NÜRNBERG (hpd) Wie weit reichen die Geltungsansprüche evolutionärer Betrachtungen? Bleibt die Leistungsfähigkeit der Evolutionstheorie auf im engeren Sinne biologische Entwicklungen beschränkt oder hält sie auch Erklärungsansätze für kulturellen Wandel bereit? Ist „Evolution“ eine Tatsache oder eine Metapher?
Mit solchen und ähnlichen Fragen befasst sich der neue Sammelband der Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Bayern. Dreizehn Autoren geben in ihren Aufsätzen Antworten auf die Frage nach der „Fruchtbarkeit der Evolution“. Die Fragen des hpd beantwortete Herausgeber Helmut Fink.
hpd: Was genau ist mit der im Titel des Buches angeführten „Fruchtbarkeit“ der Evolution gemeint?
Helmut Fink: Die „Fruchtbarkeit der Evolution“ im Titel ist doppeldeutig: Einerseits handelt die biologische Evolution von fruchtbaren, d.h. fortpflanzungsfähigen Lebewesen. Sie beruht ja auf den Prinzipien Reproduktion, Variation und Selektion. Zum anderen ist aber die Fruchtbarkeit evolutionärer Konzepte zur Erklärung natürlicher Entstehungs- und Entwicklungsprozesse gemeint – also eigentlich die Fruchtbarkeit der Evolutionstheorie.
hpd: Wie weit reicht der Geltungsanspruch evolutionärer Theorien? Was kann noch als wissenschaftlich gesichert gelten, wo beginnt es metaphorisch zu werden?
Helmut Fink: Gute Frage. Es gibt Versuche, evolutionäre Mechanismen in Bereichen dingfest zu machen, die weit über die biologische Artentstehung hinausreichen. Nicht nur unter künstlich erzeugten Laborbedingungen oder in Computer-Simulationen findet man „Evolution“, sondern auch im Bereich der Kulturentwicklung und dort sogar im Bereich der geistigen Inhalte, der Entstehung neuer Ideen, ihrer Abwandlung und Ausbreitung. Im Grunde ist die Evolutionstheorie eine abstrakte Rahmentheorie, bei deren Anwendung auf konkrete Gegenstandsbereiche man jeweils angeben muss, wie die Prinzipien Reproduktion, Variation und Selektion in diesem Bereich realisiert sind. Solange man das nicht klar sagen kann, ist der evolutionäre Zugang dort nur heuristisch und das evolutionäre Vokabular wird nur metaphorisch verwendet.
hpd: Ist die Grenze zwischen „metaphorisch“ und „gesichert“ stabil oder verschiebt sie sich im Lauf der Zeit?
Helmut Fink: Wissenschaft ist immer ergebnisoffen. Aber sie stellt auch strenge Bedingungen an die Klarheit der Begriffe und die Wahl der Methoden. Daher kann man nie ausschließen, dass evolutionäre Mechanismen auch dort entdeckt werden, wo man sie nicht vermutet hätte – oder wo man sie zwar vermutet hat, aber bisher nicht aufzeigen konnte. Trotzdem gibt es viele Veränderungsprozesse, die das Prädikat „evolutionär“ überhaupt nicht verdienen, weil z.B. Reproduktion keine Rolle dabei spielt. Der Beitrag von Gerhard Vollmer enthält Beispiele dafür – und ein Plädoyer gegen einen inflationären Gebrauch des Evolutionsbegriffs, der dann so schwach wird, dass er nichts mehr aussagt.
hpd: Worauf läuft das „Forschungsprogramm der Evolutionstheorie“, wie einer der Aufsätze betitelt ist, hinaus?
Helmut Fink: Der so betitelte Beitrag des Philosophen Rudolf Kötter ist eine gründliche wissenschaftstheoretische Einführung in die Struktur der Evolutionstheorie. Dabei zeigt sich, dass bei evolutionären Erklärungen keineswegs nur die Ursache-Wirkungs-Mechanismen bei kausalen Abläufen gesucht werden. Genauso wichtig sind Funktional-Erklärungen, die etwa bei einem Organ sagen, was das Organ eigentlich leisten soll. Nur so kann man kranke oder untaugliche Organe von gesunden und „zweckmäßigen“ unterscheiden. Das ist wie in der Technik: Erst durch Kenntnis der Funktion eines Geräts kann man sagen, wann es kaputt ist und wann es „funktioniert“.
