FRIEDBERG (hpd) Grundsätzliche Überlegungen zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, anlässlich des Streits um das Kreuz in Düsseldorfer Gerichtssälen im Februar 2010.
Von Gerhard Czermak
Ausgangslage
Ist das Kreuzsymbol neutral genug, um die weltliche Staatsgewalt überzeugend repräsentieren zu können? Die Errichtung eines neuen Justizzentrums in Düsseldorf war Anlass für die Präsidenten von Amtsgericht und Landgericht, zu entscheiden, ob die Sitzungssäle auch in den neuen Gebäuden mit dem Kreuz ausgestattet werden sollen. Da es in den vergangenen Jahren immer wieder vorgekommen war, dass sich Verfahrensbeteiligte am Kreuz rieben und sein Abnehmen erreichten, entschied man nun, künftig auf das Kreuzsymbol ganz zu verzichten. Immerhin hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 1995 entschieden: Kreuze in öffentlichen Schulen sind unzulässig, da sie geeignet sind, mit ihrem „appellativen Charakter“ eine – und sei es geringe – religiöse Beeinflussung auszuüben. Das verletzt laut BVerfG die Religionsfreiheit Andersdenkender und verstößt außerdem gegen die dem Staat auferlegte religiös-weltanschauliche Neutralität („Kruzifix-Beschluss“ vom 16.5.1995, voller Wortlaut).
Man sollte sich nun fragen, wieso trotzdem noch 2010 Kreuze überhaupt in Gerichten hängen können. Das nicht nur wegen des Verstoßes gegen die tragenden und daher alle deutschen Staatsorgane bindenden Gründe des BVerfG, sondern auch wegen der einfachen Überlegung, dass die staatlichen Gerichte keinerlei Kompetenz in religiös-weltanschaulichen Fragen haben. Sie sind unmittelbarer Ausdruck der rein säkularen Staatsgewalt. Auf Grund der klaren deutschen Verfassungsrechtslage behauptet hierzulande kein Jurist, der Staat habe einen religiösen Zweck. Er kann nicht durch das Symbol einer bestimmten Religionsgruppe repräsentiert werden, sondern allenfalls durch das Staatswappen. Gerichte sprechen Recht nach den staatlichen Gesetzen und haben keinerlei religiöse Maßstäbe. Die Düsseldorfer Gerichtspräsidenten haben daher lediglich für die schon lange fällige Beseitigung eines groben Verstoßes gegen das Grundgesetz gesorgt.
Kontroverse Diskussion
Dennoch: Am 18. und 19.2. 2010 las und hörte man den empörten Aufschrei mancher christlicher Politiker und Kirchenoberer beider großen Kirchen in den rheinisch-westdeutschen Medien. Aber insgesamt war die Aufregung deutlich geringer als nach dem Kruzifix-Beschluss des BVerfG von 1995 (Grundinformationen zur Düsseldorfer Debatte). Hatte sich doch sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Urteil vom 3.11.2009 erdreistet, das Schulkreuz in italienischen Schulen als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention zu werten: Der Staat habe in Räumlichkeiten, die Personen zwangsläufig betreten müssten, von Glaubensbekundungen abzusehen. Und in NRW musste selbst das Justizministerium einräumen, dass von etwa 1300 Gerichtssälen in NRW nur 40-60 noch mit einem Kreuz ausgestattet waren, ohne dass es bisher zu besonderen Irritationen gekommen war. Vor 15 Jahren war die Situation noch ganz anders. Die Präsidentin des Oberlandesgerichts Düsseldorf wies unter Hinweis auf das Neutralitätsgebot verwundert darauf hin, dass neben den Bundesgerichten wie dem Bundesverfassungsgericht oder dem Bundesgerichtshof auch der nordrhein-westfälische Verfassungsgerichtshof sowie die Verwaltungsgerichte und das Oberverwaltungsgericht NRW keine Kreuzsymbole kennen.
