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Der Tod einer Boxerin

Was ist von diesem Argument zu halten? Erstens sollten wir uns klar machen, dass der Einwand eines drohenden Dammbruchs kein Argument gegen die aktive Sterbehilfe als solche darstellt. Er ist lediglich ein Argument gegen die vermeintlichen sozialen Konsequenzen der aktiven Sterbehilfe. Zweitens ist der Verweis auf die sozialen Folgen eine offene Frage. Es genügt nicht, dramatische soziale Veränderungen zu behaupten, man muss sie auch begründen. Mit anderen Worten: Eine Dammbruch-Behauptung ist noch kein Dammbruch-Argument. Und drittens müssen wir uns daran erinnern, dass es uns sehr wohl möglich ist, eine gesetzliche Grenze zu ziehen. So können wir beispielsweise die aktive freiwillige Sterbehilfe zulassen, die aktive unfreiwillige Sterbehilfe aber verbieten. Tatsächlich tun wir dies ja auch in zahllosen Fällen. Denken wir nur an die Organtransplantation. Auch dort hätte man befürchten können, dass das Gesetz es zunächst nur erlaube, hirntoten Patienten Organe zu entnehmen, bald aber schon auch nicht mehr therapierbare Patienten ihrer Organe beraubt werden mögen.

Ein ähnlicher Einwand besagt, dass die Missbrauchsgefahren einer Legalisierung der aktiven Sterbehilfe einfach zu groß seien. Tatsächlich lässt es sich nicht ausschließen, dass eine einmal etablierte Praxis der aktiven Sterbehilfe zu Fällen von Missbrauch führen werde. Dennoch sollten wir dieses Argument nicht unkritisch betrachten. Denn es wäre ein Fehler, allein auf die Missbrauchsgefahren der aktiven Sterbehilfe hinzuweisen, die Missbrauchsgefahren der passiven Sterbehilfe aber zu übersehen. Immerhin sind die Missbrauchsgefahren der passiven Sterbehilfe mindestens genauso groß wie die der aktiven Sterbehilfe. So wie Patienten subtil zu einer Einwilligung in die aktive Sterbehilfe gedrängt werden können, können sie selbstverständlich auch subtil zu einer Einwilligung in die passive Sterbehilfe gedrängt werden. So könnte ein Arzt seinem Patienten beispielsweise jede Hoffnung auf Genesung nehmen und ihn zum Abschalten seines Beatmungsgeräts bewegen.

Anders als die Missbrauchsgefahren der aktiven Sterbehilfe lassen sich die Missbrauchsgefahren der passiven Sterbehilfe sogar empirisch belegen. So haben verschiedene Studien gezeigt, dass Ärzte dazu neigen, lebenserhaltende medizinische Maßnahmen ohne vorherige Befragung der betroffenen Patienten einzustellen. In den USA, so hat sich beispielsweise gezeigt, sprechen gut 15 Prozent der Ärzte ihre Entscheidung, lebenserhaltende medizinische Maßnahmen abzubrechen, lediglich mit den Familienangehörigen, nicht aber mit den betroffenen Patienten ab, und zwar selbst dann, wenn die Patienten bei vollem Bewusstsein und in jeder Hinsicht urteilsfähig sind. In Australien beläuft sich die Zahl der Fälle, in denen Ärzte eine lebenserhaltende Behandlung ohne vorherige Einwilligung des Patienten einstellen, auf 20 Prozent. In Neuseeland liegt sie bei 48 Prozent. Und in Italien und Schweden werden sogar mehr als 50 Prozent aller ärztlichen Entscheidungen am Lebensende schlichtweg über den Kopf der Patienten hinweg getroffen.

Maggie und Frank

Bedauerlicherweise gibt es bislang noch keine vergleichbaren Untersuchungen aus Deutschland. Aus einer Umfrage, die unter den Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin durchgeführt worden ist, lässt sich jedoch erahnen, dass die Zahl von Todesfällen, die auf den Abbruch lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen ohne vorherige Einwilligung der betroffenen Patienten zurück geht, ähnlich hoch sein dürfte wie in Italien und Schweden. Obgleich 90,4 Prozent der deutschen Palliativmediziner es für moralisch unzulässig hielten, einem sterbenden Patienten auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin aktive Sterbehilfe zu leisten, betrachteten es 63,3 Prozent doch für moralisch zulässig, lebenserhaltende medizinische Maßnahmen ohne dessen ausdrücklichen Wunsch abzubrechen!

In meinen Augen sollten sterbende Patienten so viele Optionen wie nur möglich haben. Sie sollten sich palliativmedizinisch behandeln lassen können. Sie sollten sich in einem Hospiz betreuen lassen können. Sie sollten sich den Abbruch lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen erbitten können. Sie sollten sich sedieren lassen können. Sie sollten sich ein Medikament zur Selbsttötung aushändigen lassen können. Und sie sollten sich eine Dosis eines todbringenden Medikaments injizieren lassen können.

Aus juristischen Gründen sollte man den ärztlich-assistierten Suizid aber stets der direkten aktiven Sterbehilfe vorziehen. Wenn irgend möglich, sollte die Tatherrschaft immer beim Sterbewilligen liegen. Nur so kann nahezu jedweder Missbrauch verhindert werden. Eine aktive Sterbehilfe sollte also nur zugelassen werden, wenn der Sterbewillige nachweislich unfähig ist, vom assistierten Suizid Gebrauch machen zu können – in aller Regel also nur in den wenigen Fällen, in denen der Patient nicht einmal mehr selbstständig schlucken kann.

 

Trailer (deutsch):


Million Dollar Baby (USA, 2004). Regie: Clint Eastwood; Darsteller (u.a.): Clint Eastwood, Hilary Swank, Morgan Freeman; 127 Minuten. Der Film wurde mit vier Oscars ausgezeichnet, davon drei in den wichtigsten Kategorien Bester Film, Beste Regie und Beste Hauptdarstellerin.