Sterbefasten – eine ethische Bewertung

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Dieter Birnbacher
Dieter Birnbacher

BERLIN. (hpd) Im aktuellen Heft der Zeitschrift “Humanes Leben Humanes Sterben” wurde ein Artikel von Prof. Dr. Dr. Dieter Birnbacher veröffentlicht, der sich mit der ethischen Komponente des Sterbefastens befasst. Diesen Artikel veröffentlicht der hpd ebenfalls.

1. Einleitung: Sterbefasten – eine alte und neue Form selbstbestimmten Sterbens

Sterbefasten als eine von mehreren Möglichkeiten, bei schweren unheilbaren Leidenszuständen oder in Todesnähe Zeitpunkt und Umstände des Todes in die eigene Hand zu nehmen, hat eine lange, bis in die Antike zurückreichende Tradition. Antike Quellen berichten von dem Philosophen Demokrit, dass er im Alter von 109 Jahren Honig zu sich genommen habe, um der Bitte seiner Schwester nachzukommen, nicht an einem Feiertag, sondern erst danach zu sterben. Offensichtlich hatte er bereits seit längerem auf Essen und Trinken verzichtet.

In den letzten Jahren ist Sterbefasten international zum Gegenstand intensiver Diskussionen geworden. In Deutschland ist die Diskussion insbesondere durch das mittlerweile in dritter Auflage erscheinende Buch Ausweg am Lebensende des niederländischen Psychiaters Boudewijn Chabot und des deutschen Biochemikers Christian Walther sowie die Dokumentation eines Falls von Sterbefasten durch den gleichnamigen Film des Wuppertaler Medienprojekts vorangetrieben worden.

Sterbefasten kann durch drei Bedingungen definiert werden: 1. Ein Patient entscheidet sich, in einem Zustand, in dem er zu Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme fähig ist, weder das eine noch das andere zu sich zu nehmen. 2. Er beabsichtigt damit, den Eintritt des Todes zu beschleunigen. 3. Er trifft die Entscheidung dazu im Zustand der Einsichtsfähigkeit, ohne äußeren Druck und im Wissen um die Tragweite seiner Entscheidung. Sterbefasten ist nicht zu verwechseln mit der in der unmittelbaren Sterbephase vielfach beobachteten Verweigerung von Nahrungsaufnahme, zum Beispiel durch Verschließen des Mundes.

Sterbefasten als Weg eines selbstbestimmten Sterbens hat für alle Beteiligten Vor- und Nachteile. Aus der Sicht des Patienten besteht ein wesentlicher Vorzug darin, dass er den zum Tode hinführen Prozess stärker beeinflussen kann als bei einem aktiven Suizid. Er kann die Entscheidung bis mindestens sieben Tage nach Beginn des Fasten wieder zurücknehmen. In der Regel leidet der Patient nicht unter Hunger-, und unter der Voraussetzung einer sorgfältigen Mundpflege, die das Austrocknen verhindert, auch nicht unter Durstgefühlen.

Wie beim Heilfasten werden Opioide mit der Folge euphorischer Gefühlszustände aktiviert. Aus einer Studie aus dem US-Bundesstaat Oregon mit 100 Fällen von Sterbefasten geht hervor, dass die befragten Hospizschwestern den Tod der betreffenden Patienten auf einer Skala von 0 (sehr schlechter Tod) bis 9 (sehr guten Tod) zu 85 % auf der Stufe 8 anordneten. Als Vorteil für den Patienten kann auch gelten, dass er aufgrund der Notwendigkeit einer regelmäßigen Mundpflege mehr Zuwendung erhält als Patienten, bei denen eine Flüssigkeitszufuhr per Infusion erfolgt und der Patient möglicherweise nur beim fälligen Wechsel des Infusionsbehälters einen Pflegenden sieht. Ein weiterer Vorteil kann darin gesehen werden, dass dieses Verfahren auch Patienten offen steht, die ansonsten für einen Suizid mit ärztlicher oder anderweitige Unterstützung nicht in Frage kommen, etwa wegen entsprechender rechtlicher oder berufsrechtlicher Verbote, weil sich kein zur Beihilfe bereiter Helfer findet oder ein Patient die Kriterien einer Sterbehilfegesellschaft nicht erfüllt, etwa weil er nicht oder nicht lange genug Mitglied ist. Allerdings erfordert dieses Verfahren auf der anderen Seite viel Festigkeit des Willens, Geduld und langen Atem. Nach einer von Chabot erhobenen Statistik über insgesamt 97 niederländische Fälle waren innerhalb der ersten zwei Wochen nach Beginn des Fastens bei Vorliegen einer tödlichen Erkrankung erst 28 von 39 Patienten, bei Vorliegen einer schweren Erkrankung erst 20 von 31 Patienten und bei Vorliegen keiner tödlichen oder schweren Erkrankung erst 19 von 27 Patienten gestorben.

