(hpd) Am Beginn der Sexualwissenschaft stehen in der Mitte des 19. Jahrhunderts der katholische Norditaliener Paolo Mantegazza,
der die Frauen liebte, ein Weltbürger und Politiker, der neben vielen anderen Büchern eine „Physiologie der Liebe“ schrieb; sein Zeitgenosse, der protestantische norddeutsche Jurist Karl Heinrich Ulrichs, der Männer liebte und heute als Pionier der Geschlechterforschung gilt; der Berliner Arzt Magnus Hirschfeld, der 1919 das erste, 1933 von Nazis total zerstörte „Institut für Sexualwissenschaft“ gründete, für sexuelle Toleranz wirkte und Zeit seines Lebens „sexuelle Zwischenstufen“ erforschte; die Frauenrechtlerin Helene Stöcker, die für freie Liebe warb, Pazifistin war und wie Hirschfeld 1933 außer Landes getrieben wurde; Siegmund Freud, der die Triebtheorie entwickelte …
Sie alle werden als Menschen und Theoretiker im vorliegenden umfänglichen Werk vorgestellt. Wenn dieses Buch etwas verdeutlicht, dann den Verlust, den der Nationalsozialismus Deutschland zugefügt hat, denn hier war das Mekka der Sexualwissenschaft. Die meisten Forscher waren Juden, wenn auch oft (was ihnen nach 1933 nichts nützte, wie bei Albert Moll) durchaus national gesinnt und christlich (evangelisch) getauft. Wichtige Sexualwissenschaftler waren außerdem bekennend homosexuell. Und der Hauptakteur Hirschfeld „war für die Nazis so etwas wie der konkrete Gesamt-Entartete: rassisch, sexuell, sittlich und politisch.“ (S.232)
Arme Sexualwissenschaft
Siguschs 1973 von ihm (auf Grund eines Irrtums beim Habilitationstitel durch die Fakultät, wie er meint, vgl. S.119) gegründete Institut ist seit Oktober 2006 geschlossen per Emeritierung des Chefs – eine negative Kulturtat der Universität Frankfurt a.M. Die „Süddeutsche“ titelte am 26. September 2006 und trifft den Kern: „Ohne Perversion wäre die Liebe Ödnis. Offen übers Schwulsein oder Oralsex zu sprechen? Heute kein Problem mehr – dank Volkmar Sigusch. Er und seine Frankfurter Forscher haben die Gesellschaft zu einem anderen Umgang mit ihrer Sexualität geführt.“
Der Autor hat mehr als dreißig Bücher und 500 Abhandlungen geschrieben. Es wäre besser gewesen, das entsprechende Kapitel im Buch, das letztlich sein Werk würdigt, weil die Sexualwissenschaft nach 1970 beschrieben wird, jemand andres schreiben zu lassen. Doch wer? Die Antwort darauf macht das Dilemma deutlich, in dem sich die Sexualwissenschaft in Deutschland nach dem Abgang Siguschs befindet. Die Lage kann nicht drastisch genug beschrieben werden, denn wer tritt jetzt konservativen Deutungen des Sexuellen entgegen und hat die richtigen Befunde?
Und eine „Wiedervereinigung“ – zumindest dies macht das von Günter Grau über die DDR beigefügte Kapitel deutlich – hat auch nicht stattgefunden; wie auch, wenn dies doch einen vorurteilsfreien Vergleich zweier „Sexualwissenschaften“ in beiden deutschen Teilgesellschaften nach 1945 bis 1989 einschließen müsste, bei der die DDR-Forscher und die Sexualpolitik in der DDR, insgesamt gesehen, gar nicht so schlecht wegkämen.
Der Autor selbst umreißt am Schluss des Buches, was nun zu erforschen wäre (S.537) und bekennt (ebd.), dass seine Resultate mit Einsichten der Queer Theory weitgehend übereinstimmen. Da werden (das Programm ist bereits Anfang der 1990er vorgestellt worden) nicht nur in medizinischen Fakultäten Jubelschreie erklungen sein, auch in den meisten philosophischen und den theologischen sowieso.
Erzählweise
Sigusch macht zwar am Anfang deutlich, dass es ihm nicht um eine Geschichte der Sexualität oder der Mentalitäten, sondern der Sexualwissenschaft geht. Dennoch lassen sich Aussagen zur Sexualität in ihrer Zeit kaum vermeiden wie auch schon aus der ganzen Realgeschichte heraus dieses Buch zugleich eine Geschichte der Homosexuellenemanzipation ist, und eine Geschichte intellektueller Juden in Deutschland. Sigusch begründet auch, warum das so war und warum die Geschichte der Sexualwissenschaft in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts weitgehend eine deutsche Historie ist.
