TRIER. (hpd) Politische Debatten und Entscheidungen offenbaren allzu oft ein falsches Verständnis von der Freiheit. Sie wird nicht selten dort vorenthalten, wo sie gefordert wäre und dort gewährt, wo man sie versagen sollte. Doch wo liegen ihre Grenzen?
Ein Grundproblem der Rechtsphilosophie und der Politik besteht in der Frage nach der Legitimität staatlichen Eingreifens in die Belange der Bürgerinnen und Bürger. Es ist zugleich die Frage nach der Freiheit des Individuums und nach der Macht, die die Gesellschaft durch Gesetze und sozialen Zwang rechtmäßig über es ausüben darf. Diese Prinzipienfrage stellt sich nicht erst bei den hitzig geführten Diskussionen um Sterbehilfe, Schwangerschaftsabbrüche, Präimplantationsdiagnostik (PID) oder Drogenkonsum, sondern schon bei trivial erscheinenden Themen wie der Helm- und Anschnallpflicht im Straßenverkehr.
Viele Theoretiker haben sich mit dieser Frage auseinandergesetzt und haben verschiedene Positionen dargelegt. Zu den beeindruckendsten Verteidigungsschriften der individuellen Freiheit vor gesellschaftlicher Autorität und Gruppenzwang gehört jedoch ohne Zweifel das bereits 1859 erschienene Werk “Über die Freiheit” von John Stuart Mill.
Der aufklärerische Philosoph und Ökonom war mit seinem darin erarbeiteten “Schadensprinzip” der Ansicht, dass “der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Daß der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: Die Schädigung anderer zu verhüten.”
Die Freiheit des einen endet also dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Der Mensch ist der einzige souveräne Herrscher über sich selbst. Handlungen, die nur die eigene Person betreffen, sind daher keine Angelegenheit des Staates. Nicht die Freiheit des Individuums ist rechtfertigungspflichtig, sondern das gesellschaftliche Eingreifen in seine Belange.
Ein berechtigter Einwand: Die meisten Menschen stehen nicht isoliert in der Gesellschaft und es gibt wenige Handlungen, die ohne Auswirkungen auf andere Personen geschehen. Die Schwierigkeiten, die bei dieser Abgrenzung von selbst- und fremdschädigendem Verhalten aufkommen, sind jedoch kein grundsätzlicher Einwand gegen das Prinzip selbst. Die Grenzen zwischen der illegitimen Einmischung in die Privatsphäre anderer und den legitimen Freiheitsinteressen des Individuums können und müssen jederzeit korrigiert werden.
Doch welche konkreten Konsequenzen folgen aus dem Schadensprinzip? Es sind zuallererst Konsequenzen, die die Selbstbestimmung und Emanzipationsmöglichkeit des Individuums vor Gewalt, Zwang und Nötigung schützen.
So ist beispielsweise die aktuelle - und vermehrt umstrittene - strafrechtliche Drogenprohibition mit den Prinzipien eines liberalen Rechtsstaates unvereinbar. Denn durch den selbstverantwortlichen und aufgeklärten Konsum von Cannabis werden andere Personen keinem unverhältnismäßigen Risiko ausgesetzt. Wieso also sollte der Staat hier paternalistisch aktiv werden? Vielmehr werden die Konsumenten durch die Prohibition diskriminiert und in kriminelle Karrieren getrieben. Menschen mit problematischen Drogenkonsum benötigen Hilfe und keine strafrechtliche Verfolgung. Die Kriminalisierung von Cannabis ist nachweislich gescheitert und sozialschädlich.
Es gibt jedoch Ausnahmen, die einen weichen Paternalismus rechtfertigen. Unmündige Kinder, denen es an Einwilligungsfähigkeit und Selbstbestimmung fehlt, dürfen von selbstschädigendem und gefährlichem Verhalten abgehalten werden. Ihnen gegenüber besteht eine besondere Fürsorgepflicht, die sich allerdings am Kindeswohl - und nicht an alten Traditionen - zu orientieren hat.
Das Schadensprinzip lässt sich auf viele weitere Bereiche anwenden. Wäre man bereit die Freiheit und damit auch die Interessen anderer ernst zu nehmen, würde man das Recht auf letzte Hilfe am Lebensende nicht aufkündigen. Man würde Menschen ihre sexuelle Selbstbestimmung zugestehen und Zwangsbeschneidungen bei Kindern als Unrecht einstufen. Man würde eine aufgeklärte sozialverträgliche Drogenpolitik umsetzen und mit anderen empfindsamen Lebewesen achtsam umgehen. Man würde Menschen politische und ökonomische Teilhabe gewährleisten und Verantwortung gegenüber künftigen Generationen übernehmen. Man würde mit der Freiheit auch Risiken eingehen und Kosten verursachen.
Doch diese sind es wert.
2 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
"Die Freiheit des einen endet also dort, wo die Freiheit des anderen beginnt."
Ein guter Grundsatz.
Wird von Vielen unterschrieben, aber bzgl. MGM oder Sterbehilfe von praktisch ebenso Vielen ignoriert; eine Schande.
Julian Estragon am Permanenter Link
Ein schöner Kommentar. Einschränkungen der Freiheit würde ich, abgesehen von dem genannten Kriterium, nur beim Eigentumsrecht machen, wenn es um Steuern und Sozialstaatlichkeit geht.