Das Paradigma der Unschuld

Schmidt-Salomon nähert sich einer gesellschaftlich heiklen und inhaltlich komplexen Materie in lockerer Schreibe mit provokativer Zuspitzung an. Dabei wechselt immer wieder die Perspektive: Allgemeine theoretische Reflexionen stehen neben konkreten Fallbeispielen, Kommentare zu philosophischen Ansätzen wechseln sich mit Betrachtungen zur Popularkultur ab. Dies macht das Buch zu einem Lesevergnügen, müssen philosophische Abhandlungen doch in der Tat nicht staubtrocken sein. Gleichwohl hat diese Darstellungsform auch seine Nachteile: Die mehr essayistische Herangehensweise erlaubt es auch, bestimmte Gedankengänge nicht konsequent und systematisch zu Ende zu denken. Dies zeigen etwa die durchaus anregenden Überlegungen zu den Folgen des Abschieds von der Willensfreiheit für die Rechtssprechung. Hinzu kommt noch, dass Schmidt-Salomon viele missverständliche Formulierungen nutzt. Er verwahrt sich zwar immer wieder vor möglichen Fehlwahrnehmungen, spielt aber auch um der Provokation willen damit.

Auch hinsichtlich der inhaltlichen Positionen lässt sich dieser Effekt ausmachen, wobei vor allem die überspitzten Verallgemeinerungen als problematisch angesehen werden können. So ist ihm dahingehend zuzustimmen, dass es „das Böse“ und „das Gute“ nicht gibt (vgl. S. 36f.). Allein mit der schlichten Frage „Wo ist das denn bitte schön?“ lassen sich solch Fiktionen in Zweifel ziehen. Schmidt-Salomon bringt darüber hinaus für seine Position aber noch nicht einmal ein ganz entscheidendes Argument in Stellung: Wer bedenkliche gesellschaftliche Phänomene als Ausdruck „des Bösen“ erklärt, verhindert die Analyse der tatsächlichen Ursachen. Insofern kann dem Autor in diesem Punkt noch mehr zugestimmt werden als er mit seinen Argumenten dafür wirbt. Ideengeschichtlich ist aber sicherlich kritikwürdig, den „Gut-Böse-Dualismus“ auf den Monotheismus zurückzuführen (vgl. S. 38). Darüber hinaus kann es auch eine säkular begründete Moralauffassung geben, etwa in Gestalt der Bewertung bestimmter Handlungen auf Basis eines bestimmten ethischen Prinzips.

Ähnliche Einwände lassen sich bei den Erörterungen zur Willensfreiheit formulieren: Man muss nicht die Ergebnisse der neueren Hirnforschung bemühen, um die Auffassung von der absoluten Willensfreiheit des Menschen in Zweifel zu ziehen. Die biologischen und kulturellen, persönlichen und sozialen Grenzen seines Handelns sind allgemein bekannt. Auch bei einer Gerichtsverhandlung spielen Lebensumstände und Rahmensituation bei der Urteilsfindung eine bedeutende Rolle. Doch ob eine Auffassung wie die folgende wirklich so abgesichert ist, wie Schmidt-Salomon darstellt, darf mit guten Gründen bezweifelt werden: „Denn auch (vermeintlich) geistig gesunde Personen können, so die empirisch belegte Sicht der Hirnforscher, schlichtweg nicht anders handeln, als sie es de facto tun“ (S. 114). Dies trifft sicherlich auf manche Individuen und Situationen zu, läuft aber in dieser Allgemeinheit auf einen so gerade nicht belegbaren Determinismus hinaus. In einem vielfältig begrenzten Rahmen besteht durchaus die Freiheit zu Denken und Handeln.

Schmidt-Salomon sollte in diesem Kontext übrigens nicht unterstellt werden, er entschuldige oder relativiere die Untaten mancher Personen, liegen doch Beurteilung und Erklärung von Handlungen auf unterschiedlichen Ebenen. So heißt es bei ihm: „Wenn wir anerkennen, dass selbst die übelsten Verbrecher der Geschichte in dem Sinne unschuldig waren, dass sie unter Voraussetzung der Gültigkeit der Naturgesetze schlichtweg nicht anders handeln konnten, als sie gehandelt haben, so heißt das nicht, dass wir ihre Taten in irgendeiner Weise tolerieren oder gar gutheißen müssten“ (S. 200). Aber auch bezüglich der Erklärung von menschlichem Sozialverhalten wäre zu fragen, ob der Verweis auf die zufällige Kombination der unterschiedlichen biologischen, gesellschaftlichen und psychologischen Bedingungsfaktoren allein zur Erklärung einer bestimmten Handlung ausreicht und die Berücksichtigung einer individuellen Entscheidung dabei keine Rolle spielt. Hier wie in anderen Fragen auch wäre in Richtung des Autors zu sagen: Dieses Eine muss das Andere nicht ausschließen.

Stoff für inhaltliche Debatten und kritische Reflexion

Unabhängig davon wie man zu dieser und anderen Positionen steht, machen die bisherigen Ausführungen deutlich, wie sehr Schmidt-Salomons Buch zu inhaltlichen Debatten und kritischen Reflexionen über zentrale ethische und sozialwissenschaftlichen Fragen anregt. Dazu liefern noch eine Reihe von anderen Themen genügend Stoff: So findet man in dem Werk etwa eine Betrachtung zur Bedeutung kultureller Lernerfahrungen in der Evolution des Menschen (vgl. S. 76-86) und eine „mem-theoretische“ Deutung der Geschichte des Antisemitismus (vgl. S. 86-100) ebenso wie ein Plädoyer für die Verkopplung von östlicher und westlicher Weisheit in Form von buddhistischem Langmut und aufklärerischem Veränderungswille (vgl. S. 239-252) und innovative Vorschläge zum konstruktiven Umgang mit Straftätern (vgl. S. 285-289). Die Auseinandersetzung mit diesen wie anderen Positionen und Themen muss nicht affirmativ sein. Man kann und sollte den Autor beim Wort nehmen: „Belehren Sie mich eines Besseren! Sie wissen ja: Kritik ist ein Geschenk ...“ (S. 315).

Armin Pfahl-Traughber

Michael Schmidt-Salomon, Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind, München und Zürich 2009 (Pendo-Verlag), 349 S., 19,95 €

 

Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.