Bildungsdefizite
Viele Äußerungen beweisen erneut die üblichen Bildungs-, insbesondere staatsbürgerkundlichen Defizite. In der Rheinischen Post etwa finden sich folgende Kommentare: Leser fanden die christlich-abendländischen Werte mit Füßen getreten, die eigene Identität werde verleugnet, die christliche Bevölkerung mit ihrer Mehrheit beuge sich gegenüber jeglicher kleinen Minderheit, die Berufung auf die Gottesnennung in der Präambel des Grundgesetzes (GG) durfte natürlich nicht fehlen, ebensowenig der Satz Böckenfördes, der freiheitliche, säkularisierte Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ (Dazu Näheres http://hpd.de/node/8543) Dass die christlichen Wurzeln des Volkes nicht gewürdigt würden, sei eine Schande, und die islamischen Staaten wurden wieder einmal zum Vergleich herangezogen. Demgegenüber sei das Kreuz das Zeichen für Gerechtigkeit und Nächstenliebe. Gesamttenor: „Christliche Symbole sind unverzichtbar“ (so Rhein. Post 25.2.2010). Den Gipfel des Unverständnisses erklomm eine Karikatur in der Rheinischen Post: „Schwören auf Asterix? Oder Telefonbuch?“.
Äußerungen von Politikern dürfen in ideologischen Fragen nicht unbedingt ernst genommen werden, zumal in Wahlkampfzeiten. Wenn daher die CDU-Justizministerin von NRW erklärte, sie „trete dafür ein, dass Kreuze nur im Einzelfall abgehängt werden, wenn einer der Prozessbeteiligten hieran Anstoß nimmt", so ist das schon deswegen milder zu beurteilen. Entsprechendes gilt für die nicht sinnvoll definierbare Aussage von Ministerpräsident Rüttgers, das Kreuz stehe für "die christlich-abendländischen Werte", auf denen das Gemeinwesen basiere (Dazu Ursula Neumann: Sind Christen doch die besseren Menschen? Das Märchen von der Bedeutung christlicher Wertevermittlung). Auch dafür, dass Repräsentanten der Kirchen, Machtausübung seit jeher gewohnt und staatlicherseits hofiert, sich für das Kreuz im Gerichtssaal einsetzen, ist verständlich.
Gefährliche Aussagen
Durchaus gefährlich wird es freilich, wenn etwa der Düsseldorfer Superintendent Ulrich Lilie betont: "Wir sind eine christliche Mehrheitsgesellschaft, das sollten wir selbstbewusst zum Ausdruck bringen." Denn das bedeutet, genau betrachtet, nichts anderes, als dass stets gilt, was die (parlamentarische?) Mehrheit beschließt. Das kommt einer Abschaffung der individuellen Grundrechte gleich. Nicht besser ist die Behauptung von Erzbischof Robert Zollitsch in seiner Funktion als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, es sei ein "krasses Missverständnis", Religionsfreiheit als Freiheit von Religion aufzufassen. Denn das heißt, allen Nichtreligiösen ihr Grundrecht aus Art. 4 I, II GG abzusprechen. Gerade dort (und an anderen Stellen des GG) wird aber Religion und nichtreligiöse Weltanschauung ohne Differenzierung gleich behandelt. Staatspolitisch bedeutsam ist es auch, wenn es in einem Artikel der Rheinischen Post (der hier nur als eines von vielen Beispielen aus der Medienlandschaft genannt sei) vom 25.2. heißt: „Es muss … jeder Minderheit klar sein, dass sich die deutsche Rechtsprechung an christlichen Werten orientiert…[Es hat] Kreuze im Gerichtssaal zu geben, denn das Volk ist christlich!“ Daran ist alles falsch: erstens trifft die Behauptung, in Deutschland sei die Mehrheit der Bevölkerung „christlich“, in dieser pauschalen Form nicht zu: etliche repräsentative Umfragen belegen seit über einem Jahrzehnt, dass sich (ungeachtet einer derzeit noch 60%igen formalen Mitgliedschaft in einer der großen Kirchen, einschließlich eines erheblichen Prozentsatzes von Agnostikern und „Atheisten“) eine knappe Bevölkerungsmehrheit nicht mehr als „religiös“ versteht. An einen persönlichen „Gott“ glauben nur noch etwa 20 (oder weniger) bis maximal 25%. (Zahlreiche detaillierte statistische Angaben und Erläuterungen zu dieser Problematik finden sich im Portal der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland.) Das Argument, das Volk sei christlich, schlägt sich daher selbst. Es kann in diesem Zusammenhang auch keine regionalen Unterschiede geben: Gerichtssäle haben in jedem Bundesland und jeder Region dieselbe Funktion. Und eine Rechtsprechung, die sich an spezifischen „christlichen“ oder nichtchristlichen Werten orientierte (was immer das konkret bedeuten mag), verhielte sich GG-widrig.
