Letzte Hilfe

Das betrifft auch Länder wie Belgien, Niederlande und Luxemburg, die schon vor Jahren nicht nur die Suizid­beihilfe (wie in Oregon) erlaubt haben, sondern sogar die “Tötung auf Ver­langen”. Und selbst dort ist im Gegen­teil ein Rückgang der “harten” Suizide zu ver­zeichnen. “Wir müssen endlich begreifen” schreibt Arnold, “dass nirgends die Gefahr größer ist, fremd­bestimmt sterben zu müssen, als dort, wo Menschen nicht selbst­bestimmt sterben dürfen. Warum das so ist? Weil in den Ländern, die Freitod­begleitung als ärztliche Aufgabe begreifen, jeder Todes­fall dokumentiert wird, während in Staaten, die die Suizid­bei­hilfe tabuisieren, illegale Sterbe­hilfe­maßnahmen in der ‘Grau­zone’ statt­finden – und dort signifikant häufiger auch ohne Zu­stimmung des Patienten erfolgen.” (S. 136)

Diese Sterbehilfemaßnahmen ohne Zustimmung der Patienten; der Menschen, denen allein es ansteht, darüber zu bestimmen, ob z. B. lebenserhaltene Maß­nahmen beendet werden sollen, scheinen häufiger zu sein als man annehmen mag. Darauf deutet eine Umfrage im Jahre 2004 unter Palliativ­medizinern hin: “Obgleich 90,4 Prozent der deutschen Palliativ­mediziner es für moralisch unzu­lässig hielten, einem sterbenden Patienten auf dessen aus­drücklichen Wunsch hin aktive Sterbe­hilfe zu leisten, betrachteten es 63,3 Prozent doch für moralisch zulässig, lebens­erhaltende medizinische Maß­nahmen ohne dessen aus­drücklichen Wunsch abzu­brechen.” (S. 137) Wenn dann noch darüber diskutiert wird, dass die Zulassung eines ärztlich assistierten Suizids das “sozial­verträgliche Früh­ableben alter, kranker oder behinderter Menschen” ein­leiten würde, muss die Frage erlaubt sein, ob das nicht bereits im Geheimen geschieht. Das Ergebnis der Umfrage lässt diese Vermutung zu. Das aller­dings passt denen, die jetzt die Verbots­debatte begannen, ganz sicherlich nicht ins Kalkül.

Cover "Letzte Hilfe"
Cover "Letzte Hilfe"

Nach einem kleinen Rück­blick in die Geschichte (“In der Antike hatte der Suizid keines­wegs den negativen Ruf, der heute mit ihm verbunden ist… Dies änderte sich jedoch mit der zunehmenden Aus­breitung des Christen­tums.”) geht der Autor den Hinter­gründen dieser menschen­unwürdigen Politik nach, denn “dieses religiöse Verbot der Sterbe­hilfe ist in der gegen­wärtigen Debatte von ent­scheidender Bedeutung”. Nicht nur, dass 88 Prozent aller Kranken­haus­betten im Bereich der Träger der freien Wohlfahrts­pflege in konfessioneller Hand sind; auch die Mehr­heit der ambulanten Hospiz- und Palliativ­dienste sind christlich ausge­richtet. “96 Prozent der Menschen, die Sterbenden in psychologischen und spirituellen Fragen zur Seite stehen, sind katholische oder evangelische Seel­sorger. ‘Hospiz- und Palliativ­dienste’, so das Fazit einer Studie [die von der Deutschen Bischofs­konferenz 2009 initiiert wurde], ‘bilden eine konkurrenz­lose Domäne kirchlicher Seel­sorge.’” Eine Domäne, die die Kirchen gern für sich behalten möchten, wie die jüngsten Äußerungen des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Marx, zeigen.

Und deshalb ist es für die Betreiber dieser Kranken­häuser auch undenk­bar, den Menschen über­haupt auch nur anzu­bieten, selbst über ihr Lebens­ende zu bestimmen. Dabei ist schon lange bekannt, dass “viele Patienten … sofort ent­spannter [sind], wenn sie erfahren, dass sie über ihr Schicksal selbst ent­scheiden können. Selbst die Kontrolle zu haben, nicht ausge­liefert zu sein, ist für schwerst­leidende Menschen offen­bar von aller­größter Bedeutung.”

