Der richtige Biss

Frieder Otto Wolf hat jüngst eine Positionsbestimmung des Humanistischen Verbandes verfasst. Sie ist in vielerlei Hinsicht erstaunlich, positioniert man sich doch in gezielter Abgrenzung von den Neuen Atheisten, die man gleichzeitig für unwichtig erklärt. Das erinnert an die South-Park-Folge über Richard Dawkins, in der sich verfeindete Atheistengruppen in einer gottfreien Zukunft bekämpfen.

 

Ein Kommentar von Andreas Müller

Die Realität sieht gewiss ein wenig anders aus, so gibt es tatsächlich relevante Unterschiede zwischen den atheistischen Strömungen, die weit über die Frage der Lilliputaner aus Gullivers Reisen, an welchem Ende man das Ei aufbrechen solle, hinausgehen. Offenbar werden wir damit leben müssen, dass es nun zwei atheistische Konfessionen gibt, so zuckersüß unseren Gegnern diese Vorstellung auch auf der Zunge liegen mag.

In diesem Bild spielt der HVD die Rolle des Vatikans und die Neuen Atheisten jene der Protestanten. Der HVD ist eine gesellschaftliche Institution mit offenbar recht klaren Vorstellungen, wie der Laden zu laufen hat und die Neuen Atheisten sind vergleichsweise ein Chaotenhaufen, der gerne „die da oben“ ärgert, der allerdings auch sehr gute Gründe hat, dies zu tun. Um diese Rolle gut zu spielen, hat der HVD gleich ein paar Begriffe besetzt, die er auch gerne behalten kann, jedenfalls, was mich betrifft:

„Strategische Option“, „Bekenntnis-Humanismus“, „praktischer Humanismus, der die Menschen erfasst und wärmt“, „Bündnispartner“, „hegemonial“, „antihumanes Bündnis“, „islamophobische Propaganda“, „gemeinsame Kultur der Menschheit“ (?), „Humanistik“, „antihumane Polarisierungen“, „atheistischer Fundamentalismus“, „Propagierung der Gottlosigkeit“, „atheistische Rechtsradikale“, „Spaßguerilla“, „säkulare Szientisten“, „Feindbestimmung“ und schließlich „Humanismus“, denn wenn das, was der HVD hier betreibt, „Humanismus“ sein soll, dann bin ich kein Humanist und will auch nichts mehr davon hören.

Der Humanismus des Tages ist offenbar ein organisiertes Gutmenschentum, das meint, es sei besser als der Rest der Welt, vor allem natürlich als diese bösen Krawallatheisten, die sich noch immer im philosophischen Schlamm des 18. Jahrhunderts suhlen und solchen obskuren Ideologien wie der „Wissenschaft“ anhängen, die ja schon so viele Verbrechen heraufbeschworen hat. Darum möchte ich im folgenden auch anderen Atheisten nahelegen, sich nicht mehr als „Humanisten“ zu bezeichnen, selbst wenn ich dabei auf diese garstige „Wissenschaft“ zurückgreifen muss.

Gutmenschentum und die Folgen

Laut einer neuen psychologischen Studie (hier ist eine weitere) führt die Annahme einer moralischen Identität dazu, dass sich Menschen zu unethischem Handeln berechtigt fühlen. Wer also sagt “Ich bin ein Humanist, Christ, Moslem, etc.”, der reduziert die Wahrscheinlichkeit, sich ethisch zu verhalten.