Für den den Patienten begleitenden Arzt stellt sich das Verfahren dadurch als vorteilhaft dar, dass es keine aktive Mitwirkung bei der Beendigung des Lebens des Patienten erfordert und den Arzt keinem Vorwurf aus Gründen der Verletzung berufsrechtlicher oder anderweitiger Normen aussetzt. Die Mitwirkung des Arztes beschränkt sich auf palliative Hilfen und die Behandlung eventueller Komplikationen.

Cover der HLHS 4/14
Cover der HLHS 4/14

Auch aus der Sicht der Angehörigen und anderweitig Nahestehenden hat das Sterbefasten gegenüber anderen Wegen zu einem selbstbestimmten Sterben deutliche Vorzüge: Sie werden von der Zumutung entlastet, Sterbehilfe zu leisten oder mit einem zu einer Suizidassistenz bereiten Arzt Kontakt aufzunehmen. Es erleichtert ihnen das Abschiednehmen, indem sich der Sterbeprozess sehr viel stärker dem traditionellen Bild eines “natürlichen Todes” annähert als andere Formen eines gestalteten Sterbens. Es vollzieht sich allmählich und ohne aktive äußere Intervention. In seiner Erscheinungsform ist es schwer von einem lediglich durch das Fortschreiten einer Erkrankung bedingten Sterbeprozess zu unterscheiden. Auf der anderen Seite haben die Nahstehenden möglicherweise Mühe, den langen Zustand des langsamen Sterbens zu ertragen, oder sie leiden unter dem Gefühl, den Patienten zu vernachlässigen, auch wenn dieser sich nachdrücklich zum Verzicht auf Essen und Trinken bekannt hat. Die Erfahrung zeigt jedenfalls, dass viele Angehörige Druck auf den Patienten ausüben, den eingeleiteten Prozess abzubrechen. Oder sie versuchen sogar, Zwang auszuüben, wie es gelegentlich von Einrichtungen in den USA zu hören ist, die ihre sterbewilligen Patienten vor die Wahl stellen, entweder den Vorgang abzubrechen oder umgehend auszuziehen.

2. Ist Sterbefasten eine Form von Suizid?

Die Frage, ob es sich beim Sterbefasten um eine Form von Suizid, einen „passiven“ Suizid oder ein Verfahren sui generis handelt, wirkt auf den ersten Blick reichlich akademisch, ist es aber aus mehreren Gründen keineswegs:

Erstens ist für viele Bioethiker mit theologischem Hintergrund der Suizid grundsätzlich moralisch problematisch. Wie die meisten Vertreter monotheistischer Religionen halten auch christliche Theologen überwiegend am traditionellen Suizidverbot fest, wenn auch zunehmend mit Ausnahmen. Wenn das Sterbefasten ein “passiver” Suizid ist, muss es ebenfalls unter das Verbot fallen. Auch bei der “passiven” Form überlässt der Patient sein Lebensende nicht vollständig der zum Tode führenden (schicksalhaften, gottgegebenen) Erkrankung, sondern bestimmt Zeit und Umstände seines Todes – zumindest teilweise – autonom. Zweitens besteht Unsicherheit darüber, wie ein Tod durch Sterbefasten auf dem Totenschein zu bescheinigen ist. Chabot fand, dass in den Niederlanden 93 von 97 Todesfällen durch Sterbefasten zwischen 1999 und 2003 als Fälle von “natürlichem Tod” klassifiziert worden waren, vier als Zweifelsfälle, bei denen eine polizeiliche Leichenschau erforderlich war, einer als “unnatürlicher Tod”, d. h. als ein Fall von Suizid.

