Jesus, die Frauen und die Auferstehung

Dass er, Jesus, sich aber jetzt nicht berühren lassen will, ist im Rahmen der Imaginationskraft dieser Frau durchaus verständlich, logisch. Wie oft erleben Lebende ihre tote Geliebte, ihren toten Geliebten im Traum als ganz real, aber eben doch in einer anderen Dimension, zwar liebend ihnen zugewandt, aber doch irgendwie unnahbar, unberührbar, in Distanz. Nach dem Johannes-Text, den wir hier interpretieren, deutet Jesus diese andere, jenseitige Dimension mit dem Hinweis an, er fahre auf zum Vater, in den Himmel.

Für Maria Magdalena ist der tote Jesus wieder lebendig, steht er real vor ihr - doch auch wieder nicht so real wie vor seinem Tod, da sie seinen Leib jetzt nicht mehr berühren kann. Diese feinsinnige, auch psychologisch überzeugende Liebesgeschichte, wie sie uns das Johannes-Evangelium beschreibt, beweist erneut: Die liebende Einbildungskraft einer Frau war religionsbegründend, erweckte das Christentum zu erstem Leben. Nicht so sehr der Glaube, wie Jesus sagt (Mk. 11,23), vielmehr die Liebe hat hier Berge versetzt. Die ganze lyrisch-erotische Begebenheit zwischen Maria Magdalena und Jesus nach dessen Tod bleibt jedoch absolut unverständlich, wenn es kein volles sinnliches Liebesleben zwischen den beiden zu Lebzeiten Jesu gegeben hätte.

Ein erotisch-sexuelles Verhältnis zwischen Maria Magdalena und Jesus wird von den christlichen Amtskirchen strikt geleugnet. Die meisten Christen, die überwiegende Mehrheit der Theologen sind ebenfalls der Meinung, dass der Gottessohn über allen “fleischlichen Kontakten” zu einer Frau stand.

Von den großen Theologen preschte noch Martin Luther am weitesten vor, der Maria Magdalena bescheinigte: “Sie kann nicht anders denken, träumen, reden denn also: hätte ich nur den Mann, meinen allerliebsten Gast und Herrn, so wär mein Herz zufrieden.” Sie habe ihn “herzlich brünstig lieb gehabt”, hatte “ein hitzig brünstig Herz zu Ihm”, sie habe “Gut und Ehre, Leib und Leben und alles, was sie hat, an ihn gesetzt”. Aber auch Luther scheut sich, Jesus als den zu sehen, der ihre Gefühle erwidert hat. Von Jesu Seite seien es nur “familiaritas”, “Brüderschaft”, “tägliche Gemeinschaft” und “Vertraulichkeit” gewesen.

Auch feministische Theologinnen bleiben meist auf der Hälfte des Weges stehen. Jesus habe Maria Magdalena zwar “angefasst, vielleicht umgefasst”, sie habe “Nähe, Berührung handgreiflich gespürt”, habe “das Heil” und “sich wohl” in einem gefühlt, habe sich ganz “hingegeben”, sich “ganz ausgeliefert”, aber das “menschliche Grundbedürfnis nach Erotik” werde durch die diesbezüglichen Ausführungen des Neuen Testaments “nicht befriedigt”, was wohl heißen soll, dass Jesus die Liebesakte der Maria Magdalena nicht in gleicher Weise beantwortet hat.

Selbst der wohl kritischste protestantische Bibelforscher des 19. Jahrhunderts, David Friedrich Strauss, bezeichnete diese außergewöhnliche Frau als “halbrasendes Weib” mit Liebesvisionen. Allenfalls als geistliche Braut Christi, verlobt, aber nicht verheiratet mit Jesus, in einer versprochenen, aber noch nicht vollzogenen Ehe mit ihm lebend, sieht man sie heute in nicht ganz so verklemmten christlichen Kreisen - wie schon früher bei manchen Vertretern christlich-esoterischer Mystik.

Andererseits gibt es eine Reihe von Büchern, die weit über das hinausgehen, was wir in den Texten wissenschaftlich und psychologisch verantwortbar als erotische Beziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena deuten können. Unüberboten in dieser Hinsicht ist bisher Barbara Thiering mit ihrem Buch “Jesus von Qumran”. Sie weiß genau, dass Jesus mit dieser Frau verheiratet war, gibt sogar das Verlobungs- und Heiratsdatum präzise an und hat auch Kenntnis davon, dass Maria Magdalena, nachdem sie Jesus eine Tochter und zwei Söhne geboren hatte, auf und davon ging, so dass Jesus frei war, sechs Jahre später eine Geschäftsfrau namens Lydia erneut zu ehelichen.