Und dann sind auch noch ökonomische Erklärungen wichtig. Sie beschreiben, welches Gleichgewicht sich einstellt, wenn Individuen den Knappheiten ihrer Umwelt ausgesetzt sind. Das alles muss bei evolutionären Erklärungen sinnvoll aufeinander bezogen werden. Die kausale Betrachtungsweise alleine reicht da nicht aus. Insofern kann vielleicht der eine oder andere „harte Naturalist“ hier noch etwas Methodisches dazulernen.
hpd: Was lässt sich auf den Vorwurf entgegnen, die Anwendung der Erklärungsmuster der Evolutionstheorie berge die Gefahr biologistischer Verkürzungen?
Helmut Fink: Dass solche Verkürzungen ein Missbrauch evolutionären Denkens sind. Sie folgen ja nicht aus der Theorie selbst, sondern beruhen auf Fehlvorstellungen und Fehlschlüssen. Darüber kann man aufklären. Beispielsweise ist der berüchtigte „Kampf ums Dasein“ in Wahrheit ein Wettbewerb um diverse Ressourcen, der auf ganz unterschiedliche Weisen ausgetragen wird, meistens friedlich. Wenn man die Evolution in ihrer ganzen Vielfalt und ihrem ganzen Reichtum betrachtet, verbieten sich ideologische Einseitigkeiten. Michael Schmidt-Salomon grenzt sich in seinem Beitrag über die weltanschaulichen Folgen der Evolutionstheorie noch einmal deutlich von dieser Art des Missbrauchs ab. Und auch der Biologiedidaktiker Dittmar Graf („Darwin macht Schule“) findet hier deutliche Worte.
hpd: Was genau sagt Darwin denn in Bezug auf den Menschen?
Helmut Fink: In seinem Hauptwerk „Über die Entstehung der Arten“ von 1859 sagt er gegen Ende den berühmten Satz „Licht wird auch fallen auf den Menschen und seine Geschichte“ und er gibt der Hoffnung Ausdruck, dass man auch die geistigen Fähigkeiten des Menschen wird erklären können. Diese Hoffnung ist seither von der evolutionären Erkenntnistheorie weitgehend eingelöst worden. Darauf geht der Wissenschaftsautor Ernst Peter Fischer ein. Darwin selbst hat dann in seinem späteren Werk „Die Abstammung des Menschen“ von 1871 das moralische Gefühl des Menschen aus sozialen Instinkten heraus erklärt. Er hat dabei eine moralische Höherentwicklung angenommen, die durch Ausweitung der sozialen Gefühle auf immer größere Menschengruppen erreicht werden kann. Franz Wuketits erläutert diese Sicht Darwins in seinem Beitrag.
hpd: Zwei Aufsätze befassen sich mit der Frage, welche Erklärungen die Evolutionstheorie für die Entstehung des Phänomens Religion bietet. Wie lässt sich der Forschungsstand hier kurz zusammenfassen?
Helmut Fink: In dem kurzen Text von Sabine Paul wird der evolutionäre Vorteil von Religion in der Gemeinschaftsbildung gesehen. Ähnlich wie bei der Kunst erschließt sich ja auch bei Religion nicht sofort, wozu man als Frühmensch den damit verbundenen Aufwand treiben soll. Um den evolutionären Blick auf die Religion dreht sich auch der umfangreiche Beitrag von Rüdiger Vaas, in dem eine Fülle von Forschungsergebnissen geschildert wird. Das ist schwer zusammenzufassen. Hier spielen genetische, neuronale, psychische und soziologische Aspekte eine Rolle. Aber am Ende versteht man schon, dass die Forscher sich nicht einig sind, ob Religiosität als Fähigkeit eine eigenständige evolutionäre Anpassung darstellt oder ob sie sich erst durch die Kombination einzelner, jeweils für sich nützlicher Merkmale ergab.