Es gibt keinen gütigen Gott

Mit ähnlicher Logik wie traditionelle Theisten könnten Vertreter einer Dämonenreligion argumentieren, dass die Leiden der Welt ohnedies die Existenz eines bösen Wesens nahe legen und dass die positiven Dinge, die es in der Welt zweifellos auch gibt, uns nur deshalb als positiv erscheinen, weil uns der Gesamtzusammenhang verborgen ist. Verfügten wir über einen vollkommenen Überblick, so könnten wir problemlos erkennen, dass alles Positive ein notwendiges Mittel zu einem Übel sei: >Wenn euch einige Dinge als gut erscheinen, so seid unbesorgt. Im Lichte eines völligen Überblicks könntet ihr erkennen, dass diese letzten Endes schlecht sind und dass diese Welt die vollkommenste Verkörperung des Bösen ist. Manches, das euch jetzt als nützlich und zweckdienlich erscheint, wird einmal in seinem Schaden erkannt werden.<

Mit dem Hinweis auf die Begrenztheit des menschlichen Urteilsvermögens könnte also ebenso die Existenz eines allbösen Wesens gezeigt werden, woraus folgt, dass mit dieser Logik die Güte des Schöpfers nicht zu begründen ist.

Aber einmal abgesehen von dieser Schwierigkeit, bedeutet diese Theodizee den Missbrauch des Attributs >gut< und damit aller moralischen Werte.

Denn wenn jene Güte, die üblicherweise Gott in maximalem Ausmaß zugeschrieben wird, nicht einmal jene bescheidene Form der Güte, die man sinnvollerweise von Menschen erwarten kann, zu umfassen braucht, dann haben Theisten die Eigenschaften Gottes offenbar falsch und irreführend formuliert.

Eine >Güte<, die nicht die unsere ist, die also mit dem, was wir gewöhnlich darunter verstehen – etwa: >Eine Handlung ist auf jeden Fall moralisch hervorragend, wenn sie dem Wohlwollen entspringt und dem Gemeinwohl dient< – Wenn also eine >Güte< mit dem, was wir darunter verstehen, nichts zu tun hat, dann ist dies für uns ein leeres Wort. Wir sollten Gott überhaupt nicht >gütig< nennen, wenn er nach menschlichem Ermessen nicht gut ist, denn uns ist allein ein menschlicher Maßstab zugänglich.

Ebenso wenig sollte man die Ausdrücke >Gerechtigkeit< oder >Liebe< gebrauchen, wenn Gott nicht im üblichen Sinn gerecht ist oder seine Geschöpfe nicht im üblichen Sinn liebt. Wird ernsthaft gesagt, Gott sei gut, aber seine Güte sei nicht die unsere, so könnten wir auch behaupten, er sei purpurfarben mit gelben Flecken oder kreisförmig oder ganz Frau – vorausgesetzt nur, diese Begriffe würden nicht im üblichen, sondern in einem übertragenen Sinn verwendet.
Wenn Gottes Güte und damit auch seine Moral eine andere als die unsere ist, so kann er für unser Handeln keine Bedeutung mehr haben, da wir einen menschlichen Maßstab brauchen. Jemand, der nicht mehr im üblichen Sinn des Wortes an die Güte und Gerechtigkeit des Schöpfergottes glaubt, sondern in diesem Zusammenhang vom >Mysterium< oder >Geheimnis< Gottes spricht, akzeptiert ein Weltbild, das von der traditionellen Lehre zumindest in einem wesentlichen Punkt gänzlich abweicht.

Denn die Idee einer ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits, also die Vorstellung einer künftigen Belohnung der hier ungerecht Behandelten und eine Bestrafung der hier ungerecht Handelnden, ist nur sinnvoll, wenn man die Existenz eines göttliches Wesens annimmt, dessen Güte und Gerechtigkeit auch die unsere ist. Denn ist Gottes Gerechtigkeit nicht in unserem Sinn zu verstehen, dann ist es durchaus möglich, dass die Guten im Jenseits bestraft und die Bösen belohnt werden (wie dies im Diesseits oftmals geschieht): keine ausgleichende Gerechtigkeit dort, sondern die gleiche Ungerechtigkeit wie hier.