Umgekehrt wirken “seriöse” Jesus-Bücher der Gegenwart, die Jesus um jeden Preis aus einer erotischen Verbindung mit Maria Magdalena heraushalten möchten, am Ende lächerlich. So wenn etwa A. N. Wilson in seinem Buch “Der geteilte Jesus” (München 1993) behauptet, der Fremde am Grabe Jesu, den Maria Magdalena zunächst für den Gärtner hielt und dann als ihren geliebten Meister erkannte, sei lediglich Jesu Bruder gewesen, “der ihm sehr ähnlich war”. Als ob eine wirklich Liebende nicht sofort die kleinsten Unterschiede zwischen ihrem Geliebten und einem ihm nur ähnlich Sehenden bemerken würde!

Demgegenüber sei nochmals konstatiert: Alles, was wir den Evangelien entnehmen können, deutet in die eine Richtung, lässt nur den einen Schluss zu, dass Maria Magdalena die wahre Geliebte des Meisters, seine große Liebe, seine Hauptfrau war. Seine einzige Frau allerdings war sie wohl nicht. Das fällt heutigen Christen nur deshalb so schwer zu glauben, weil sie immer noch in den Fesseln einer schon fast zweitausend Jahre lang wirkenden sexualfeindlichen, sexualrepressiven Indoktrination stecken.

Bereits in der phantasievollen Vision Jesu, wie sie im Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen zum Ausdruck kommt, sieht sich der Meister gern von einer ganzen Schar ihn liebender Frauen umgeben und verwöhnt. In effektvoller Weise ist dieses “Gleichnis” in einem geradezu weltgeschichtlichen Ausmaß dadurch Wirklichkeit geworden, dass jede der Millionen katholischer Nonnen in Vergangenheit und Gegenwart von der Amtskirche ganz offiziell zur “Braut Christi” geweiht wird. Bei dieser Weihe (Konsekration) geht es tatsächlich wie bei einer Eheschließung zu. Der Bischof weiht für die Nonnen Brautschleier, Ring und Kranz und verhüllt sie mit dem Schleier, um ihre totale und exklusive Hingabe an Christus zu symbolisieren. Während dieser Zeremonie singt der Chor: “Mein Gott Jesus Christus hat mich als seine Braut mit dem Kranz geschmückt”, und der Bischof betet für die Nonne, die “sich der Brautkammer dessen weiht, der so ewiger Jungfräulichkeit Bräutigam ist wie auch ewiger Jungfrauschaft Sohn”.

Es ist wohl eine der groteskesten Ironien der Religionsgeschichte, dass die Kirche, die ihrem Stifter Jesus jede Erotik und Sexualität, jedes Liebesleben starrköpfig abspricht, ihm zugleich den größten Harem von Bräuten beschert, den die Menschheitsgeschichte kennt; dass diese Kirche die Polygamie rigoros verbietet, alle Liebe zwischen Frau und Mann absolut einseitig und ausschließlich auf die Einehe hin konzentriert und kanalisiert, während sie ihrem Meister eine Vielehe allergrößten Ausmaßes zumutet und den Abertausenden von Ordensschwestern befiehlt, einen Mann zu lieben, der schon durch derart viele Ehebande vergeben ist.

Beabsichtigt oder nicht, die Kirche öffnet damit auch alle Schleusen für die erotisch-sexuellen Phantasien, die sie sonst entschieden bekämpft. Denn natürlich imaginieren dann Nonnen, wie ihr kirchlich zugestandener Bräutigam quasi leibhaftig zu ihnen in ihre einsame Zelle kommt: sie berühren, umarmen, küssen und liebkosen ihn; ja manche koitieren sogar mit dem Seelenbräutigam, zeigen mitunter Symptome einer Schwangerschaft, pressen in selbstvergessener, rauschhafter Ekstase ihre Lippen an seine Wundmale und trinken vampirisch sein Blut. Viele Biographien und zahlreiche Autobiographien können das mit intimsten, aber auch massivsten Details belegen.

Nun, dieser gewaltige Jesus-Harem aus Bräuten Christi wurde erst in der „Zeit der Kirche“ Realität. Jesus selbst musste sich in der kurzen Zeit seines Erdendaseins mit einer kleineren Schar von Frauen begnügen, wenngleich es für den Evangelisten immerhin schon “viele Frauen” (Lk. 8,3) waren. Doch Lukas hatte selbstverständlich noch keinerlei Ahnung von dem, was eine hierarchisch-totalitär organisierte Kirche so alles auf die Beine stellen kann.

Auch Papst Franziskus wird an dieser amtskirchlichen Bräute-Organisation von unzähligen “Nonnen für Christus” in seiner Amtszeit mit Sicherheit nichts ändern.

 

P.S.: Als umfassendere Lektüre zum hier Gesagten vgl. H. Mynarek, Jesus und die Frauen, Essen, 3. Auflage (Verlag Die Blaue Eule)