Verfassung und Neutralitätsgebot
Gerichte müssen nach Rechtswerten (die individuell christlich oder auch anders verstanden und motiviert sein mögen), entscheiden, wie sie im Grundgesetz und anderen Gesetzen enthalten sind, und nach nichts anderem. Spezifisch religiöse Privilegierungen, wie sie selbst in manchen Landesverfassungen zu finden sind (z.B.: nach Art.1 I Ba-WüVerf ist der Mensch berufen, "seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des christlichen Sittengesetzes...zu entfalten", der Staat habe den Menschen hierbei zu dienen; Art. 7 I der NRWVerf erklärt "Ehrfurcht vor Gott" an erster Stelle als "vornehmstes Ziel der Erziehung"; die Verf. von Rheinland spricht in ihrer Präambel von Gott als dem „Urgrund des Rechts und Schöpfer aller menschlichen Gemeinschaft“), sind mit dem GG unvereinbar und damit ungültig. Im Konfliktfall geht das GG allen anderen Rechtsvorschriften in Deutschland vor (Art. 31 GG: „Bundesrecht bricht Landesrecht“). Die Nennung Gottes in der Präambel des GG ist nach Ansicht aller Verfassungsrechtler lediglich ein Hinweis auf die Motive der meisten Mitglieder des Parlamentarischen Rats von 1948/49. Die religiös-weltanschauliche Bedeutung des GG ergibt sich ausschließlich aus der Gesamtheit der einschlägigen Vorschriften des – freilich aus säkularen Gründen religionsfreundlichen – Religionsverfassungsrechts. Alle staatlich-öffentlichen Institutionen und Organe müssen demnach alle Religionen und (nichtreligiösen) Weltanschauungen gleich behandeln. Das heißt, sie müssen im Positiven (kulturstaatliche Förderung, Informationsvermittlung) wie Negativen (Distanzierung von Religion in Justiz, Polizei usw.) dem Neutralitätsgebot entsprechen, d.h. unparteilich sein.
In der Theorie räumen das selbst besonders kirchennahe Juristen ein. Der stark kirchlich engagierte Verfassungsrechtler und Rechtshistoriker Martin Heckel hat daher 1993 formuliert: "Von der christlichen Tradition 'des Abendlandes'...findet sich in der Staatsverfassung keine Spur". Daher gibt es keinerlei Berechtigung für Kreuze in Gerichtssälen: aus Gründen der staatlichen Neutralität, der Religions- und Weltanschauungsfreiheit auf der Basis der Gleichheit für alle im Rahmen der Verfassung. Der prominente Katholik und Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat das schon vor fast 40 Jahren eindrucksvoll dargelegt. Angesichts der aktuellen Diskussionslage muss man Hans Michael Heinig, dem Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland, dankbar sein. Er hält es für eine Banalisierung des Kreuzes, es auf ein Symbol für Humanität und allgemein akzeptierte Werte zu reduzieren, um seine Fortexistenz in Gerichtssälen zu erhalten.
Dies alles nicht zu sehen, ist für den Bestand eines freiheitlichen Staatswesens gefährlich. Daher sind die Parteiprogramme der C-Parteien besonders kritisch zu sehen: Das CDU-Grundsatzprogramm von 2007 spricht an 25 Stellen vom spezifisch Christlichen und an 9 Stellen von Kirche. Die Wertevermittlung auch durch andere Religionen, insbesondere die jüdische, wird immerhin am Rande gewürdigt, während die Nichtreligiösen (Kennen sie keine Werte? Basiert das GG nicht wesentlich auf dem Gedankengut der Aufklärung?) in keinem Zusammenhang erwähnt werden. Das Programm der CSU von 1993 pointiert das Christliche noch stärker und erklärt, das Kreuz „in den Klassenzimmern und in allen öffentlichen Gebäuden“ sei „unverzichtbar“. Politiker, die das ernst nehmen, kommen zwangsläufig in erhebliche Spannung zum GG.
