BERLIN. (hpd) Vor einigen Tagen stellten wir das Buch "Der eifersüchtige Gott" vor; ein Gespräch zwischen dem in Marokko geborenen Geisteswissenschaftler Rachid Boutayeb und dem deutschen Literaten Michael Roes. Heute können wir ein Interview mit Michael Roes veröffentlichen, in dem er über seine Gründe, dieses Gesprächsbuch zu veröffentlichen, spricht.
Herr Roes, Sie sind ein bekannter Ethnopoet, Sie haben, unter anderem, über Jemen, Algerien, China geschrieben. Letztens ist ein Buch von Ihnen erschienen, "Der eifersüchtige Gott", ein Gespräch zwischen dem marokkanischen Philosophen Rachid Boutayeb und Ihnen. Warum haben Sie dieses Gespräch geführt?
Das Gespräch ist der unmittelbarste und vielleicht sogar einzige Weg, unsere eigene Wirklichkeitserfahrung zu überprüfen. Da es für uns Menschen einen objektiven, auktorialen Blick auf die Welt nicht gibt, können wir nur möglichst viele Perspektiven in die Konstruktion eines annähernd wahren oder zumindest alltagstauglichen Weltbildes einbeziehen.
Dasselbe gilt für die Konstruktion des Selbst, die des Gesprächs, der Fremderfahrung, des Blicks des Anderen bedarf.
Und da ich bei Rachid Boutayeb auf dieselbe Bereitschaft zum Perspektivwechsel und konstruktiven Dialog gestoßen bin, habe ich mich gerne auf das von ihm angeregte Gespräch eingelassen.
Ist die Religion für Sie passé? Hat sie uns nichts mehr zu sagen?
Ja, die Religion im engen, konfessionellen und dogmatischen Sinn ist für mich obsolet. Die wortwörtlich ausgelegten "Offenbarungen" mancher Fundamentalisten beleidigen meine Intelligenz und verletzen meine Menschenwürde. – Hat sie uns nichts mehr zu sagen? lautet Ihre Frage. Wer ist sie, und wer ist uns? Offenkundig gibt es eine Vielzahl von Religionen und Bekenntnissen und nach wie vor eine unübersehbare Gemeinde von Gläubigen, denen ihre Religion eine Menge zu sagen hat. Ich mische mich in diese privaten Beziehungen eines Gläubigen zu seinem Gott, von dem ich nichts weiß und mit dem mich keinerlei eigene Erfahrungen verbinden, nicht ein und erwarte denselben Respekt der Gläubigen vor meinem Unglauben.
Hier beginnen die großen Religionskonflikte unserer Zeit: Die Toleranz des Agnostikers trifft auf den totalitären Wahrheitsanspruch (nicht nur) der monotheistischen Religionen, die per definitionem keine anderen Götter neben sich dulden können. Die Intoleranz, das heißt die Unverhandelbarkeit ihrer Wahrheiten ist dem Monotheismus inhärent und im Fall, dass die Religion auch politische Geltung beansprucht, mit einer pluralen Gesellschaft nicht vereinbar. In der Tat glaube ich, dass eine Welt ohne Religion oder, genauer, eine Welt, deren Ethik sich allein auf eine kontingente Würde des Menschen beruft, eine lebens- und liebenswertere wäre. Es gibt inzwischen unzählige Untersuchungen (auch in der EU), die eine direkte Korrelation zwischen der Gläubigkeit einer Bevölkerung mit ihrer Intoleranz aufzeigen: Je tiefer der eigene Glaube eingeschätzt wird, desto umfassende sind die geäußerten Ressentiments gegenüber Andersgläubigen, Fremden, Minderheiten, Frauen und Schwulen.
Eines der Schwerpunkte des Gesprächs ist die Problematik des Körpers. Warum ist diese Thematik so wichtig für ein interkulturelles Gespräch?
Alles, was dem Körper im Namen des Seelenheils angetan wird, Beschneidung, grausame Initiationsriten, Prügelstrafen etc., wird unter einem agnostischen Stadtpunkt zu einer ungerechtfertigten Körperverletzung.
Der Körper selbst ist das Heilige, dessen Integrität und Unverletzlichkeit geachtet werden muss. Er ist der Sitz, das Gewebe und der Ausdruck unserer Person. Nichts, was wir Seele nennen, lässt sich von ihm abtrennen oder gegen ihn ausspielen.
In den Körper schreibt sich zugleich unsere Kultur ein. Und alle kulturellen Zurichtungstechniken sind daher Körpertechniken. Das, was wir Erziehung nennen, sind immer Disziplinierungs- und Trainierungsversuche des Körpers. Das betrifft ebenso unsere sozialen Beziehungen. Es sind, aller virtuellen Netzwerke zum Trotz, immer noch überwiegend Körper, die sich begegnen und soziale Beziehungen begründen. Sind diese Beziehungen (z.B. auf Grund religiöser Gebote) einer starken Regulierung unterworfen, so schließen die Sanktionen immer Körperstrafen mit ein.
Gibt es ein "Islamproblem" in Deutschland? Brauchen wir mehr Toleranz?
Ja, es gibt ein "Islamproblem", nicht nur in Deutschland oder westlichen Staaten, sondern auch und vor allem in der islamischen Welt selbst. Dieses "Problem" hat mindestens zwei Akteure: einen öffentliche Schlagzeilen produzierenden, zunehmend intoleranten und politischen Islam wahabitischer Prägung und eine säkular geprägte oder orientierte Gesellschaft oder Gesellschaftsschicht, die sich von der Radikalisierung mehr und mehr bedroht fühlt.
Gerade die vom fundamentalistischen Islam zunehmend marginalisierten und verachteten Gruppen, Frauen, frei denkende Intellektuelle und Künstler, Lesben und Schwule etc. fühlen sich zu recht angegriffen und ausgegrenzt (aktuell siehe Fahrverbot für Frauen in Saudi-Arabien; Einreiseverbot für Homosexuelle in die Golfstaaten, im Verdachtsfall droht ein absurder und entwürdigender "Schwulentest" ...). Zweihundert Jahre opferreicher Emanzipationsgeschichte, Emanzipation auch und vor allem von der durch die Religionen festgeschriebenen Ungleichheit, stehen auf dem Spiel. Der Islam, der die Freiheits-, ja Lebensrechte Anders- oder Nichtgläubiger respektiert, wird im öffentlichen Diskurs nicht (mehr) wahrgenommen, weil er im Augenblick nirgendwo einen entscheidenden Einfluss hat oder sich selbst gar in der Defensive befindet.
Nein, wir brauchen nicht mehr "Toleranz"! Ich kann niemanden tolerieren, der mir als schwulen Künstler und Intellektuellen die Lebensberechtigung und mein Recht auf Glück abspricht! Jede Entwürdigung Andersdenkender und –lebender, jede Einschränkung der freien Lebensgestaltung, soweit sie dasselbe Recht der anderen nicht verletzt, muss in einer freien Zivilgesellschaft geächtet sein!
Die Fragen stellte Ahmed Alkassimi.