Im Märchen gibt es ein solches Wesen: Goldmarie. Sie braucht nicht mit der Tragödie anderer konfrontiert zu sein, um Dinge wie Mitgefühl, Solidarität oder Mitfreude zu entwickeln. Ein moralisches Verhalten ist ihr etwas Selbstverständliches. Es ist Teil ihrer Identität, sie wird nicht durch Leid in ihrem Verhalten motiviert, sondern handelt moralisch gleichsam >aus Unschuld<.
Die Kritik an der theologischen Vorstellung von >Leid als Charakterbildner< lässt sich sogar noch verschärfen, mit dem Hinweis nämlich, dass Mitleid und Barmherzigkeit gar keine Güter an sich sind. Denn ihren Wert beziehen sie allein aus der Tatsache, dass durch mitleidiges und barmherziges Verhalten Leid vermindert wird; aber gäbe es überhaupt kein Leid, so wären auch Mitleid und Barmherzigkeit keine Güter, da unnötig.
Der Rechtfertigungsversuch um die menschliche Sittlichkeit erweist sich somit als zirkulär und vermag nichts zu begründen: In ihm werden gewisse Verhaltensweisen wie Mitgefühl und Solidarität als große Güter behauptet und Leid mit dem Hinweis gerechtfertigt, dass es notwendig sei zur Realisierung dieser Güter. Aber da Mitleid und Solidarität nur deshalb Güter sind, weil dadurch Leid vermindert wird, war Gott nicht gerechtfertigt, Leid zu schaffen. Sich um Leidende zu kümmern, ist aufgrund der Beschaffenheit der Welt eine moralische Pflicht, aber ein Gut an sich – zur Entlastung Gottes – ist es nicht.
Da Menschen begrenzte Wesen sind, werden ihre Energien, die sie zur Leidminderung verwenden müssen, von intellektuellen oder künstlerischen Aktivitäten abgezogen. Es ist nicht einzusehen, weshalb gerade Mitgefühl und Solidarität so überragende Güter sein sollten – etwas, worauf die allermeisten theistischen Ethiken geradezu fixiert sind.
Eine Welt mit weniger Leid, Mitgefühl und Solidarität mag in gewisser Hinsicht ärmer sein. Aber dafür könnte es beispielsweise ungleich mehr wissenschaftliche Neugierde geben. Wo bleibt die kontemplative Entfaltung des intellektuellen und künstlerischen Lebens aller im Kampf gegen das Negative in der Welt? Nochmals: So, wie die Welt nun einmal beschaffen ist, wäre es unsere Pflicht, anderen in ihrer Not beizustehen. Aber die Tatsache, dass so viele einen Beistand benötigen, stellt Gottes Güte in höchstem Maße in Frage.
Der erste Versuch, die Güte Gottes zu rechtfertigen, gelingt also nicht. Es gibt viel zu viel und viel zu intensives Leid, damit daraus stets angebliche Güter wie Mitleid und Barmherzigkeit resultieren würden; vielmehr entstehen aufgrund des vorhandenen Leids häufig neue Übel. Damit ist aber diese Theodizee, der zufolge alles Leid der Charakterbildung diene und somit gerechtfertigt sei und Gottes Güte offenbare, misslungen.
3. Gottes Güte ist eine andere als die menschliche
Bei dieser Theodizee wird behauptet, dass Gott zwar das summum bonum, aber seine Güte nicht die unsere sei. Und nicht nur Gottes Güte ist mit menschlichen Kategorien nicht zu begreifen, sondern auch seine Ratschlüsse sind oft unerforschlich -- und seine Wege unergründlich.
Was ist nun von diesem Versuch, die Güte Gottes zu rechtfertigen, zu halten? Zu seiner Begründung wird immer wieder betont – und dies natürlich zu Recht –, dass wir nur einen Teil des Universums kennen. Aus dieser Beobachtung wird dann gefolgert, dass wir – sollten wir alles wissen – dieses als >sehr gut< erfassen könnten. >Manches, das uns jetzt als schädlich oder als zweckwidrig erscheint, wird später einmal in seinem Nutzen erkannt werden.< Aber weil dem so ist, ist Gottes Güte gerechtfertigt.
Aber aus der Tatsache, dass wir nur einen Teil des Ganzen kennen, kann nicht geschlossen werden, dass alles in allem gut sei. Denn gerade der bekannte Teil könnte – verglichen mit dem Rest – noch relativ gut sein. Immerhin gilt für den uns zugänglichen Teil der Welt, dass menschliche Wesen nicht ewig leiden müssen und auch als allerletzten Ausweg die Möglichkeit haben, sich selbst zu töten, falls ihnen das Leben nur noch zur Last geworden ist.