Folgerungen
Die Folgerungen aus der verfassungsrechtlichen Lage sind einfach: Wenn die öffentliche Hand keine religiöse oder nichtreligiöse Weltanschauung formal bevorzugen oder benachteiligen darf, d.h. auch, auf einseitige Einflussnahmen aller Art verzichten muss, so gilt das nicht nur für die Justiz, sondern auch für Rats- und Kreistagssäle sowie für alle öffentlichen Schulen und das Militär: Der Staat darf nicht von sich aus zugunsten der einen oder anderen Richtung Stellung nehmen (Neutralität), sei es durch Verwendung eines religiösen Symbols, finanzieller Förderung oder verbaler Einflussnahme wie im christlich fundierten „Lebenskundlichen Unterricht“ der Bundeswehr, der seit 2009 sogar für Nichtchristen verbindlich ist: ein krasser Verstoß gegen die Religionsfreiheit (Art. 4 GG).
Die jetzt wenigstens teilweise erfolgte Normalisierung der Neutralitätsfrage in NRW wirft Fragen auf. Etwa die, wann auch in Bayern, wo in Amts- und Landgerichten, Gemeinderatssälen und Kreistagssälen flächendeckend (oft sehr große) Kreuze und Kruzifixe angebracht sind, das GG besser beachtet wird. Wie viel Vertrauen verdienen Richter, die Angst davor haben, auf einer verfassungsgemäßen Ausstattung ihrer Sitzungssäle zu bestehen? Wer das alles vertiefen möchte, kann das in meinem einschlägigen Lexikonartikel nachlesen.
Das Kreuz in der Schule
Ein besonderes Kapitel ist die staatliche Verwendung des Kreuzsymbols in Schulen. Selbst in Bayern ist sie bezeichnenderweise nur für die Grund- und Hauptschulen vorgeschrieben (trotz BVerfG, siehe oben, eingangs). Gegen opponierende Lehrer wird es unerbittlich verteidigt. In ausgesprochen katholischen Gegenden ist eine Entfernung der Kreuze freilich ein schwerwiegendes Problem. Denn die große Mehrheit der Eltern und Lehrer betrachtet das Kreuz als ihr persönliches Recht, das sie sich nicht nehmen lassen wollen: eine Konsequenz jahrzehntelanger systematischer Falschinformation, nicht bösen Willens. Auf die zumindest diskutierfähige Idee, das Problem durch private Initiative der Eltern abzumildern, ist man (bewusst?) noch nicht gekommen: Man könnte Eltern bzw. Schülern erlauben, in Eigeninitiative Kreuze an unaufdringlicher Stelle im Klassenzimmer anzubringen, wenn eine nachgewiesene Mehrheit (geheime Befragung) das ausdrücklich wünscht und niemand widerspricht (staatliche Duldung). Aber in Bayern scheint man den Kulturkampf vorzuziehen. In NRW ist man auch da schon viel weiter.
Zur Einführung in die Gesamtproblematik Staat-Religion-Neutralität sei auf meinen Überblicksaufsatz „Religionsverfassungsrecht im Grundgesetz“ verwiesen.
Die weitere Entwicklung wird spannend. Ein bayerischer nichtreligiöser Hauptschullehrer hat nach gerichtlichem Misserfolg im Februar 2010 Verfassungsbeschwerde zum BVerfG erhoben. Gegen das Schulkreuz-Urteil des Straßburger EGMR vom 3.11.2009 hat die italienische Regierung die Große Kammer des Gerichtshofs angerufen, die endgültig entscheiden wird.
Hinweis: Der Autor ist Verfasser von: Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht. Ein Lexikon für Praxis und Wissenschaft. Alibri, 2009. 400 Seiten in übersichtlichem Kleindruck, gebunden, Euro 39.-, ISBN 978-3-86569-026-2
Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.