Selbstredend fordert das Buch heraus, nach einer Geschichte der sexuellen Aufklärung und ihrer Institutionen wie Pädagogiken zu fragen (vgl. S.81).
Die Hauptaussagen (vgl. pdf. Inhaltsverzeichnis) packt Sigusch in die Einleitung, um sie dann in den einzelnen Kapiteln und an einzelnen Forschern, den „Pionieren“, zu exemplifizieren: Montegazza, Ulrichs, Krafft-Ebing, Eulenburg, Moll, Blaschko, Freud, Hirschfeld, Stöcker, Bloch, Rohleder, M. Marcuse, Reich, Kinsey. Diese wiederum werden zunächst ebenfalls jeweils kompakt vorgestellt, um einige davon dann später einzeln näher zu analysieren mit ihren Werken und Beiträgen. Dazwischen dann Organisationen, Institute, Periodika, Fachgesellschaften usw.
Der Lesefluss wird leserfreundlich mit grau unterlegten bzw. (bei Langzitaten) kleiner gedruckten Originaltexten, Dokumenten, Tabellen usw. unterbrochen. Am Ende des Buches dann umfänglich die Lüftung der Pseudonyme, ein opulentes Literaturverzeichnis, ein Personen- und ein Sachregister.
Ich empfehle, mit der Lektüre der Chronologie der Ereignisse (S.543ff) zu beginnen. Es stellt sich der Überblick ein.
Nicht nebenbei: Siguschs Sprache ist ein Genuss.
Dadurch, dass Sigusch die Resultate der Forscher dann doch breit in deren Lebensläufe stellt, ist eine spannende Kulturgeschichte herausgekommen.
Liebe und Sexualität
Obwohl das Wort „Freidenker“ im Buch wohl nicht einmal vorkommt und der Autor aus seiner Distanz etwa zum Monistenbund keinen Hehl macht (obwohl bzw. gerade weil einige der Porträtierten hier sogar Mitglied waren), ist das gesamte Buch nicht nur sehr gute Aufklärungsliteratur, sondern insgesamt ein Beitrag zur Geschichte des Humanismus in Deutschland.
Gleich zu Beginn formuliert Sigusch eine These, die das ganze Werk illustriert: „Bekanntlich kommt das Hauptwort ’Sexualität’ weder in der Bibel noch bei Homer noch bei Shakespeare vor. Das ist für die kritische Sexualwissenschaft nicht nebensächlich, sondern die Sache selbst.“ (S.11)
Wenige Seiten weiter wird das Neue einer Sexualwissenschaft wie folgt bestimmt: Sexuelle Äußerungen werden „nicht mehr vorrangig als Sünden, Straftaten und Krankheiten angesehen und behandelt, sondern zunehmend als ein gesundes menschliches Vermögen sui generis [Hervorhebung von Sigusch] bezeichnet und propagiert, als ein einzigartiges Vermögen, das menschliche Nähe, Erregung, Ruhe, Lust, Sicherheit und Befriedigung spendet.“ (S.15)
Sigusch hat inzwischen an anderer Stelle geäußert, er hätte eigentlich eine Geschichte der Liebe schreiben sollen. Sein Buch „Neosexualitäten“ deutete dies an. Das hat er glücklicherweise nicht umgesetzt. Vielleicht wäre es ihm gegangen wie er bei Iwan Bloch beschreibt. „Denn jede Sexualforschung ist subjektiv.“ (S.511) Was erst bei Liebesforschung?
Sigusch hat sich glücklicherweise als Arzt als willkommener Gärtner ins kulturelle Feld begeben und als Empiriker das Feld der Liebe beschrieben. Das ist, wie sich gezeigt hat, immer noch fruchtbarer als sich heimisch fühlen zu wollen in den von wirklicher Soziologie abgehobenen Sphären des Meanstreams der nun gerade nicht ethnologisch-sozialempirisch arbeitenden Kulturwissenschaft (wie er selbst anhand seiner Replik auf Christina von Brauns These einer „jüdischen Wissenschaft“, S.373ff, ausführt; wie in seiner Einordnung Freuds ablesbar ist, S.261ff; und an seinem Faible für Foucault sichtbar wird, S.27ff, 524f u.a.).