Im Abstract (Zusammenfassung) der Studie heißt es: “Im ersten Experiment wurden die Teilnehmer darum gebeten, eine Geschichte zu schreiben, in der sie selbst eine wichtige Rolle spielen und die Wörter enthält, die sich entweder auf positive oder negative Eigenschaften beziehen. Die Teilnehmer, deren Geschichte sich auf die positiven Eigenschaften bezog, spendeten ein Fünftel von dem, was diejenigen aufboten, deren Geschichte sich auf die negativen Eigenschaften bezog.“

„Im zweiten Experiment zeigten wir, dass dieser Effekt spezifisch durch eine Veränderung im Selbstkonzept ausgelöst wurde. Im dritten Experiment replizierten wir diese Ergebnisse und weiteten sie auf kooperatives Verhalten im umweltbezogenen Entscheidungstreffen aus.“

„Wir behaupten, dass die Annahme einer moralischen Identität Menschen dazu bringt, dass sie sich zu unethischem Verhalten berechtigt fühlen. Wenn allerdings die moralische Identität gefährdet ist, gebraucht man moralisches Verhalten, um den Selbstwert wiederzugewinnen.”

Wer sich also “Humanist” nennt, der verringert die Wahrscheinlichkeit, einer zu sein. Es gibt noch einen weiteren Grund, dies zu unterlassen. Wir sind nämlich kaum in der Lage, uns selbst zu beurteilen. Andere beurteilen uns viel zutreffender als wir selbst. Das ist nicht unbedingt schlecht, Der Psychologe Rolf Degen schreibt sogar, die Abwesenheit von verzerrten Wahrnehmungen der eigenen Person “geht häufig mit trübsinnigen Empfindungen bis hin zur Depression einher. [...] Wer ein rosiges Bild von sich selbst kultiviert – und die anderen mit dieser Show überzeugt – hat im Daseins- und Fortpflanzungskampf häufiger die Nase vorn. Und am besten kann man andere mit einer Vorstellung blenden, wenn man selbst an sie glaubt” (Degen, Rolf: Lexikon der Psycho-Irrtümer. Erstausgabe. S. 190).

Die Sache hat aber einen großen Haken: Wer sich selbst zu unkritisch gegenübersteht und sich für besser hält als andere, der verhält sich eher schlechter als andere. Ein bisschen rosa Brille ist also normal, aber wer es übertreibt, der wird für seine Mitmenschen zu einer Pest und schadet letztlich auch oft sich selbst.

Daher lautet mein Vorschlag: Wir sollten uns nicht mehr Humanisten nennen und uns stattdessen wie Humanisten verhalten. Es ist sowieso arrogant, sich selbst so zu nennen (oder sich selbst “Christ” zu nennen, insofern man das für etwas Positives hält!). Besser ist es, einer zu sein und da andere uns korrekter bewerten als wir selbst, werden wir gegebenenfalls eine sehr positive Fremdwertung für uns verbuchen!

Die Leute kommen viel zu schnell mit einer Bewertung an, wer denn nun ein „wahrer” Humanist sei und wer nicht. Ein Problem, dass religiöse Menschen in viel schlimmeren Ausmaße, bis hin zu Konfessionskriegen („wer ist der bessere Christ/Moslem”), ja auch kennen. Ich schlage daher die Verwendung neutraler oder sogar negativer Selbstbezeichnungen vor: Naturalist, Atheist, “Neuer Atheist”, Antitheist, Krawallatheist.

Immerhin habe ich noch niemals den Vorwurf gehört, ich wäre kein “wahrer” oder “anständiger” Krawallatheist…

Atheistische Fundamentalisten

Ich wurde cartooniert (von Rolf Heinrich, der sich auch selbst cartooniert hat)Was die anderen Vorwürfe gegen den Neuen Atheismus seitens des HVD betrifft, stehe ich nun da wie der Ochs am Berg und bin insofern einigermaßen perplex. Die säkularen Humanisten (?) des HVD werfen den Neuen Atheisten nämlich genau dasselbe vor, was wir unlängst gläubigerseits zu hören bekommen: Islamophobie, antihumane Polarisierungen, Propaganda, Fundamentalismus, Spaß (?), eine szientistische Tradition, für die man irgendwie verantwortlich wäre und irgendwas mit atheistischen Rechtsradikalen. Das hat es schon einigermaßen in sich. Auf meinem Blog fragt sogar ein Kommentator: „Frieder Otto Wolf schreibt von atheistische Rechtsradikalen und einer atheistischen 'Spaßguerilla'. Ist er etwa der Walter Mixa des HVD?“, während der BrightsBlog (der mir keineswegs nahesteht) titelt: „Humanismus ohne Eier“.

