Kritik an Missachtung höchstrichterlicher Urteile

KARLSRUHE. Grundrechte-Report 2007 erschienen.

Staatliche Überwachung, Übergriffe und Ungleichbehandlung

sorgen weiter für eine deutliche Kluft zwischen den Ansprüchen des Grundgesetzes und der Realität der Achtung der Grundrechte in Deutschland. Das ist das Fazit des Grundrechte-Reports 2007, den Bundesverfassungsrichter a. D. Prof. Dr. Jürgen Kühling sowie die Herausgeber am Vormittag vor der Justizpressekonferenz in Karlsruhe - dem Sitz des Bundesverfassungsgerichtes - vorstellten.

„Das Ergebnis ist ein alternativer Verfassungsschutzbericht. Von dem offiziellen unterscheidet er sich vor allem durch die Blickrichtung. Bedroht ist unsere Verfassung eben nicht allein durch Anarchisten, Kommunisten, Neonazis, Islamisten und Fundamentalisten verschiedener Couleur, sondern auch durch die Mächtigen im Lande, durch Behörden, Regierungen und sogar durch die Gesetzgeber in Bund und Ländern. Der Report nimmt diese Gefährdung ins Visier. Er warnt vor der stillen Erosion von Grundrechten durch fortschreitende Eingriffsbefugnisse der Polizei, durch unzureichenden Rechtsschutz vor Behördenwillkür, durch mangelnde Verteilungsgerechtigkeit im Sozialrecht."

Beunruhigende Befunde

Kühling nannte den Befund "insgesamt beunruhigend". Als Beispiel nannte er den staatlichen Umgang mit Ausländern und hier insbesondere illegalen Migranten. Er betonte, auch diese hätten Anspruch auf Wahrung ihrer Menschenwürde und staatlichen Schutz ihrer Grund- und Menschenrechte. Als weiteren kritischen Punkt hob Kühling die Arbeit der Polizei in Deutschland hervor. Er nannte zahlreiche Beispiele flagranter Rechtsverletzungen, etwa eine Reihe vom Bundesverfassungsgericht als rechtswidrig verworfener Durchsuchungsaktionen. In diesem Zusammenhang regte er eine Sanktionierung durch angemessene und fühlbare Schadensersatzansprüche an.

Doch es gebe, so der ehemalige Verfassungsrichter weiter, auch gute Nachrichten. Er verwies auf positive Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die einem nachlässigen Umgang der Behörden und Gerichte mit den Grundrechten in zahlreichen Entscheidungen entgegengetreten seien.

Zunehmende Missachtung höchstrichterlicher Rechtssprechung

Die neun herausgebenden Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen zeigen sich insbesondere besorgt über zunehmende Missachtung höchstrichterlicher Rechtsprechung durch die gesetzgebende und vollziehende Gewalt - in diesem Jahr ein Schwerpunktthema des Reports. So zeigt eine Analyse der novellierten Polizeigesetze der Länder, dass diese insbesondere den zum Schutz der Menschenwürde formulierten, strengen Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an die Telekommunikationsüberwachung nicht gerecht werden. Eine Entwicklung, die sich auch in der aktuellen Diskussion um "Online-Durchsuchungen" spiegelt. Weitere Beispiele bilden Fälle aus dem Strafvollzug, in denen Gefangenen gerichtlich zugesprochene Hafterleichterungen durch die jeweilige Anstaltsleitung verweigert wurden.

Daneben thematisiert der diesjährige Report erneut die im Namen des so genannten "Krieges gegen den Terror" geschürte Sicherheitshysterie, in deren Sog mittlerweile auch friedliche Globalisierungskritiker geraten.

Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Peter Grottian schilderte anlässlich der Präsentation als persönlich Betroffener, wie ihn der Verfassungsschutz wegen seines Engagements im Berliner Sozialforum ausspähte. Dabei wies er auf die Parallelen zum jüngst erfolgten polizeilichen Großeinsatz gegen Gegner des G8-Gipfels hin. "Hier wird aufgrund fadenscheiniger Vermutungen eine Kontaktschuld konstruiert, die dann zur Basis unverhältnismäßiger staatlicher Überwachung herangezogen wird", kritisierte Grottian.
Der Grundrechte-Report 2007 greift daneben auch Einzelfälle schwerwiegender Grundrechtsverletzungen auf, etwa den des Heidelberger Lehrers Michael Csaszkóczy, über den wegen seines antifaschistischen Engagements ein zunächst gerichtlich bestätigtes Berufsverbot (mittlerweile aufgehoben) verhängt wurde, sowie die jahrelange Ausspähung eines Journalisten durch den Bundesnachrichtendienst.

Es gibt aber auch positive Beispiele

Doch die Autorinnen und Autoren des Grundrechte-Reports legen nicht nur den Finger in die Wunden Grundrechte gefährdender Irrwege, sie zeigen auch positive Beispiele der Verteidigung bürgerlicher Freiheiten auf. So fasst etwa Bundestagsvizepräsident a. D. Burkhard Hirsch in einem ausführlichen Beitrag die Diskussion um das Luftsicherheitsgesetz und das richtungweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts dazu zusammen.

Grundrechte-Report im elften Jahr

Der Grundrechte-Report erscheint seit 1997 jährlich zum Tag des Grundgesetzes (23.5.) und kritisiert Beeinträchtigungen von Grund- und Menschenrechten durch staatliche Gewalt. Herausgebende Organisationen sind die Humanistische Union, die Gustav Heinemann-Initiative, das Komitee für Grundrechte und Demokratie, der Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen, die Bundesarbeitsgemeinschaft PRO ASYL, der Republikanische Anwältinnen- und Anwälte-Verein, die Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen, die Neue RichterInnenvereinigung und die Internationale Liga für Menschenrechte.

Sven Lüders