Die Frage nach der Liebe ist die „Frage nach Lebenssinn und Lebensglück“ (S.17). Sie ist von der nach der Sexualität geschieden (wenn auch nicht davon lösbar). Die Frage nach der Liebe ist die nach subjektiven Wertungen und Empfindungen. Wie soll dies wissenschaftlich zu ergründen sein? Es genügt (mir) völlig, dass Sigusch immer wieder diese Frage gestellt hat und auch hier stellt und wohl richtig folgert (S.17): „An dieser Idee [der Liebe als Menschenrecht, HG] wird bis heute festgehalten, weil die Liebe in unserer Warenwelt eine einzigartige Kostbarkeit ist, die weder produziert noch gekauft werden kann.“
Wissenschaft vom Sexuellen
Da das Wissenschaftliche an der Analyse sexueller Verhaltensweisen und der Unterscheidung von (vgl. S.45) Körpergeschlecht, Geschlechtsrollenverhalten und Geschlechtsidentität ist, beschäftigt den Autor das gesamte Buch hindurch, ist doch gerade auf dem Gebiet des Sexuellen die kulturelle Vorprägung des Urteils über das, was da stattfindet, unterlassen oder gefördert soll, besonders ausgeprägt.
Hier können scheinbar und wollen alle mitreden und hier kommen die abwegigsten Vorurteile und persönlichsten Ressentiments oft sogar „wissenschaftlich“ begründet daher. Deshalb greift Sigusch das Thema Onanie (Masturbation: „Hand an sich legen“) immer wieder auf, weil sich hieran die Verquickung des Kulturellen mit dem (scheinbar) Wissenschaftlichen am Klarsten zeigt und wo der Autor, um es einmal so auszudrücken, richtig böse werden kann, gegen Immanuel Kant vor allen.
Ähnlich seine bissigen Passagen über „wissenschaftliche“ Aussagen über den weiblichen Orgasmus und die je kulturellen Gründe, diesen als nicht vorhanden darzustellen oder ihn „männlich“ zu interpretieren.
Sigusch hält daran fest, dass sich aus bestimmten Befunden gerade der Sexualwissenschaft, nicht gleiche kulturelle bzw. sozialpolitische Konzepte ableiten lassen und abgeleitet wurden. Immer wieder kommt er kritisch auf angeblich unbestreitbare Tatsachen zu sprechen, aus denen Kämpfe gegen abweichende Verhaltensformen begründet wurden, denen entsprechende soziale und therapeutische Praxen folgten, die das Unbehandelbare zu behandeln oder zu beseitigen versuchten.
Er resümiert, dass „zwischen Gesellschaft und Therapie ein Hiatus klafft, weil eine Gesellschaft keine Krankheit ist, logischerweise auch nicht behandelt werden kann.“ (S.45)
Vergangenheitsaufarbeitung
Siguschs Konzept einer kritischen Sexualwissenschaft impliziert, die eigenen Befunde selbst in Frage zu stellen. Dieses Herangehen wird besonders dort eindringlich praktiziert, wo er die Wegbereiter und Vorbilder (besonders Freud und Hirschfeld, aber auch Forel, Bloch und andere) ganz grundsätzlich dort verurteilt, wo diese selbst kulturellen Schimären aufsaßen und, obwohl sonst politisch in der Regel links verortet und jüdisch geprägt, konservative Thesen der „Rassehygiene“ teilten und sich auch von Ideen wie Worten der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ nicht eindeutig genug distanzierten, u.a. weil sie diese für wissenschaftliche Meinungen hielten.
Das gesamte Kapitel 17 (S.371ff; Andeutungen bereits S.350ff) ist deshalb ein Höhepunkt des Buches und sollte allen, die über Freidenkergeschichte schreiben, zur Pflichtlektüre gemacht werden, auch weil hier die von Linken wie Rechten (Verweis auf Ehrenfels/Freud, S.328ff) gemeinsam geteilte Kultur dieser Zeit sichtbar und sehr klar wird (S.381): „Seit Auschwitz muss jeder menschenfeindliche Ton als bare Münze genommen werden“, denn es habe sich gezeigt, dass viele der wissenschaftlich gemeinten „guten Ratschläge im Genickschuss der Nazis endeten“ (S.378): „Perverse“, „Schmutzige“, „Degenerierte“, „Entartete“, „defekte Untermenschen“, „Abschaum“, „saubere Keime“, „Gnadentod“, „Menschenzucht“, „unwertes Leben“, „Aufartung“, „Ausjätung“ …
Ich muss gestehen, obwohl dort geboren, habe ich noch nie etwas von der menschenverachtenden „Lex Zwickau“ der 1920er Jahre gehört. Die Erkenntnis, dass meine Geburtsstadt dem Namen nach mit einem Programm zur „Verhütung unwerten Lebens durch operative Maßnahmen“ verbunden ist, sollte nicht nur dort in Erinnerung gebracht werden.
Horst Groschopp
Volkmar Sigusch: Geschichte der Sexualwissenschaft. Mit 210 Abbildungen und einem Beitrag von Günter Grau. Frankfurt a.M. u. New York: Campus Verl. 2008, 720 S., ISBN 978-3-593-38575-4, 39.90 €