Drei Fragen an... Hidir Karademir

FRANKFURT. (hpd) Am Wochenende 19./20. Juni findet in Frankfurt ein Seminar statt, das Islam und Islamismus als Herausforderung für die Friedensbewegung thematisiert. Im Vorfeld stellt hpd die Referenten und ihre zentralen Thesen in Kurzinterviews vor. Veranstaltet wird die Tagung vom Bildungswerks der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) Hessen; dort können sich Interessierte auch anmelden.

 

hpd: In der Türkei gilt insbesondere das Militär als Garant des säkularen Staates. Wie ist es dazu gekommen?

Hidir Karademir: Um diesen Aspekt zu klären, ist es sinnvoll die Geschichte der Türken und die Türkei näher zu betrachten. Die Türkei ist aus dem osmanischen Reich entstanden, das sich von Marokko bis Persien und von der Ukraine bis zum Sudan erstreckte. In diesem Vielvölkerstaat lebten viele Minderheiten. Anerkannte Volksgruppen und Minderheiten wurden entsprechend ihrer Religionszugehörigkeit in Millet (Nationen) organisiert und rechtlich eingeordnet. Millet wurde auf der Basis von Religionen und nicht nach ethnischen Gesichtspunkten gebildet. Dieses System gewährte religiösen Gruppen gewisse Rechte, ihre inneren Angelegenheiten selbst zu regeln.

Das osmanische Gesetz, d.h. die Scharia kannte Begriffe wie „Volkszugehörigkeit“ oder „Staatsbürgerschaft“ nicht, so dass jeder Muslim – gleich welcher ethnischen Herkunft – dieselben Rechte und Privilegien genoss. Die Scharia ist kein Gesetzbuch. Sie ist kein feststehender Codex, den man kaufen und nachschlagen kann. Scharia (in etwa: Weg) bezeichnet die Summe von Pflichten und Verboten, die das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft prägen – von der religiösen Praxis bis zum Erbrecht, von den Speisegeboten bis zum Straf- und Kriegsrecht. Als göttliches Recht wird die Scharia von den Rechtsgelehrten der vier führenden sunnitischen Schulen und den schiitischen Ajatollahs nach überlieferten Methoden aus dem Koran, den Überlieferungen über Mohammed (Hadithen) und den Texten großer Lehrer gedeutet.

Als die moderne Republik Türkei im Jahre 1923 unter Führung von Mustafa Kemal Atatürk gegründet wurde, hatten die Türken ca. 860 (von 1059 bis 1299 Seldschuken und von 1299 bis 1919 Osmanisches Reich) Jahre in Staaten gelebt, die nach religiösen Grundsätzen regiert wurden. Mustafa Kemal war selbst ein General. Er wollte einen Nationalstaat gründen, der nicht nach den religiösen Grundsätzen, sondern nach laizistisch-säkularen Staatsprinzipien regiert wird. Um dies zu erreichen, hat er innerhalb von kürzester Zeit mehrere Reformen durchgeführt.

Innerhalb der ersten zehn Jahre der jungen und modernen Republik setzte eine starke Marginalisierung und Zurückdrängung der Religion durch den türkischen Staat ein. Religiöse Schulen wurden geschlossen, der innerschulische Religionsunterricht eingeführt, Ordenskonvente und religiöse Kleidung verboten, das Alphabet der heiligen Sprache des Koran durch westliche Schriftzeichen ersetzt: 1928 mussten die arabischen Buchstaben den lateinischen weichen. Ebenfalls 1928 verlor der Islam seinen Rang als Staatsreligion in der Verfassung.

