wird. Es ist eine komplexe neurologische Struktur. Dass eine Amputation dieser Struktur keinerlei einschränkende Auswirkungen auf das sexuelle Empfinden hat, ist wissenschaftlich ebenso plausibel wie die Hypothese, dass die Entfernung der Fingerkuppen keine Auswirkungen auf den Tastsinn hat. Wenn Studien zu einem solchen Ergebnis kommen, dann stehen sie entweder zu gesicherten Erkenntnissen der Anatomie und Neurologie im Widerspruch, oder sie deuten auf einen mächtigen, verzerrenden Effekt hin, der wahrscheinlich psychologischer Natur ist. Die Befunde sind also wissenschaftlich unplausibel, sie sind nicht szientabel.
Historische Belege untermauern diese Unplausibilität. Mittelalterliche jüdische Gelehrte wie Maimonides und Isaac Ben Yedaiah wussten genau, dass mit der Beschneidung die Sexualität beschnitten wird, und gaben das unumwunden als ihren Zweck zu. Auch die sexualfeindlichen Puritaner im 19. Jahrhundert wollten durch Beschneidung eben diese negativen Auswirkungen auf die Sexualität erreichen. Sie wären wohl mehr als befremdet, wenn sie erleben könnten, dass heute für genau dieselbe Maßnahme genau entgegengesetzt argumentiert wird.
Ethikabilität
Nun ist es nicht im gleichen Maße unplausibel, dass ein verhornter, vorhautloser Penis besser vor Ansteckungen schützt. [Eine Kritik der berühmt-berüchtigten AIDS-Studien findet sich hier.] Es könnte auch argumentiert werden, dass der geringe Schaden, den die einzelnen Menschen hätten, durch den kollektiven Vorteil aufgewogen würde, weil ansteckende Krankheiten dadurch unwahrscheinlicher würden.
Ob wir allerdings bei einzelnen Personen einen Schaden verursachen oder ihre Rechte verletzen dürfen, um einen kollektiven Vorteil zu gewinnen, ist eine ethische Frage, die wir für gewöhnlich verneinen. Sie wird in der Moralphilosophie mit Gedankenexperimenten wie dem berühmten Trolley-Experiment auf die Spitze getrieben.
Dort, wo die Beschneidung also nicht die Frage der Szientabilität aufwirft, stellt sich – analog formuliert – die der Ethikabilität.
Einige Beispiele:
- Im letzten Jahr hat Angelina Jolie Schlagzeilen gemacht, als bekannt wurde, dass sie sich beide Brüste hat amputieren lassen. Sie hatte ein genetisch bedingtes Brustkrebsrisiko für sich entdeckt und daraufhin rational und selbstbestimmt gehandelt. Das ist völlig in Ordnung. Was aber würden wir sagen, wenn sie aus den gleichen Gründen die Brustdrüsen ihrer neugeborenen Tochter hätte amputieren lassen? Was würden wir zu einer allgemeinen Politik der prophylaktischen Entfernung von Brustdrüsen bei neugeborenen Mädchen sagen?
- Gerade wurde bekannt, dass die Zahl der Organspender auf einen historischen Tiefpunkt gesunken ist. Zumindest für Nieren könnten wir das leicht ändern, indem wir eine Zwangsnierenspende einführen. Sollte dann die eine verbliebene Niere des „Spenders“ versagen, würde dieses System sicherstellen, dass immer eine gesunde Niere zur Transplantation zur Verfügung steht. Wir müssten einfach nur das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit in Bezug auf Nieren einschränken, und schön könnten wir beliebig zugreifen.
- Hier ein Szenario, das Brian Morris gefallen dürfte: Bei der Musterung wird bei allen jungen Männern festgestellt, ob sie beschnitten sind. Falls nicht, werden sie zwangsweise beschnitten. Das ist leider kein rein fiktives Beispiel. In den USA fand zu Beginn des 20. Jahrhunderts genau das statt. Und obwohl alle offiziellen Stellen in Afrika bei ihrer Werbung für die Beschneidung als Maßnahme gegen AIDS immer die Freiwilligkeit betonen, verstehen allzu viele Soldaten und Polizisten diese Empfehlung als Befehl. Auch in kriegerischen Konflikten ist Zwangsbeschneidung oft bedrückende Realität. (Noch bedrückender allerdings ist die Tatsache, dass ihre Kategorisierung als Kriegsverbrechen politisch umstritten ist, wie der Bericht von Michael Glass zeigt.)