Was den Fundamentalismus-Vorwurf angeht, so überlasse ich es meinen „neo-atheistischen“ Kollegen aus Übersee, A.C. Grayling und Dan Gardner, ihn zu entkräften. Der Philosoph A.C. Grayling sagt dazu:

„Wie würde ein nicht-fundamentalistischer Atheist aussehen? Wäre das jemand, der nur so irgendwie glaubt, dass es keine übernatürlichen Wesen im Universum gibt - vielleicht, dass es nur einen Teil von Gott gibt (einen göttlichen Fuß oder einen göttlichen Hintern)? Oder dass Götter nur gelegentlich existieren - etwa nur Mittwochs und Samstags? (Das wäre gar nicht so ungewöhnlich: Für viele nicht-denkende Quasi-Theisten existiert Gott nur Sonntags.) Oder könnte es sein, dass es sich bei einem nicht-fundamentalistischen Atheisten um jemanden handelt, der kein Problem damit hat, dass andere Menschen zutiefst falsche und primitive Dinge über das Universum glauben, auf dessen Basis sie Jahrhunderte damit verbrachten, andere Menschen massenhaft zu ermorden, die nicht ganz genau die selben falschen und primitiven Dinge glauben wie sie selbst - und das noch immer tun?“

Dan Gardner ergänzt:

„Was jedoch ist der Kern von Dawkins radikaler Botschaft?

Nun, er sieht in etwa so aus: Wenn Sie behaupten, dass etwas wahr ist, dann werde ich die Belege überprüfen, die Ihre Behauptung stützen; falls Sie keine Belege haben, dann werde ich das, von dem Sie behaupten, es sei wahr, nicht akzeptieren und Sie für eine törichte und leichtgläubige Person halten, weil Sie daran glauben.

Das ist es. Das ist das ganze, verrückte, fanatische Paket.“

Was ich zu einem Strohmann wie der angeblichen „Propaganda“ sagen soll, weiß ich auch nicht. Höchstens der Hinweis, dass jenes, was die eine Partei „Propaganda“ nennt, von der anderen schlicht als „Werbung“ bezeichnet wird. Von stalinistischen Personenkulten und Durchhalteparolen für einen totalen Krieg kann hier schließlich kaum die Rede sein bei harmlosen Sprüchen wie „gottlos glücklich“. In der Tat gewinnt man eher den Eindruck, dass der HVD frustriert ist, weil seine Vorhersagen sich als unwahr herausgestellt haben: Sowohl Buskampagne als auch Pro Ethik haben gezeigt, dass Atheisten sehr wohl mobilisiert werden können. In beiden Fällen haben moderate Christen keine große Rolle gespielt (höchstens bei der Verhinderung der Buskampagne in zahlreichen Städten) – im Gegenteil hat gerade der atheistische Osten der Stadt Berlin für Pro Ethik und der „moderat“ christliche Westen für Pro Reli gestimmt! Trotzdem meint man, dies einfach ignorieren und sich scharf von den Neuen Atheisten distanzieren zu müssen, während man sich bei den Kuschelchristen einschleimt.

Hütet euch, der Islam kommt!

Islamophobie und die rechtsradikalen Atheisten haben wohl etwas miteinander zu tun. Dass die irrationale Furcht vor dem Islam der einzige Grund sein kann, ihn zu kritisieren, das ist gewiss die Meinung des Wortschöpfers, also des iranischen Mullah-Regimes. Nur was „Humanisten“ mit diesen zu schaffen haben, dass sie ihre Propagandasprache übernehmen, das fragt man sich ja schon. Bei der unfassbar hohen Reaktionärenquote unter den deutschen Muslimen (sowie international unter allen Muslimen, siehe Sam Harris Das Ende des Glaubens) muss man in der Tat konstatieren, dass der Islam nicht nur eine Religion, sondern auch eine rechte Ideologie ist, also etwas, das dem HVD niemals gefallen würde, hätten die meisten Vertreter dieser Ideologie eine weiße Hautfarbe. Was offenbar in großen Teilen der Linken nicht ankommt, ist die simple und offensichtliche Tatsache, dass Menschen jeder Hautfarbe für reaktionäre Ideologien offen und manipulierbar sind.

