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Die nackte Wahrheit

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Foto: media.sinematurk.com (Plakat)

GIESSEN. (hpd) Der biografische Film erzählt, wie “Larry Flynt” zunächst als Schnapsbrenner in Kentucky begann, später eine Strip-Bar in Ohio eröffnete und schließlich mit seinem Magazin “Hustler” den Zeitschriften “Playboy” und “Penthouse” Konkurrenz machte. Rechtsphilosophisch interessant ist für den Philosophen Edgar Dahl dabei die Frage, wie der Staat auf Handlungen reagieren soll, die weitgehend als “beleidigend”, “anstößig” oder gar schlichtweg “unmoralisch” betrachtet werden.

Seinen Durchbruch schaffte das Magazin durch die Veröffentlichung von Nacktfotos der Witwe von John F. Kennedy: Paparazzi hatten die Frau des ehemaligen US-Präsidenten und damalige Geliebte des griechischen Multimillionärs Aristoteles Onassis heimlich in ungewöhnlich freizügigen Posen an einem einsamen Badestrand fotografiert. Diese Ausgabe über “Jackie O.” bescherte Flynt erstmals eine Millionenauflage.

Wie Flynt selbst, so ist auch das Magazin fürchterlich ordinär. Insbesondere mit seinen Artikeln, Karikaturen und Witzen hat es sich zu Recht den Vorwurf eingehandelt, “obszön”, “sexistisch” und “rassistisch” zu sein. Regisseur Milos Forman tat daher auch gut daran, den Protagonisten des Films von dem ausgezeichneten, aber stets etwas anstößig wirkenden Schauspieler Woody Harrelson porträtieren zu lassen.

Von Beginn an wurde der “Hustler” mit Strafanzeigen überschüttet. Den Gipfel der Aufmerksamkeit erreichte er jedoch, als er vor dem Supreme Court, dem Obersten Gericht der USA, zur Verhandlung stand. Flynt hatte eine Serie mit dem Titel “Mein erstes Mal” gestartet. In einem dieser Artikel legte er dem allseits verehrten Fernsehprediger Jerry Falwell die Worte in den Mund: “Mein erstes Mal war mit meiner Mutter auf dem Klo.”

Falwell zeigte Flynt sogleich wegen Beleidigung an. Und tatsächlich befand ein Gericht in Virginia den Verleger für schuldig und verurteilte ihn zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 45 Millionen Dollar.

Flynt war das Geld egal. Ihm ging es ums Prinzip. Und zwar um das von der Verfassung garantierte Recht auf Meinungsfreiheit. Dank seines Anwalts, gespielt von Edward Norton, gelang es Flynt, den Streit mit Falwell vor den Supreme Court zu bringen. Und anders als die Richter in Virginia befanden die Richter in Washington Flynt für unschuldig. Nach Ansicht der Obersten Richter müssen sich Personen des öffentlichen Lebens schlichtweg damit abfinden, mitunter die Zielscheibe von Satire und Karikaturen zu werden. Der echte Larry Flynt stellt übrigens im Film den Richter im Gericht von Cincinnati dar.

“Larry Flynt – Die nackte Wahrheit” wirft ein interessantes rechtsphilosphisches Problem auf: Wie soll der Staat auf Handlungen reagieren, die weitgehend als “beleidigend”, “anstößig” oder gar schlichtweg “unmoralisch” betrachtet werden? Gibt es irgendein konsensfähiges Prinzip, mit dessen Hilfe der Gesetzgeber entscheiden kann, welche Verhaltensweisen gesetzlich zugelassen oder verboten werden sollten? Oder ganz konkret: Wie soll der Staat mit Satire, Karikaturen, Blasphemie, Marihuana, Homosexualität, Prostitution oder Pornographie umgehen?

Ich denke, das einzige Prinzip, das mit den Grundsätzen eines freiheitlichen Rechtsstaates vereinbar ist, ist das Prinzip “in dubio pro libertate” oder “Im Zweifel für die Freiheit”. Dieses Prinzip ist keineswegs neu. Es geht auf die Väter des Liberalismus – also auf so namhafte Philosophen wie Wilhelm von Humboldt und John Stuart Mill – zurück. Wie sich leicht zeigen lässt, hat es über die Jahrhunderte nichts von seinen Vorzügen verloren. Ganz im Gegenteil, eine konsequente Anwendung dieses Prinzips ist heute nicht nur wünschenswerter, sondern auch unumgänglicher als je zuvor.

Westliche Gesellschaften sind pluralistische Gesellschaften. Sie bestehen aus Menschen, die unterschiedliche Weltanschauungen und somit zumeist auch unterschiedliche Moralvorstellungen haben. Dementsprechend wird es in solchen Gesellschaften stets Uneinigkeit darüber geben, was moralisch richtig und moralisch falsch ist. Wenn ein Staat seinen Bürgern eine ganz bestimmte Form der Moral aufzudrängen versuchte, wären soziale Konflikte unvermeidlich. Um derartigen Spannungen vorzubeugen, muss die Politik pluralistischer Gesellschaften auf weltanschaulicher Neutralität, gegenseitiger Toleranz und größtmöglicher Freiheit beruhen: Jeder Bürger sollte das Recht haben, sein Leben so zu leben, wie er es für richtig hält, solange er anderen keinen Schaden zufügt. Der Staat sollte sich in die persönlichen Belange des Einzelnen daher nur einmischen, um seine Bürger vor Schaden durch andere zu bewahren.

Der echte Larry Flynt (wikimedia.org)
Der echte Larry Flynt (wikimedia.org)

Das dem Liberalismus verpflichtete “Schadensprinzip” hat fünf wichtige Implikationen. Erstens, die Beweislast haben stets diejenigen zu tragen, die sich für ein strafrechtliches Verbot einer bestimmten Handlungsweise aussprechen. Es ist an ihnen zu zeigen, dass die jeweils zur Debatte stehende Handlung tatsächlich eine Schädigung anderer beinhaltet. Zweitens, die Argumente dafür, dass eine Handlungsweise anderen schadet, müssen einsichtig und überzeugend sein. Sie dürfen nicht auf vollkommen spekulativen psychologischen oder soziologischen Annahmen beruhen. Drittens, Handlungsweisen, die ausschließlich dem Handelnden selbst schaden, dürfen nicht unter Strafe gestellt werden. Der Staat soll seine Bürger nicht vor sich selbst, sondern nur vor Übergriffen durch andere schützen. Viertens, dass eine Handlungsweise anderen schadet, ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung dafür, sie strafrechtlich zu verbieten. Wenn die Kriminalisierung eines Verhaltens mehr Schaden verursacht als verhindert, widerspricht sie dem Sinn des Schadensprinzips und muss aufgehoben werden. Und fünftens, die bloße Tatsache, dass eine Handlung die moralischen, religiösen oder ästhetischen Gefühle anderer verletzt, reicht für ein strafrechtliches Verbot nicht aus. In einer pluralistischen Gesellschaft kann die Aufgabe des Staates nicht in der Durchsetzung einer bestimmten Weltanschauung bestehen, sondern ausschließlich in der Verhinderung einer Schädigung Dritter.

Das Schadensprinzip zeigt, warum es durchaus gerechtfertigt ist, Handlungen wie Mord, Körperverletzung, Raub, Vergewaltigung, Diebstahl oder Betrug unter Strafe zu stellen. Diese Verhaltensweisen fügen anderen nachweislich Schaden zu.