(hpd) Emma Goldman (1869–1940), die bedeutendste Aktivistin und Theoretikerin des Anarchismus, legte 1910 eine Sammlung mit programmatischen Texten zum ideologischen Selbstverständnis unter dem Titel “Anarchismus & andere Essays” vor. Im Unrast-Verlag, Münster erschien jetzt eine erste vollständige deutsche Übersetzung nebst anderen Texten der Autorin, welche einen guten Einblick in das politische Denken der Anarchisten geben.
Emma Goldman (1869–1940) dürfte die bedeutendste Aktivistin und Theoretikerin des Anarchismus gewesen sein. Aufgrund ihrer Kontakte zu gewaltgeneigten Akteuren dieses politischen Lagers soll der spätere FBI-Chef J. Edgar Hoover sie als “eine der gefährlichsten Anarchisten in Amerika” bezeichnet haben. Goldmans öffentliches Wirken bestand seinerzeit insbesondere in Reden, womit sie vor allem Arbeiter für ihr Modell einer Gesellschaft ohne Staat gewinnen wollte. Mit “Anarchism and Other Essays” legte sie 1910 aber auch eine theoretische Grundlagenschrift vor. Dabei handelte es sich um eine Sammlung einzelner Texte, welche in Kombination mit einander eine Art “anarchistische Theorie” ergeben. Unter dem Titel “Anarchismus & andere Essays” liegt erstmals eine vollständige deutsche Übersetzung vor. Ergänzt wurde sie um den kurzen Text “Was ich denke” von 1908 und “War mein Leben lebenswert?” von 1934, worin sich sowohl autobiographisch-politische Betrachtungen wie grundlegende Positionen des Anarchismus-Verständnisses finden.
Bereits im Vorwort nahm Goldman zu zwei frühen Einwänden gegen ihre Auffassung inhaltlich Stellung: Sie hatte sich wie viele Anarchisten immer geweigert, die angestrebte Gesellschaft ohne Staat näher zu skizzieren. Dies lehnte sie erneut mit folgender Begründung ab: “Weil ich glaube, dass Anarchismus nicht vereinbar ist mit dem Aufzwingen eines in Eisen gegossenen Programms oder einer Zukunftsmethode” (S. 34). Mit einer solchen Antwort konnten und können sich Anhänger utopischer Entwürfe aber auch immer einfach bestimmten Legitimationsproblemen ihrer Gesellschaftsmodelle entziehen. So bleibt häufig die Frage unbeantwortet, was denn mit Personen mit einem abweichenden Sozialverhalten geschehen solle. Würden diese ausgeschlossen oder verurteilt, würden automatisch erneut Strukturen im Sinne eines Staates entstehen. Ansonsten lässt es sich denn auch einfach definieren: “Anarchismus ist die Philosophie einer neuen Gesellschaft, die auf Freiheit basiert, welche nicht durch von Menschen gemachte Gesetze eingeschränkt ist …” (S. 40).
Der zweite Beitrag “Plädoyer für die Minderheiten” tritt nicht für die Grundrechte von Minoritäten ein. Vielmehr betonte Goldman darin, dass eine von ihr angestrebte Entwicklung eben nicht von einer Mehrheit, sondern von einer Minderheit getragen würde. Es heißt dort: “ … die lebendige, unabdingbare Wahrheit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wohlergehens kann nur durch Eifer, Mut und die unnachgiebige Entschlossenheit der intelligenten Minderheiten Wirklichkeit werden, nicht durch die Masse” (S. 63). Hier schimmert kaum verkennbar auch bei der Anarchistin ein Avantgardeverständnis durch, gilt ihr doch die Masse als ungebildet und unreif. Und auch der dritte Text des ursprünglichen “Anarchismus”-Bandes verdient genaue Aufmerksamkeit. In “Die Psychologie politischer Gewalt” erfolgt eine einschlägige Legitimation: “Denn kein neuer Glaube … hat bei seinem ersten Erscheinen auf der Welt Frieden gebracht …” (S. 68).
Alle Reformen und Verbesserungen im bestehenden Staat gelten demgegenüber als gering, was in den Ausführungen zum Frauenwahlrecht zum Ausdruck kam: “Das Wahlrecht, oder gleiche BürgerInnenrechte, mögen gute Forderungen sein, aber die wahre Emanzipation beginnt weder an den Wahlurnen noch in den Gerichten. Sie beginnt in der Seele der Frau” (S. 189). Und genau dieses wahre Wesen der Frau, beanspruchte Goldman erkennt zu haben. Die genaue Lektüre des Textes macht demnach einen ausgeprägten Dogmatismus in Kombination mit dem Anspruch auf ein Erkenntnismonopol deutlich. Indessen darf in diesem Kontext nicht ignoriert werden, dass Goldman zu den wenigen linken Intellektuellen gehörte, welche die diktatorische Dimension der Bolschewisten in Russland nach 1917 kritisierte. Hierfür standen ihre beiden Schriften “My Disillusionment in Russia” von 1923 und “My Further Disillusonment in Russia” von 1924, deren Inhalte aber in dieser deutschsprachigen Edition einiger ihrer bedeutendsten Werke nicht enthalten sind.
Emma Goldman, Anarchismus & andere Essays, Münster 2013 (Unrast-Verlag), 256 S., 14,80 Euro