In seinem Buch Freimaurer, Illuminaten und andere Verschwörer zitiert der Autor Thomas Grüter den Politologen und sunnitischen Moslem Bassam Tibi wie folgt: „In der Wahrnehmung der Muslime gibt es nur das eigene Kollektiv und das der Feinde. Und das Feindbild hängt mit der Vorstellung von der Verschwörung zusammen.“ (S. 103) Weiter führt Grüter in Anlehnung an Tibi aus: „Für die Araber sind der Stamm im engen Sinne, die Bruderschaft aller arabischen Stämme in weiteren Sinne und die Umma, die Gemeinschaft des Islam, im weitesten Sinne die eigene Gruppe, der das Individuum unbedingte Loyalität schuldet, der gegenüber es selbst aber keine natürlichen Rechte hat. Der Kampf um die Vorherrschaft der eigenen Gruppe gegenüber anderen Gruppen ist eine selbstverständliche Pflicht jedes einzelnen Mannes. Eine öffentliche, für andere vernehmbare Kritik an der eigenen Gruppe, sei es der Stamm oder auch der Islam, verletzt die Ehre der Gemeinschaft“ (ebenda). Wenn der Islam keine reaktionäre Ideologie ist, dann gibt es keine reaktionären Ideologien. Warum bin ich nun „islamophob“ oder sogar „rechtsradikal“, wenn ich ein Problem mit ebensolchen rechtsradikalen Weltanschauungen habe?

Laut einer großen Studie des deutschen Innenministeriums von 2007 mit dem Titel „Muslime in Deutschland“, ist die Mehrheit (!) der deutschen Muslime folgender Meinung:

1. Der Islam ist die einzig wahre Religion (65,6%)
2. Die Sexualmoral der westlichen Gesellschaften ist völlig verkommen (71%)
3. Der Staat sollte Zeitungen und Medien kontrollieren, um Moral und Ordnung sicherzustellen (65,5%)

Die Mehrheit der deutschen Muslime teilt also, um es freundlich auszudrücken, ein wenig arg bodenständige Positionen. Für Frieder Otto Wolf sind das nur „einzelne Praktiken und Positionen der islamischen Tradition“. Eine große Minderheit der deutschen Muslime hat noch ein paar dieser einzelnen Praktiken und Positionen im Angebot:

1. 43,3 % [der deutschen Muslime] sind der Ansicht, dass Menschen, die den Islam modernisieren, die wahre Lehre zerstören.
2. Der Aussage „Die Befolgung der Gebote meiner Religion ist für mich wichtiger als Demokratie” stimmen 46,7 % zu.
3. 33,6 % befürworten die Todesstrafe
4. 44,3 % gehen davon aus, dass Muslime, die im bewaffneten Kampf für den Glauben streben, ins Paradies kommen.

Entweder habe ich Tomaten auf den Augen, weil ich nicht einsehen will, wie völlig harmlos und wunderbar mannigfaltig der Islam in seiner Gesamtheit doch ist, oder der HVD hat Tomaten auf den Augen, weil er nicht erkennen kann, wie gewaltig die Zustimmung unter Anhängern des Islam gegenüber extrem reaktionären Ansichten ist. Gewiss: Nicht jeder Muslim stimmt ihnen zu (erst recht natürlich nicht die atheistischen Ex-Muslime, weil sie gar keine Muslime mehr sind...) und die, die es nicht tun, sind schon einmal gleich viel sympathischer. Trotzdem: Nehmen wir einmal an, man hätte diese Umfrage mit ähnlichen Ergebnissen vor 60 Jahren unter Italienern und Spaniern durchgeführt, also während der Regime von Mussolini und Franco. Wer auf Gottes grüner Erde hätte damals behauptet, dies habe doch alles nichts mit dem Faschismus zu tun und sei lediglich kulturell mit überkommenen Traditionen der Italiener und Spanier zu begründen?