Gerade die Konzeption einer ausgleichenden Gerechtigkeit ist etwas, das auch viele nicht-religiöse Menschen nicht unbeeindruckt lässt. Denn die Hoffnung, dass es den Verdammten dieser Erde – den tagtäglich etwa 20.000 verhungernden Kindern beispielsweise – wenigstens im Jenseits besser gehen möge, lässt kaum jemand gänzlich kalt. Gerade mitfühlende Menschen mögen hoffen, dass es bei diesem Unrecht nicht bleiben möge, dass das irdische Unrecht das letzte Wort nicht sei.

Das sittliche Gefühl nimmt Anstoß an der Ungerechtigkeit des Weltlaufs. Wir leben in einer Welt, in der viele Unschuldige leiden, in der Menschen wie Sokrates hingerichtet, Galilei zum Schweigen gebracht und Bruno verbrannt werden. Tugend, die nicht schweigt, wandert im Diesseits oft in den Kerker und wanderte häufig genug auf den Scheiterhaufen. Aber, so wird von Theisten nun versichert, der Allmächtige lasse zwar die irdische Sonne über Gerechte und Ungerechte scheinen, aber einmal werde er den Spreu vom Weizen trennen! Mögen Menschen auch die Rolle, die sie im Weltdrama spielen, oftmals als erdrückend empfinden, so wird es doch eine Erlösung geben. Am Ende aller Zeiten werden die Dissonanzen der diesseitigen Übel im herrlichsten jenseitigen Wohlklang sich auflösen!

Aber alles dies setzt die Existenz eines gütigen und gerechten Gottes voraus, und zwar – entgegen dieser Theodizee – >gütig< und >gerecht< in unserem Sinn. Aber die Annahme der Existenz eines solchen Gottes ist bloßes Wunschdenken, da die Welt keinen gütigen Lenker offenbart. Der Schluss von einer irdischen Welt mit den vielen Jammertälern auf ein himmlisches Schlaraffenland erinnert, wie Bertrand Russell in Warum ich kein Christ bin gezeigt hat, an Folgendes: Wir erhalten eine Kiste Orangen und entdecken, dass die erste Lage völlig verdorben ist. Wenn man mit nüchternem Verstand urteilt, so wird man schlussfolgern, dass wahrscheinlich die ganze Kiste, also auch die künftigen Lagen Orangen, verdorben ist. Hat man jedoch eine profunde theologische Ausbildung genossen, so ist man geneigt, anders zu schließen, nämlich so: Gerade weil die oberste Lage verdorben ist, werden die künftigen vorzüglich sein.

Wenn Gott tatsächlich gerecht ist, insbesondere im Jenseits gerecht sein wird, so wäre er es bereits im Diesseits. Denn ist der Allmächtige nun einmal ein gerechtes Wesen, dann kann er auf Erden nicht ungerecht sein. Weil es im Diesseits jedoch ungerecht zugeht, ist die Vorstellung eines gerechten Gottes und daher die einer ausgleichenden Gerechtigkeit unbegründet. Sollte Gott tatsächlich genügend Macht besitzen, um für immer den Triumph der Gerechtigkeit zu garantieren, so ist nicht einzusehen, weshalb er im Diesseits nicht verschiedenste Übel eliminiert. Denn deren Beseitigung setzte viel weniger Macht voraus als jener künftige Zustand. Gerade weil Gott hier nicht eingreift, um größte Ungerechtigkeiten zu vermeiden, werden die einen noch dreister, die anderen noch verzweifelter – und die Hoffnung der dritten auf ein Jenseits noch größer.

Viel besser begründet als der Schluss vom leidvollen Diesseits auf ein leidloses Jenseits ist die Überlegung, dass eine ausgleichende Gerechtigkeit gerade deshalb erhofft wird, weil das Diesseits keinen gütigen Gott offenbart. Wenn wir in ein Konzert gehen und erleben müssen, dass die Ouvertüre misslungen ist, so wird die Hoffnung steigen, dass wenigstens das Hauptstück gelingen möge. Aber diese Hoffnung wäre viel besser begründet, wenn das Orchester bereits die Ouvertüre problemlos gemeistert hätte. Für die Existenz einer jenseitigen Gerechtigkeit gibt es also evidente Wünsche, aber keine evidenten Gründe.