Kann man einen Suizid überhaupt ohne aktive Beteiligung begehen? Zweifellos. Wie es neben der aktiven Tötung auch ein passives “Sterbenlassen” gibt, das unter bestimmten Bedingungen strafrechtlich als Tötung durch Unterlassen geahndet werden kann, kann es auch ein “Sich selbst sterben lassen” als passives Gegenstück zur aktiven Selbsttötung geben. Ob eine bestimmte angezielte Wirkung durch ein aktives Tun oder durch ein Unterlassen bewirkt wird, entscheidet sich daran, wie weit das bewirkende Verhalten Körperbewegungen beinhalten. “Passiv” ist es immer dann, wenn die beabsichtigten Folgen auch dann eintreten würden, wenn der Handelnde reglos bliebe.

Damit ist die Frage, ob das Sterbefasten als ein “passiver Suizid” gelten muss, aber noch nicht beantwortet. Einer Antwort kommt man näher, indem man überlegt, wodurch sich ein Tod durch Sterbefasten von einem Tod durch Abbruch oder Nichtaufnahme einer lebenserhaltenden Behandlung unterscheidet.

Was macht den Unterschied aus zwischen einem bewussten Verzicht auf Essen und Trinken bei einem Patienten, der andernfalls essen und trinken könnte, und dem Verzicht auf eine künstliche Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr bei einem Patienten, der nicht (mehr) aktiv Nahrung und Flüssigkeit aufnehmen kann? Mir scheint der Unterschied darin zu liegen, dass er im letzteren Fall auf eine Behandlung verzichtet, im ersteren jedoch nicht. Beim Wunsch nach Abbruch oder Nichtaufnahme einer lebenserhaltenden Behandlung könnte allenfalls in polemischer Absicht von “Suizid” oder “suizidalen Verhalten” gesprochen werden. Der Verzicht auf eine Behandlung, d. h. auf einen durch einen anderen getätigten Eingriff in die eigene körperliche Integrität, ist von deutlich anderer Struktur als die selbstbezogene Aufrechterhaltung oder Nicht-Aufrechterhaltung der eigenen Lebensfunktionen. Beim Behandlungsabbruch sind mindestens zwei im Spiel, beim Suizid nur einer. Weil diese Selbstbezüglichkeit auch beim Sterbefasten vorliegt, muss dies wohl ebenfalls als eine Form von Suizid aufgefasst werden. Sterbefasten muss als eine Form des autonomen Gestaltens des Sterbeprozesses “von eigener Hand” gelten – mit dem alleinigen Unterschied, dass die Gestaltung in diesem Fall die Form eines Unterlassens statt eines aktiven Tuns annimmt.

3. Ethische Konsequenzen

Eine Konsequenz daraus ist, dass, wer immer das christliche Suizidverbot vertritt, auch das Sterbefasten als verboten oder zumindest moralisch problematisch beurteilen muss. Ein Blick ins Internet zeigt, dass einige amerikanische Kommentatoren aus dem christlich-konservativen Lager diese Konsequenz auch gezogen haben. Aber abgesehen davon, dass die traditionellen Argumente für die moralische Unzulässigkeit des Suizids ausgesprochen schwach sind, ist in diesem Fall die moralische Ächtung des Suizids besonders wenig plausibel. Sie liefe auf die Legitimierung einer Zwangsbehandlung bei einem selbstbestimmungsfähigen Patienten hinaus, zumindest auf die Verpflichtung, einen Patienten mit entsprechenden Absichten von seinem Vorhaben nach Kräften abzubringen. Von dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten bliebe so gut wie nichts übrig.

Glücklicherweise geht die Diskussion in Deutschland in eine liberalere Richtung. Es wird überwiegend anerkannt, dass sofern der Entschluss des Patienten “freiverantwortlich” ist, also ohne Nötigung durch andere und im Wissen der Tragweite der Entscheidung erfolgt, der Arzt zur Begleitung eines Sterbefastens zumindest berechtigt ist. Einige gehen sogar noch weiter und postulieren eine ärztliche Verpflichtung zu palliativmedizinischem Beistand.

Vieles spricht darüber hinaus für eine ärztliche Verpflichtung, auf entsprechende Nachfrage des Patienten dieses Verfahren nicht unerwähnt zu lassen (im Gegensatz zu einer möglicherweise suggestiven Nennung ohne Patientenfrage), u. a. Gründe der Chancengleichheit und der Aufrechterhaltung des Vertrauensverhältnisses zwischen Patient und Arzt.