Dabei könnte man mit einem offenen Umgang mit der Thematik unter Garantie auch viele “harte” Suizde ver­meiden. Denn, “wer Suizid­versuche ver­hindern will, sollte das offene Gespräch mit Sterbe­willigen suchen, was voraus­setzt, dass die Legitimität eines Suizids nicht prinzipiell ausge­schlossen wird.” Wir reden dabei nicht von einer Rand­erscheinung der Gesell­schaft; auch wenn das Thema tabuisiert wird und von den Medien nicht aufge­griffen. “Betrachten wir einmal die gesellschaft­liche Dimension dieses Problems: Jahr für Jahr töten sich etwa 13.000 Deutsche selbst, statistisch sind dies rund 35 Personen am Tag. Die Zahl der miss­glückten Suizid­versuche, die nicht selten zu dauer­haften Schädi­gungen führen, liegt noch weit höher. Schätzungs­weise 200.000 Menschen versuchen sich in Deutschland jährlich das Leben zu nehmen, rund 550 Menschen am Tag, 22 Menschen pro Stunde. Alle drei Minuten kommt es in Deutschland zu einem Suizid­versuch.” (S. 182)

Diesen Menschen, die häufig verzweifelt sind (und nicht immer sterbens­krank) könnte mit offenen Gesprächen geholfen werden. Und Menschen, die die Verzweiflung oder jeder andere Grund zu einem Suizid­versuch treibt, greifen dann häufig genug zu Mitteln, die anderen Menschen psychisch schaden; man denke nur an Lok­führer, die statistisch mindestens drei mal die Erfahrung machen müssen, dass sich jemand vor ihren Zug wirft. Deshalb schreibt Arnold: “Und daraus leitet sich der schärfste Vorwurf ab, den ich den vermeintlichen ‘Verteidigern des Lebens’ machen muss: Gerade weil sie medizinische Frei­tod­begleitungen nicht zu­lassen wollen, treiben sie Menschen dazu, sich auf grausame und entwürdigende Weise das Leben zu nehmen.

Deutschland ist jedoch weit entfernt davon, den Willen des Suizid­willigen zu achten; denn um von einem “selbst­bestimmtem Sterben” sprechen zu können, müssten dem Patienten, sprich: Suizid-Wünschenden, alle für seine Ent­scheidung bedeutsamen Informationen zur Verfügung stehen. Und das meint nicht nur Informationen über den “palliativ­medizinisch abge­milderten, ”natürlichen Tod“, ”sondern auch über den Frei­tod. Zweitens: Er muss die Möglich­keit haben, seine Ent­scheidung, gleich ob sie auf lebens­verkürzende oder auf lebens­verlängernde Maß­nahmen hinaus­läuft, in die Tat umsetzen zu können." (S. 195)

Und genau das ist, was Arnold und Schmidt-Salomon in dem Buch fordern: “Wir benötigen also keine neuen Gesetze in Deutschland – wir brauchen statt­dessen eine neue Debatte über die Aus­richtung unseres Gesund­heits­systems.” (S. 219)

Es ist dem Buch zu wünschen, dass es von vielen gelesen wird. Nicht nur von denen, die sowieso schon jetzt das Recht auf ein selbst­bestimmtes Lebens­ende vertreten. Sondern vor allem sollten es jene lesen, die unent­schlossen sind, wie sie sich in der Debatte positionieren sollen. Und auch den Befür­wortern der Gröhe-Initiative sei es ans Herz gelegt: der menschlich-warme und sehr persönliche Ton des Buches könnte vielleicht eine Saite in den Lesern anregen, von deren Existenz sie nicht einmal wissen.

Das Buch dürfte bald auch von anderen Rezensenten als ist eines der wichtigsten Werke der letzten Jahre wahr­genommen werden. Ich gehe davon aus, dass die “Letzte Hilfe” in der Debatte um die Sterbe­hilfe den Stellen­wert des “Violett­buches” in der um die Kirchen­finanzen erreichen wird.

 


Hinweis: Die kursiv gesetzten Auszüge in den Zitaten sind auch im Buch auf diese Art hervorgehoben.

Das Buch ist auch bei unserem Partner Denkladen erhältlich.