Im Gespräch mit dem Philosophen Dieter Birnbacher

Sterbehilfe - Todesstrafe durch die Hintertür?

In Belgien wird Sexualstraftätern keine Therapie (wohl auch aus Kostengründen) gewährt, der Verurteilte wünscht – nach jahrzehntelanger Strafhaft - getötet zu werden. Andere Menschen erhalten vielleicht nur unzureichende finanzielle Leistungen, unzureichende medizinische Versorgung – möglicherweise aus Kostengründen. Haben diejenigen Kritiker der Sterbehilfe nicht Recht, die vor einer “schiefen Bahn” warnen, die befürchten, aus Kostengründen würden Menschen zum Suizid gedrängt werden können?

Die Gefahr des gesellschaftlichen Drucks, auf die manche Kritiker der Sterbehilfe hinweisen, sehe ich durchaus. Damit muss sorgfältig umgegangen werden. Jede Öffnung in diesem Bereich muss vorsichtig erfolgen und kritisch begleitet werden. Wichtig ist eine klare Indikation mit gesellschaftlich festgelegten Kriterien, unter denen Sterbehilfe akzeptiert werden kann. Aber aus der Gefahr möglicher Fehlentwicklung den Schluss zu ziehen, dass jegliche Sterbehilfe verboten muss, wäre denjenigen gegenüber unmenschlich, die sich in einer Zwangslage befinden und auf ein menschenwürdiges Ende hoffen.

Eines möchte ich deutlich betonen: Nicht jeder Fall von Lebensmüdigkeit, von subjektiv empfundener Isolation im Alter, von Niedergeschlagenheit usw. darf zur Sterbehilfe berechtigen. Hier müssen klare Grenzen gezogen werden. Es muss im Einzelfall überprüft werden, woher der Sterbewunsch rührt. Da dürfen nicht gesellschaftlich erzeugte Ursachen der Hilfeverweigerung, wie wir es jetzt in Belgien sehen, ursächlich sein.

Ich plädiere auch dafür, dass – jedenfalls auf längere Sicht – sichergestellt sein sollte, dass bei jedem Sterbehilfevorgang ein Arzt einbezogen ist. Nur Ärzte verfügen über die in einem solchen Fall erforderliche Sachkunde sowie die Fähigkeit, die Einsichtsfähigkeit des Patienten und die Authentizität des Sterbewunsches einzuschätzen.

 

Welche Art von Sterbehilfe halten Sie für ethisch vertretbar?

Für mich ist von Bedeutung, dass der Suizidwillige die Entscheidung über den eigenen Tod freiverantwortlich, das heißt im Vollbesitz seiner Einsichtsfähigkeit, in Kenntnis der Tragweite der Entscheidung und ohne äußeren Druck trifft. Die Herbeiführung des Todes muss in seinen eigenen Händen liegen.

 

Gegenwärtig ist Sterbehilfe in Deutschland nicht strafbar. Die Gröhe-Initiative im Deutschen Bundestag ist darauf gerichtet, Sterbehilfe generell zu kriminalisieren. Jetzt zeigen sich deutliche Differenzierungen bei den Bundestagsabgeordneten. Sollte es Ihrer Auffassung nach eine gesetzliche Regelung geben – oder keine, wie bisher?

Es sollte bei dem gegenwärtigen Rechtszustand bleiben. Ein Strafgesetz würde das Recht des einzelnen, über seine eigenes Lebensende zu bestimmen, unzulässig beschränken. Dazu besteht aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse in Deutschland keinerlei Veranlassung. Ich spreche mich auch gegen den liberalen Gesetzgebungsvorschlag von Borasio und anderen aus, weil sie grundsätzlich Sterbehilfe mit einem Strafverbot belegen wollen, auch wenn sie Ausnahmen zulassen. In der deutschen Diskussion wird leider vorschnell auf das Strafrecht abgehoben. Das Strafrecht ist aber das falsche Mittel. Vorschriften, die Sorgfaltskriterien einschließen, sollten im ärztlichen Berufsrecht geregelt werden.

 

Sie haben sich stets gegen die Zulässigkeit einer aktiven Sterbehilfe ausgesprochen. Auch in diesem Jahr haben Sie erneut deutlich gemacht, dass das Recht auf eigene Lebensgestaltung das Recht umfasse, über das eigene Lebensende zu entscheiden, aber aktive Sterbehilfe als “keinen angemessenen Weg” bezeichnet. Aktive Sterbehilfe schließe Fremdbestimmung nicht aus, haben Sie geäußert. Welche Einwände haben Sie gegen aktive Sterbehilfe?

Bei der aktiven Sterbehilfe liegt die “Tatherrschaft” beim Helfer, nicht beim Sterbewilligen. Ich sehe dabei das Risiko einer Grenzüberschreitung. Wenn der Arzt die “Tatherrschaft” innehat, kann die Grenze zur Mitleidstötung leicht überschritten werden. Das aber wäre ethisch inakzeptabel.

 

Sehen Sie sich durch die Ereignisse in Belgien in Ihrer Ablehnung der aktiven Sterbehilfe bestätigt?

Ich bin bereits aus generellen Erwägungen nicht für Regelungen, die die aktive Sterbehilfe beinhalten, wie wir sie in Belgien haben. Mit aktiver Sterbehilfe wird ein Gefahrenbereich eröffnet, der leicht zu Missbrauch führen kann. Um schwer und aussichtslos Leidenden zu helfen, reicht eine verlässliche Regelung des ärztlich assistierten Suizids aus.

 

Wird dieser Vorgang in Belgien Auswirkungen auf die Erörterungen in Deutschland, im Deutschen Bundestag haben? Sind die deutschen Sterbehilfebefürworter jetzt in einer schwächeren Position?

Argumente der “schiefen Ebene”, auf die man sich begibt, wenn man sich auf eine wie immer geartete Lockerung einlässt, beherrschen die Diskussion in Deutschland nicht erst seit heute. Sie könnten durch die Ereignisse in Belgien Auftrieb erhalten. Von der Sache her tragen sie allerdings nicht. Keiner erwartet, dass die Regelung, wie immer sie ausfällt, noch liberaler ist als die gegenwärtig geltende. Aber selbst auf der Grundlage der geltenden liberalen Regelung ist ein Fall wie der des belgischen Sexualstraftäters in Deutschland kaum denkbar.

 

Herr Prof. Dr. Birnbacher, vielen Dank für dieses Interview.

 

Das Interview für den hpd führte Walter Otte.

 


Prof. Dr. Dieter Birnbacher ist Philosoph, Ethiker und hat Lehrstühle für Philosophie in Dortmund und Düsseldorf bis zu seiner Emeritierung 2012 innegehabt. Er ist Mitglied der Schopenhauer-Gesellschaft, der Leopoldina, der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) und des Wissenschaftlichen Beirates der Giordano Bruno Stiftung (GBS).