Dazu kommt natürlich, dass keineswegs alle Vertreter dieser Ideologie eine andere Hautfarbe haben, was den Linken (dieser komischen Richtung innerhalb der Linken) ja wieder entgegenkommen müsste. So sind die schlimmsten islamischen Fanatiker deutsche Konvertiten. Aus irgendeinem Grund scheinen die aber auch unter Fremdenschutz zu stehen, vielleicht weil sie eine fremde Religion übernommen haben. Und Fremdes ist eben per se gut, schon alleine deshalb, weil es eben fremd ist. Das gilt für chinesisches Essen genauso wie für islamische Selbstmordattentäter.

Lachen ist Sünde

Spätestens seit Umberto Ecos „Im Namen der Rose“ wissen wir, dass es für wahre Christen nichts zu lachen gibt. Warum ein humanistischer Verband nun von einer „Spaßguerilla“ sprechen sollte, als wäre Spaß eine Geschmacksrichtung des Terrorismus, das allerdings hat schon ein überraschendes Moment. Überhaupt ist das rhetorische Geschütz, das hier gegen die Buskampagne aufgefahren wird, eine einzige Absurdität, wohl die späte Rache von Samuel Beckett:

„Bustouren zur Propagierung der Gottlosigkeit mögen ja einfach zu denken sein und manchen Konfessionslosen richtig Spaß machen – aber was dadurch gesellschaftlich bewirkt werden mag, ist angesichts der durchaus existierenden atheistischen Rechtsradikalen durchaus nicht klar. Wir als organisierte HumanistInnen können aber in der gegenwärtigen Gesellschaftskrise eine derartige Spaßguerilla nicht verantworten – denn dadurch werden Bündnisse erschwert, die wir dringend brauchen.“

„Bustouren“: Oh, wie schön!, denkt man da. Ab ins Grüne, endlich Urlaub! Doch hinter der harmlosen Fassade des alten Doppeldeckers verbirgt sich eine geheime Mission fundamentalistischer Atheisten zur Propagierung der Gottlosigkeit, womit durchaus existierende atheistische Rechtsradikale auf die diabolischste Weise erfreut werden sollen! Schande über die gottlosen Sieben, dass sie uns so schändlich hinters Licht geführt haben! Dank dem HVD wissen wir nun endlich, was hinter der oberflächlich betracht harmlosen Buskampagne tatsächlich steckt! Nämlich ein finsterer Plan gottloser Nazis. Oder so. Gewiss könnte man das Eifersuchtsdrama auf den Erfolg dieser Kampagne auch würdevoll beenden und eine eigene Kampagne starten, die noch größeren Erfolg hat, aber das ist momentan kaum angesagt bei allerlei „Feinden“, „atheistischen Rechtsradikalen“, „antihumanen Polarisierern“ und was nicht so alles kreucht und fleucht in den Köpfen der HVDler.

Der aufgewärmte Humanismus

„Nur ein intelligenter praktischer Humanismus, der mit den Menschen fühlt, sie erfasst und wärmt, kann die Vormacht der Religionen im Alltagsleben zurückdrängen und den Beweis liefern, dass es auch ohne Religionen geht“, liest man weiter in jenem Positionspapier.