Nach der Gründung der modernen Republik Türkei wurden in der Türkei mehrere Demokratisierungsversuche der Gesellschaft unternommen. Jedes Mal versuchten viele Politiker die Religion für ihre Zwecke zu missbrauchen. Das laizistisch-säkulare Staatsprinzip wurde nicht mit der Unterstützung des Volkes in die Verfassung aufgenommen, sondern trotz des Volkes. Die kurdischen Aufstände von 1925, 1930 und 1938 waren religiös motiviert. Das säkulare Staatsprinzip war in Gefahr. Daher wurde in der türkischen Verfassung dem Militär eine wichtige Rolle verliehen. Sie bekam neben dem Schutz der türkischen Landesgrenzen auch die Aufgabe das laizistisch-säkulare Staatsprinzip zu schützen.

hpd: Es gibt in Deutschland Stimmen, die in den gemäßigt islamistischen Gruppierungen die eigentlichen Träger der türkischen Zivilgesellschaft sehen. Wie schätzen Sie das ein?

Hidir Karademir: Die Betrachtungsweise ist zum Teil richtig. Nach der Gründung der modernen Republik Türkei wurde die Türkei von einer Partei CHP (Cumhuriyet Halk Partisi – Republikanische Volkspartei) bis 1950 regiert. Diese vertraute keiner Organisation, die sie nicht kontrollieren konnte. „Autoritäre Staaten neigen dazu, Vergesellschaftungsprozessen außerhalb der staatlichen Strukturen mit Misstrauen zu begegnen, da der Anspruch besteht, den Prozess der Artikulation politischer Interessen zu kontrollieren und auf ein bestimmtes Ergebnis hin zu lenken.“ Der Staat lenkte die Wirtschaft und beherrschte die meisten großen Unternehmen, die Armee griff regelmäßig in die türkische Politik ein (es gab Militärputsche 1960, 1971 und 1980) und setzte Politiker ab, ordnete den Staat neu und berief sich dabei stets auf das Erbe des Staatsgründers. Ausgerechnet die Verfassungsgebende Versammlung, die nach dem Militärputsch 1960 vom Militär eingesetzt war, schrieb im Jahre 1961 eine sehr moderne und fortschrittliche Verfassung. Die Grundrechte, Versammlungs- und Meinungsfreiheit waren in der Verfassung garantiert. Die Zivilgesellschaft hat sich auch unter Einfluss der 68er-Bewegung sehr schnell etabliert. Es kam immer wieder zu Störungen der Staatsideologie „ein Land, eine Sprache, ein Volk eine Fahne“. Der damalige Minister Präsident Süleyman Demirel sagte: „Mit dieser Verfassung ist das Land nicht regierbar“. Im Jahre 1971 puschte Militär wieder und setzte das Parlament und die Regierung außer Kraft. In den folgenden Jahren wurden bestimmte Artikel der Verfassung geändert, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt.

 Beispielbild
Hidir Karademir / Foto: SPD
Nach diesem Putsch hat in der türkischen Staatsideologie eine gravierende Änderung stattgefunden. Das hieß „Türk-Islam Sentezi“, heißt„Türkisch-islamische Synthese“. Vereinfacht gesagt: ein guter Türke ist ein islamischer Türke. Nach der islamischen Revolution im Januar 1979 im Iran besetzte die damalige Sowjetunion Afghanistan. Das war für die USA eine sehr gefährliche Entwicklung. Die Türkisch-islamische Synthese wurde auch von den USA und arabischen Staaten sehr stark unterstützt. Die USA wollte über die Türkei, Iran und Pakistan gegen die Sowjetunion ein Bollwerk mit gemäßigten Islamstaaten bilden, der so genannte „Grüne Sicherheitsgürtel“. Die Demokratisierung und zivilgesellschaftliche Entwicklung in der Türkei konnte nicht schnell gestoppt werden. Deshalb putschte das Militär am 12.September 1980 noch einmal. Ab diesem Zeitpunkt war das Vorantreiben der Türkisch-islamische Synthese nicht mehr zu stoppen. Die Militärangehörigen nahmen bei jeder Angelegenheit den Koran in die Hand und schworen auf den Koran. Der Anführer des Putsches General Kenan Evren nahm das Koran in die Hand, küsste ihn dreimal und legte ihn auf den Kopf. Das heißt so ungefähr: ich werde nichts tun, was der Koran nicht erlaubt.

