Im Gespräch mit dem Philosophen Dieter Birnbacher

Sterbehilfe - Todesstrafe durch die Hintertür?

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Dieter Birnbacher
Dieter Birnbacher

BERLIN. (hpd) Entsetzen und Empörung löst eine Mitteilung aus Belgien aus: Ein wegen Vergewaltigungen und Mordes in Sicherungsverwahrung befindlicher Sexualstraftäter hat vor einem Gericht die Erlaubnis erstritten, sich durch Ärzte töten zu lassen.

Der fünfzigjährige Frank Van den Bleeken, der vor etwa drei Jahrzehnten mehrere Frauen vergewaltigte und eine tötete, will aus dem Leben scheiden. Er selbst bezeichnet sich als eine Gefahr für die Gesellschaft, er hege weiterhin abnorme sexuelle Phantasien und will nicht im Gefängnis auf seinen Tod warten.

Seit mehr als zwanzig Jahren sitzt der Mann ohne jede Therapie in der Haftanstalt ein. Offiziell ist er für schuldunfähig erklärt worden. Einrichtungen für Therapien für Sexualstraftäter gibt es in Belgien bislang nicht. Eine therapeutische Behandlung in einer Haftanstalt in den Niederlanden haben die belgischen Behörden abgelehnt – aus Kostengründen. Belgien ist zwischenzeitlich vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen der Unterbringung von Sexualstraftätern verurteilt worden. Konsequenzen daraus werden aber wohl erst in einem Jahr gezogen werden. Dann erst wird ein Gesetz über Therapiemöglichkeiten für inhaftierte Sexualstraftäter in Kraft sein. Zu spät für Van den Bleeken, der jetzt Sterbehilfe erhalten wird.

Mehr als zehn weitere Straftäter haben in den letzten Wochen bereits ähnliche Anträge auf aktive Sterbehilfe gestellt.

Protest gegen diese Entwicklung kommt in Belgien von unterschiedlicher Seite. Auch namhafte PolitikerInnen, die sich seit Jahren für liberale Sterbehilfe eingesetzt haben, lehnen den Gerichtsbeschluss ab. Sie könnten sich nicht mit einem Tod abfinden, der aus Mangel an psychischer Behandlung gewählt werde, erklären etwa die Parlamentarier Freya Van den Bossche  und Bert Anciaux. Und auch der Palliativarzt Wim Distelmanns, einer der maßgeblichen ärztlichen Befürworter von Sterbehilfe, äußert massive Kritik und fragt danach, wie der Staat mit seinen Häftlingen umspringe; das Scheitern der Gesellschaft bei Häftlingen dürfe nicht mit Sterbehilfe “gelöst” werden.

Die Frage, die in Belgien aufgeworfen wird, lautet: wird Sterbehilfe zu einer Art Todesstrafe durch die Hintertür, zu einer “freiwilligen” Todesstrafe?

Manche Sterbehilfegegner in Deutschland fühlen sich durch diese jüngste Entwicklung in Belgien bestätigt: Sterbehilfe in Deutschland in organisierter Form und durch Ärzte assistiert, sei der falsche Weg. Durch die Erleichterung des Sterbens, werde ein Druck auf Menschen entstehen, den eigenen Tod zu wählen – auf Menschen, die sich unnütz fühlten, die Kosten verursachten.

Der Philosoph Dieter Birnbacher tritt seit vielen Jahren dafür ein, dass Menschen in Deutschland selbstbestimmt sterben können und dabei auch ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen können. Dabei hat er sich gegen ein “Schwarz-Weiss-Denken” gewandt und beklagt, dass die gegenwärtige Rechtslage in Deutschland es an Rechtssicherheit für Patienten, Angehörige und Ärzte fehlen lasse und klare Regeln gefordert.

Der hpd hat mit Dieter Birnbacher über die aktuelle Situation gesprochen.

 

hpd: Herr Prof. Dr. Birnbacher, mitten in der in Deutschland geführten Debatte um ein mögliches strafrechtliches Verbot von Sterbehilfeorganisationen und einen ärztlich assistierten Suizid sorgt die Meldung aus Belgien über die gerichtlich zugelassene Tötung eines Sexualstraftäters für Empörung und Irritationen. Wie ist Ihre Meinung zu den Ereignissen in Belgien?

Dieter Birnbacher: Die Berichte aus Belgien sind äußerst irritierend. Dort wird Sterbehilfe in der Form der aktiven Sterbehilfe praktiziert und jetzt – wie sich am Beispiel des Straftäters zeigt - zweckentfremdet. Es geht bei Sterbehilfe immer um eine Situation individueller Ausweglosigkeit für einen Betroffenen, aber aufgrund einer “schicksalhaften Entwicklung”, etwa wegen einer schweren unheilbaren Erkrankung. In Belgien haben wir es jedoch mit einer gesellschaftlich erzeugten Situation zu tun, die den Wunsch oder sogar Drang nach dem Ende des eigenen Lebens hervorgerufen hat. Dies ist ethisch nicht akzeptabel.

Die Medien melden, dass in Belgien gar keine, allenfalls höchst unzureichende Therapieangebote für Sexualstraftäter in den Strafanstalten gemacht werden. Von Sexualstraftätern können dauerhaft erhebliche Gefahren für die Mitmenschen ausgehen. Andererseits darf nicht verkannt werden, dass für deren kriminelles Verhalten zerebrale und hormonelle Fehlfunktionen ursächlich sind. Sexualstraftäter sind durch Strafdrohungen kaum erreichbar. Das Strafkonzept im herkömmlichen Sinn greift hier gar nicht. Es handelt sich um eine Erkrankung, die der Behandlung bedarf. Diese Behandlung ist in Belgien offenbar verweigert worden.

 

Der Vorgang in Belgien zeigt, dass gravierende Mängel im Strafvollzug dazu führen können, dass Menschen den Wunsch nach der eigenen Tötung entwickeln und gerichtlich durchsetzen. Kann so etwas in Deutschland nicht auch passieren?

Die Situation im deutschen Strafvollzug ist eine andere, so dass sich ein Fall wie in Belgien hier so sicher nicht wiederholen kann. Aber deutlich geworden ist, dass die Diskussion über Sterbehilfe sehr sorgfältig geführt werden muss und dass auch mögliche Fehlentwicklungen im Auge behalten werden müssen. Das bedeutet auch, dass bei einer eventuellen negativen Entwicklung neu diskutiert und die Liberalisierung rückgängig gemacht werden muss.