- Und da wir gerade bei der Zwangsbeschneidung sind: Es könnte sich durchaus herausstellen, dass einige Formen der zwangsweisen Beschneidung junger Mädchen und Frauen dazu beitragen, die Verbreitung ansteckender Geschlechtskrankheiten einzudämmen. Trotz der Entfernung erogen-sensiblen Gewebes könnten Studien herausfinden, dass diese Operation keine Auswirkungen auf das sexuelle Empfinden hat. (Das Rätsel wäre dabei genauso groß wie im Falle der männlichen Beschneidung.) Wäre das ein gutes Argument für die flächendeckende Durchführung weiblicher Genitalverstümmelung?
All diese Maßnahmen finden bei uns nicht statt, weil niemand von uns in einer Welt leben möchte, in der wir einfach so beiseite genommen und operiert werden können, weil jemand anderes eine neue Niere braucht oder weil damit ein Krankheitsrisiko reduziert wird. Wir würden die Politik der Zwangsabgabe unserer Nieren auch dann nicht akzeptieren, wenn das Gesetz eine Operation nach modernsten ärztlichen Standards vorschreiben würde. Tatsächlich hätte eine solche Politik deshalb keine Chance, weil sie an unseren ethischen Standards scheiterte. Daher wäre es auch müßig, die Vor- und Nachteile all dieser Maßnahmen unvoreingenommen in wissenschaftlichen Studien zu untersuchen. Sie sind nicht ethikabel.
An diesen Fällen wird aber vor allem deutlich, dass die methodische Prämisse, die Pekárek seiner Untersuchung voranstellt, falsch ist. Er schreibt: "Die Frage, ob die nicht medizinisch indizierte Zirkumzision das Kindeswohl negativ beeinträchtigt, ist primär keine rechtliche Frage, sondern nur durch die Erkenntnisse anderer Disziplinen, insbesondere der Medizin und der Psychologie beantwortbar."
Aber Medizin und Psychologie beantworten nicht die Frage, ob ein Kind ein Grundrecht auf die Unversehrtheit seines Körpers hat. Auch die obigen Beispiele sollten hinreichend deutlich gemacht haben, dass die aufgeworfenen ethischen Fragen Vorrang haben, und dass Medizin und Psychologie für solche normativen Entscheidungen lediglich den Status von Hilfswissenschaften haben können.
Komplikationen und Todesfälle
Nach allen Studien, die Pekárek gelten lässt, sind „einfache Komplikationen selten und schwere Komplikationen sehr selten.“ Zu den schweren Komplikationen zählen auch entstellte oder amputierte Penisse. Insofern kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass „sehr selten“ bei einer medizinisch nicht-indizierten Operation „zu oft“ ist, dass jede Komplikationsrate größer als Null zu groß ist. Um eine solche Rate festzustellen, reichen anekdotische Belege aus. Diese Seite listet mehr als genug auf.
Im Übrigen werden Männer, die mit der Amputation ihrer Vorhaut nicht einverstanden sind, wohl auch ihr Leben ohne Vorhaut als „Komplikation“ einstufen.
Zur Frage der Sterblichkeit schreibt Pekárek:"In Abwesenheit entgegenstehender aktueller Daten ist mithin davon auszugehen, dass die tatsächliche Sterblichkeitsrate bei der neonatalen Beschneidung extrem gering ist."
Sollten wir eine „extrem geringe tatsächliche Sterblichkeitsrate“ bei einer medizinisch nicht-indizierten – sprich: unnötigen – Operation akzeptieren, die größer als Null ist? Und dafür, dass sie größer als Null ist, sprechen zwei Argumente, die sich nicht in den Studien finden.
