(hpd) Zum achten Mal legt eine Wissenschaftlergruppe um Wilhelm Heitmeyer in „Deutsche Zustände“ Ergebnisse ihrer empirischen Analysen zur Verbreitung „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ in Deutschland vor. Diesmal geht es insbesondere um die Folgewirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise, welche bislang noch nicht zu einem breiteren Anstieg von Ressentiments gegen Minderheiten führte. Gleichwohl sind die mobilisierbaren Potentiale dafür latent vorhanden.
Seit acht Jahren erforscht eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern um Wilhelm Heitmeyer am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld die Verbreitung von Erscheinungsformen „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ in Deutschland. Darunter verstehen sie ein Syndrom von folgenden Einstellungen: Abwertung von Behinderten, Abwertung von Landzeitarbeitslosen, Abwertung von Obdachlosen, Antisemitismus, Etabliertenvorrechte, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie, Islamphobie, Rassismus und Sexismus. Ihr aktueller Bericht zu dem Jahr 2009 erschien in bekannter Form unter dem Titel „Deutsche Zustände. Folge 8“. Darin widmete man sich angesichts der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise insbesondere den Auswirkungen der damit verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungen. Im Zentrum stand auch hier wieder das Ausmaß von Ressentiments gegen Minderheiten und deren Zusammenhang mit Ängsten, Benachteiligungsgefühlen, Unmut und Wut.
Die insgesamt 19 Beiträge gliedern sich in vier große Rubriken, die über formale und inhaltliche Gesichtspunkte unterscheidbar sind: Zunächst geht es um empirische Analysen, die auf Basis eines regelmäßig erhobenen Datensatzes durchgeführt werden. Hierbei steht die individuelle Verarbeitung der Krisen, der Einfluss von Ängsten und Kontrollverlusten, die Auswirkungen auf Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit oder das Verhältnis von Antiamerikanismus und Antisemitismus im Zentrum. Dem folgen journalistisch ausgerichtete Fallgeschichten zur Aggressivität im Alltag, der Bedeutung von Werten in der Krise oder der Situation von Hartz-IV-Kindern. Danach geht es um den Rechtsextremismus in Anklam, den Zerfall eines Bündnisses gegen Rechtsextremisten in Colditz und die Unterwanderung der Feuerwehren in Ostdeutschland durch die NPD. Und schließlich findet man in dem Band ein ausführliches Interview mit dem bekannten Soziologen Claus Offe und Kommentare zu den gesellschaftlichen Folgen der Kapitaldelikte und dem völkischen Populismus in Europa.
Bezüglich der Entwicklung der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Deutschland zeichnen die Sozialwissenschaftler ein ambivalentes Bild: Einerseits lässt sich bislang noch kein erkennbares Ansteigen von Ressentiments und Vorurteilen gegen die Angehörigen von Minderheiten ausmachen. Für die Wirtschaftskrise werden Fremde und Juden bislang nur von denjenigen verantwortlich gemacht, welche selbst schon fremden- und judenfeindlich eingestellt waren. Andererseits liefert diese gegenwärtige Stimmungslage keine Gründe für eine allgemeine Beruhigung, bewegen sich Einstellungen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit doch weiterhin auf einem relativ hohen Niveau. Darüber hinaus verdient Beachtung, dass sich Krisen in Phasenprozessen vollziehen. Erst nach dem Beginn der Finanzkrise, der folgenden Wirtschaftskrise, der danach einsetzende Fiskalkrise kommt es zu einer Gesellschafts- und Staatskrise. Erst dann zeichnet sich möglicherweise auch eine Änderung der Einstellungen in Richtung einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit ab.
Dafür liefern die Aufsätze auf Basis des jährlich erhobenen empirischen Materials eine Reihe von beachtenswerten Belegen, lässt sich daraus doch ein latent bestehendes gesellschaftliches Konfliktpotential von enormer Bedeutung ablesen. Genau darin besteht auch der hohe Erkenntniswert der regelmäßigen „Deutsche Zustände“-Berichte. So kritikwürdig manche benutzten Items zur Messung bestimmter Einstellungen sein mögen, so erlaubt doch die kontinuierliche Erhebung einschlägiger Daten die Erfassung und Untersuchung von Entwicklungen und Veränderungen in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Dabei verdienen vor allem jene Beiträge Interesse, welche den Wirkungszusammenhang bei der Entstehung oder Verstärkung von Vorurteilen untersuchen. Ganz offen geben manche Autoren auch zu, dass sie bislang nur eingeschränkt zu bestimmten Problemen Stellung nehmen können. Aber auch die journalistischen Fallstudien liefern Einblicke in bedenkliche Entwicklungen und Zustände in der deutschen Gesellschaft.
Armin Pfahl-Traughber
Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 8, Frankfurt/M. 2010 (Suhrkamp-Verlag), 316 S., 15,00 €