Seit dieser Zeit geben die gemäßigten Islamisten in der Türkei den Ton an. Sie wurden von allen staatlichen und zum Teil nicht-staatlichen Organisationen unterstützt. Sie haben innerhalb kürzester Zeit das gesellschaftliche Bild geprägt. Sie haben auch der jetzigen Regierungspartei AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi – Gerechtigkeits- und Entwicklungs-Partei) zur Macht verholfen. Seit 2008 gibt es zwischen der Regierungspartei AKP und dem Militär fast einen offenen Machtkampf. Neben dem Militär glaubt ein Großteil der türkischen Bevölkerung, dass die jetzige Regierung eine geheime Agenda hat, nämlich aus der modernen türkischen Republik eine gemäßigte islamische Republik zu machen. Dagegen formiert sich zur Zeit eine große Gruppe der türkischen Zivilgesellschaft. Deshalb sage ich, dass es nur zum Teil richtig ist.

hpd: In den deutschen Medien stellen sich die derzeitigen juristischen und politischen Auseinandersetzungen als Machtkampf zwischen einem mehr oder weniger islamistischen und einem kemalistischen Lager dar. Würden Sie eine Prognose wagen, wie die Türkei aussehen wird, wenn diese Konfrontation beendet ist?

Hidir Karademir: Es ist nicht leicht, eine Prognose zu wagen. Die Islamisten haben in den letzten Jahren in der Türkei mehr an Macht und Einfluss – nicht nur im politischen Bereich – gewonnen. Sie regieren fast seit acht Jahren ununterbrochen in der Türkei. Sie haben die türkische Bürokratie, das Gesundheits- und Schulsystem, die Universitäten und alle anderen gesellschaftsrelevanten Organisationen und Institutionen, die Presse und andere Medien unter Kontrolle. Um ihre Ziele zu erreichen, schrecken sie vor nichts zurück. Sie üben auf die Gruppen und Personen starken Druck aus, die sie als Hindernis oder Gegner sehen.

Die Islamisten haben ein seit 2008 im Untergrund agierendes Geheim-Netz unter der Deckname „Ergenekon“ entdeckt. Ergenekon ist laut Pressedarstellungen innerhalb der staatlichen Strukturen und der Sicherheitskräfte organisierte terroristische Organisation. Die Organisation soll insbesondere gegen die türkische Regierung um Recep Tayyip Erdogan vorgegangen sein. Die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft stuft Ergenekon als „terroristische Vereinigung“ ein. Die Islamisten gehen nicht nur gegen die Mitglieder dieser Organisation strafrechtlich vor, sondern auch gegen die Personen, Persönlichkeiten, Gruppen, Minderheiten, Medien, die sie als ihre Gegner definieren.

Ich glaube nicht, dass das Militär, das von den USA unabhängig ist, eingreifen wird. Da derzeit keine starke Opposition vorhanden ist, gehe ich davon aus, dass diese Partei, trotz aller Korruption – daran ist leider die türkische Bevölkerung gewöhnt – wieder gewählt wird. Zugleich muss man berücksichtigen, dass die AKP vom kapitalistischen System nicht nur durch Diebstahl und Korruptionen profitiert, sondern eigene kapitalistische, wirtschaftliche Strukturen bildet, wie z.B. islamische Arbeitgeberverbände etc. Zugleich beginnt die Dekadenz, wie z.B. dass Frau Erdogan mit anderen Frauen von AKP-Mächtigen exquisite Einkaufszentren für sich schließen lassen, um ungestört Shopping zu gehen oder ganze Kinos, um ungestört unter sich zu sein. Die Islamisten haben ihre religiöse Reiche, Intellektuellen und Bürokraten geschaffen. Dies verleitet mich zu denken, dass sie die Scharia nicht einführen können, denn sie würden sich ins eigene Fleisch schneiden.

Die Fragen stellte Martin Bauer

Hidir Karademir ist Dipl. Sozialarbeiter und seit mehr als 30 Jahre im Sozialen Bereich tätig. Er ist politisch bei der SPD aktiv. Stadtverordneter in Rödermark und Kreistagsabgeordneter im Kreistag des Kreises Offenbach. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.