Erstens ist gerade in den USA der Anreiz zur Vertuschung überwältigend. Dort sind Krankenhäuser aus rechtlichen und finanziellen Gründen gut beraten, für jeden Todesfall durch Beschneidung andere Gründe zu finden, so dass wohl die „extrem geringe Sterblichkeitsrate“ nur die Spitze eines Eisbergs sein dürfte. Es dürfte nicht schwer sein, eine pre-existing condition zu finden, die dann offenbar gar nichts mehr mit der Operation zu tun hat.
Zweitens geraten trotzdem immer wieder Nachrichten von fatalen Konsequenzen in die Medien, seit die Sensibilität für dieses Thema geschärft ist. Auch wenn diese Fälle keinen Eingang in Studien finden oder sich dort nur zu einer „extrem geringen“ Rate addieren, reichen hier die anekdotischen Belege aus, um festzustellen, dass die Sterberate eindeutig größer als Null ist.
Historisch gesehen gibt es im Übrigen einen untrüglichen Beleg anderer Art dafür, dass Beschneidung immer schon ein hohes Sterblichkeitsrisiko mit sich brachte. Im Talmud streiten Rabbis darüber, wie viele Söhne eine Mutter durch Beschneidung bereits verloren haben muss, damit sie ihr die Beschneidung des jüngsten erlassen. Sie schwanken zwischen zwei und drei. (Leonard Glick, Marked in Your Flesh, S. 49) Schätzen Sie selbst, wie häufig die Todesfälle gewesen sein müssen, damit es überhaupt zu einer solchen Regelung kommen konnte. Die Zwangsbeschneidung Neugeborener ist eben ein rituelles Relikt aus einer Zeit, in der der Einzelne, und das einzelne Kind zumal, nicht viel zählte.
Auch später waren Befürworter der Zwangsbeschneidung immer wieder bereit, für die „Vorteile“ auch Todesopfer zu akzeptieren. So schrieb der Chirurg John Bland-Sutton im Jahr 1907 achselzuckend: "In seltenen Fällen wurden jüdische Kinder aufgrund einer bestimmten rituellen Variante mit Syphilis und Tuberkulose angesteckt. Kinder starben durch Blutverlust und Sepsis, ob die Operation von einem Mediziner oder von einem Mohel durchgeführt wurde. Diese Dinge beweisen lediglich, dass jeder menschlichen Handlung ein Element des Risikos innewohnt.“ (John Bland-Sutton, „Circumcision as a rite and as a surgical operation“, British Medical Journal, 15. Juni 1907, S. 1412, eigene Übersetzung)
Protest
Schließlich gibt es noch einen weiteren starken Beleg dafür, dass Zwangsbeschneidung von Kindern in erster Linie kein medizinisches, sondern ein ethisches Problem ist. Auch dieser Beleg kann bei einem allzu engen „evidenzbasierten Blick“ auf die Studienlage leicht ignoriert werden: Dieser Beleg ist die Debatte selbst! Die Tatsache, dass es weltweit eine wachsende Bewegung von Männern gibt, die ihr Schweigen gebrochen haben, die nicht mehr still vor sich hin leiden, die protestieren und politisch aktiv werden. Dagegen gibt es aber keine Bewegung von Männern mit intakten Genitalien, die sich darüber empören und dagegen demonstrieren, dass ihnen als Säugling die Vorhaut gelassen wurde.
Aktivismus hinter einer Fassade der Neutralität
Es gibt Fälle, in denen auch der bereits voreingenommen ist, der vorgibt, unvoreingenommen an die Sache heranzugehen. Die Zwangsbeschneidung von Kindern ist ein solcher Fall. Die ethische Frage nach den Grundrechten der Kinder ist unabweisbar, und sie lässt keine neutrale Antwort zu. Pekárek aber versteckt seine Antwort und seinen Beschneidungsaktivismus hinter einer Fassade der unvoreingenommenen Neutralität. Auf einem politisch heiß umkämpften Schlachtfeld betreibt er szientistische Camouflage und gibt vor, unparteiisch – nach Aktenlage quasi – entscheiden zu wollen. Die Akten sortiert er danach, ob sie zu seiner Antwort passen. Sein Beitrag ist tendenziös und – gerade weil er die wissenschaftliche, „evidenzbasierte“ Medizin so stark betont, die ethische Frage aber völlig ignoriert – ein Beispiel für schlechte Wissenschaft.