In der Tat: Mit verhängnisvollen wissenschaftlichen Erkenntnissen hat diese Aussage nichts zu tun. In seinem Artikel The Big Religion Questions Finally Solved (Free Inquiry 29/1) kommt Gregory S. Paul zu dem Ergebnis, dass „Wissenschaft, sicherer Wohlstand und eine Konsumgesellschaft den Glauben überall in der ersten Welt radikal untergraben. [...] Im Widerspruch zu Nein-Sagern bestätigt sich die sogenannte Säkularisierungs-Hypothese (die vorhersagt, dass soziale und wissenschaftliche Fortschritte eine schrittweise Abwendung vom Glauben befördern) überall in der entwickelnden Welt.“

Die Religion wird am effektivsten innerhalb einer freien Gesellschaft durch Bildung, Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit zurückgedrängt. Wie Paul weiter ausführt: „Religion ist [...] ein künstlicher, primitiver und dysfunktionaler Zustand; weit verbreitete populäre Ablehnung des Glaubens an das Übernatürliche ist die fortschrittlichere und weniger pathologische menschliche Verfasstheit.“

Konsequent kommt Paul zu dem Ergebnis, dass keineswegs der Mangel an einer Staatskirche der Grund war, warum die USA so religiös geworden ist, sondern die mangelnde soziale Gerechtigkeit. Was wir also nicht brauchen sind säkulare Organisationen, welche die sozialen Angebote der Religionen nachahmen, denn wie die religiösen Sozialträger werden auch die humanistischen aussterben, sobald der Staat seine oben genannten Aufgaben wahrnimmt. Sollte der Staat das nicht tun und weiterhin auf seinen „neoliberalen“ Kurs setzen, wird auch die Religiosität und der Irrsinn allgemein weiter ansteigen. Da hilft dann auch kein praktischer Humanismus mehr. In der Tat ist dieser aufgrund seines vergleichsweise geringen Wahnsinns nicht konkurrenzfähig in Krisenzeiten.

Stalin und Hitler

In diesem Positionspapier ist noch so ein komischer Absatz drin:

„Manche säkular Engagierte müssen offenbar daran erinnert werden, dass etwa die Eugenikphantasien vieler säkularer SzientistInnen und PositivistInnenin der jüngeren europäischen Geschichte eine wichtige Grundlage für verbrecherischen Praktiken von Massenmord und -verstümmelung geliefert haben. Aber auch an die Technisierungsphantasien vieler AgrarexpertInnen ist zu erinnern, wie sie – nicht nur im Stalinismus – die Grundlage zu einem faktischen Massenmord an Bäuerinnen und Bauern gebildet haben.“

Wie jetzt? Das ist doch wohl hoffentlich keine Variante des Stalin-und-Hitler-Arguments? Des Arguments, das ich schon eine Zillion mal in Quadrillionen von Artikeln widerlegt habe, wie jeder der Neuen Atheisten? Irgendetwas daran muss verdammt schwer zu verstehen sein. Also: Ja, Atheisten haben Verbrechen begangen (zum Beispiel dieses absurde Positionspapier), aber sie haben diese Verbrechen nicht aufgrund ihres Atheismus begangen! Ein paar dieser teuflischen Szientisten hatten gewiss weiße Kittel an, als sie ihre frankensteinischen Experimente durchführten, aber das heißt nicht, dass sie diese Experimente aufgrund ihrer weißen Kittel gemacht haben!

Nein, ich weigere mich, für Stalin und für verrückte Szientisten Verantwortung zu übernehmen, nur weil mich die Gottesbeweise nicht überzeugen! Zeigt mir eine Gesellschaft, die auf den Prinzipien von Epikur, Spinoza, Thomas Jefferson, Tom Paine, Albert Einstein, Bertrand Russel begründet wurde und die in Völkermord und Holocaust ausgeartet ist, dann, und nur dann, können wir weiter reden!

Umringt von Feinden

Und noch eine letzte Bemerkung: Der HVD spricht von „Feindbestimmung“ und von „feindlichen Kräften“. Das geschieht wohl, wenn man Kuschelatheisten in die Ecke drängt oder sie sich grundlos in diese gedrängt fühlen. Aber mit „Feinden“ kann ich nichts anfangen. So würde ich allenfalls die allerschlimmsten Gotteskrieger nennen wollen. Wir sind hier keine „Feinde“, womit ich durchaus auch unsere religiösen Gegenspieler meine, nein, wir sind Gegner in einem öffentlichen Diskurs innerhalb einer freien Gesellschaft, nichts sonst!

Andreas Müller