(hpd) Der Historiker Heinrich August Winkler legt mit seiner „Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert“ eine erste umfassende Gesamtdarstellung zur Geschichte des alten und neuen Westens vor. Das gut geschriebene und überaus informative Werk stellt auf die Umsetzung von Normen wie Demokratie, Gewaltenteilung, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit ab, verleugnet aber auch nicht den mitunter auszumachenden Widerspruch von westlichen Idealen und westlicher Realität.
Die Formulierung „der Westen“ gehört zu den geflügelten Worten in den Diskussionen über die internationalen Beziehungen. Doch was ist „der Westen“, und wie wurde er zum „Westen“. Die letztgenannte Frage will der Historiker Heinrich August Winkler, lange Jahre Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, in seinem voluminösen Werk „Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert“ beantworten. Die „Entstehung des westlichen Projekts, die Ungleichzeitigkeit seiner Verwirklichung, die Widersprüche zwischen Projekt und Praxis“ bilden dabei als Stichworte die Leitlinien der Darstellung. „Sie will“, in den Worten des Autors, „keine ‚histoire totale’, sondern eine Problem- und Diskursgeschichte sein: ein Versuch, die Hauptprobleme der europäischen und der nordamerikanischen Geschichte sowie das Nachdenken über sie in ihrem atlantischen oder westlichen Zusammenhang zu erörtern“ (S. 22). Der Westen gilt dabei als normatives Projekt von Demokratie, Gewaltenteilung, Menschenrechten und Rechtstaatlichkeit.
In diesem Sinne zeichnet die „Geschichte des Westens“ die historische „Verwestlichung des Westens“ (S. 21), also den Weg bestimmter Länder und Staaten hin zur gesellschaftlichen Verwirklichung dieser Wertvorstellungen nach. Winkler geht dabei historisch-chronologisch vor und lässt seine Darstellung in der Antike beginnen: Am Anfang stand für ihn die Entstehung des Monotheismus und die Selbstsäkularisierungstendenz des Christentums. Im ersten von vier Teilen wird dann die Entwicklung Europas bis zu den Widersprüchen der spätmittelalterlichen Gesellschaft geschildert. Dem folgt unter der Überschrift „Von Wittenberg bis Washington“ eine Darstellung der Zeit von der Reformation bis zur Gründung der USA. Danach widmet sich Winkler den Zeitraum vom Beginn der Französischen Revolution bis zum Ausbruch der revolutionären Prozesse Mitte des 19. Jahrhunderts. Und schließlich steht der folgende Zeitraum von der Entstehung der Nationalstaaten bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs im Zentrum des Interesses.
Winkler bilanziert: „Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, gab es seit weit über 100 Jahren das, was wir als das normative Projekt des Westens bezeichnet haben: die amerikanische und die französische Menschenrechtserklärungen von 1776 und 1789 und das Bekenntnis zur Volkssouveränität, zur Gewaltenteilung und zur Herrschaft des Rechts als Grundlage einer staatlichen Ordnung, die sich auf ebendiese Rechte beruft“ (S. 1191). Der Autor leugnet mit dieser Bewertung aber nicht die Schattenseiten in der Geschichte des Westens und spricht dabei von dem „Gegensatz zwischen dem normativen Projekt und der politischen Praxis des Westens. Das Bekenntnis zu den allgemeinen und unveräußerlichen Menschenrechten ging einher mit ihrer Verleugnung, wann immer sich Menschen auf sie beriefen, denen diese Rechte bewusst vorenthalten wurden“ (S. 1191). So zynisch der Westen sich gegenüber der nichtweißen Welt meist verhalten habe, „so besaß er doch die Fähigkeit zur Selbstkritik, zur Korrektur seiner Praxis und zur Weiterentwicklung seines Projekts“ (S. 22).
Im Vorwort bemerkte der Autor, es gebe zwar zahlreiche Gesamtdarstellungen zur Geschichte Europas und den USA, aber an einer zusammenfassenden Geschichte des alten und neuen Westens mangele es. Winklers gut geschriebene und überaus informative Darstellung schließt diese Lücke in beeindruckender Weise. Allein die fast 1120 Textseiten dokumentieren eine erstaunliche Arbeitsleistung. Winkler behandelt alle entscheidenden politischen Umbruchprozesse anschaulich und differenziert, was etwa die Darstellung und Deutung des Prozesses hin zum Kriegsausbruch 1914 gegen Ende des Buchs anschaulich zeigt. Auch die ideengeschichtlichen Entwicklungen finden entsprechend ihrer politischen Bedeutung angemessene Aufmerksamkeit, nehmen doch Abschnitte zu Aufklärung und Nationalismus ebenso Raum ein wie Ausführungen zu Locke oder Rousseau. Demgegenüber hätten aber auch sozial- und wirtschaftspolitische Aspekte größere Beachtung verdient, wie die Verweise auf die sozialen Interessen bei der Entstehung der US-Verfassung exemplarisch verdeutlichen.
Bei aller Anerkennung und Würdigung dieser imposanten Arbeit Winklers bedarf es aber auch einiger kritischer Anmerkungen: Die Anlage des Buches ist geographisch und zeitlich von einem Ungleichgewicht geprägt. Sie konzentriert sich weitgehend auf die Geschichte Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und den USA. Andere Länder kommen nur in wenigen Abschnitten vor oder werden allenfalls in einzelnen Absätzen gestreift, was sich etwa an der weitgehenden Vernachlässigung des skandinavischen Raums zeigt. Außerdem macht die Behandlung des 19. Jahrhunderts gut die Hälfte des Buchumfangs aus, entsprechend geht Winkler auf den vorherigen Seiten im Eiltempo durch die Geschichte. Und schließlich sei bezüglich formaler Aspekte noch darauf verwiesen, dass das Werk zwar nicht als Gesamtdarstellung, sondern als Problemerörterung angelegt sein sollte. Gleichwohl schwankt der Autor zwischen beiden Ansprüchen hin und her und füllt so mitunter auch unnötig die Seiten. Hier hätte weniger mehr sein können.
Zwar zieht sich der von Winkler hervorgehobene Gegensatz von westlichen Idealen und westlicher Realität durch die Darstellung hindurch. Einerseits wird dieser aber stofflich überlagert durch die stark beschreibende Darstellung historischer Etappen einzelner Länder, andererseits scheut der Autor die differenzierte Erörterung der Ursachen für den Gegensatz zu den eigentlichen Idealen. Dieses inhaltliche Defizit korrespondiert nicht zufällig mit dem geringen Stellenwert sozialpolitischer Aspekte. Inhaltlich kritikwürdig wäre darüber hinaus noch, die Normen des westlichen Projektes aus dem Monotheismus abzuleiten. Viele der gemeinten Wertvorstellungen fanden sich bereits bei den heidnischen und säkularen Denkern in der griechischen Antike. Uneingeschränkt zustimmen kann man indessen Winklers politischem Rat: „Der Westen kann für die Verbreitung seiner Werte nichts Besseres tun, als sich selbst an sie zu halten und selbstkritisch mit seiner Geschichte umgehen, die auf weiten Strecken eine Geschichte von Verstößen gegen die eigenen Ideale war“ (S. 24).
Armin Pfahl-Traughber
Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2009 (C. H. Beck-Verlag), 1343 S., 38 €





